Der falsche Märtyrer

Anlässlich meines Kirchenaustritts schrieb mir Hans Küng: "Ich teile Ihre ganze Kritik am evangeliumswidrigen Verhalten der Kirche. Aber ich würde Ihren Schritt des Kirchenaustritts nie vollziehen".

Tatsächlich sieht ja Küng durchaus wie ich alle Missstände, Verbrechen, Fälschungen und dubiosen Machenschaften der Kirche. Aber er ist zu ängstlich und feige, die einzig konsequente Folgerung daraus zu ziehen und aus der Kirche auszutreten. Wie mir Johannes Neumann, sein damaliger Kollege an der Universität Tübingen, der später auch als Rektor derselben fungierte, mitteilte, hat Küng sogar etwa bis 1980 seine Manuskripte, bevor er sie als Buch herausgab, der Kongregation für die Glaubenslehre, der früheren Inquisitionsbehörde, dem Heiligen Offizium vorgelegt, um ja keine Prozesse der Amtskirche gegen sich zu riskieren. "Küng und ich", so Neumann in einem Brief an mich, "haben als nützliche Idioten der Amtskirche fungiert".

In der Tat: Selbst in seinem hier analysierten neuesten Interview mit dem "Spiegel" präsentiert sich Küng durchaus nicht als mutiger Rebell, als den ihn die Presse bejubelt. Sagt er doch in diesem Interview: "Ich war manchmal zu polemisch und wäre froh, wenn ich manches nicht gesagt hätte... Man hat ja nur verlangt, dass ich ruhig sein soll. Was ich persönlich glaube, war denen in Rom egal, die haben gesagt: Sie können glauben, was Sie wollen". Fast klingt es wie Reue über seine ohnehin sehr gemäßigte Kirchenkritik, wenn er äußert: "Manche sagen, wenn ich damals klein beigegeben hätte, wäre ich längst Kardinal".

Während "Der Spiegel" behauptet, dass "im Vatikan zurzeit jene Revolution stattfindet, für die Hans Küng ein Leben lang gekämpft hat", gibt Küng im selben Interview offen zu, dass er auf die Amtskirche und den Vatikan im Grunde überhaupt keinen Einfluss ausgeübt hat: "Bis auf den heutigen Tag werden meine Bücher von der Hierarchie und der Schultheologie ignoriert". Wenn sie ignoriert wurden und der Hierarchie nicht zur Kenntnis kamen, können sie auch keine Revolution im Vatikan ausgelöst haben.

Revolutionäre Kräfte?

Aber mit der Verwendung des Begriffs Revolution greift auch "Der Spiegel" zu hoch, ebenso wenn er den Papst "einen Revolutionär" nennt. Es ist lächerlich, wie Küng gleich nach der Vorgabe des Stichworts "Revolution" durch den "Spiegel" die "revolutionären Taten" des neuen Papstes preist: "Die Vereinfachung der Kleidung, die Veränderungen des Protokolls, die ganz andere Sprache, das sind nicht nur Äußerlichkeiten. Er hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Man sieht bei diesem Papst wieder viel mehr den Dienstcharakter des Petrusamtes. Er fordert, dass man rausgeht aus der Kirche, dass man auf die Menschen zugeht.(...) Seine erste Reise führte ihn zu den Flüchtlingen nach Lampedusa.(...) Auch die Forderung nach einer armen Kirche führt zu einem anderen Denken."

Aber eine arme Kirche hat der Papst ja nicht realisiert und wird es auch nicht tun, indem er z.B. die enormen, aber doch toten Musealschätze des Vatikans verkauft und den Gelderlös an die Armen verteilt. Und es ist auch nicht bekannt, dass er den Bootsflüchtlingen in Lampedusa mehr als verbalen Trost gespendet hätte. Aber Küng frohlockt: "Ein katholischer Frühling ist schon da", freilich bestehe die "Gefahr von Rückschlägen und einer Gegenbewegung wie beim Arabischen Frühling".

Man sieht hier wieder einmal, wie schnell die von den Medien hochgelobten, aber in Wirklichkeit unechten Kritiker der Kirche umkippen. Zwei Bücher hat Küng dem neuen Papst geschickt und schon schmilzt er ob der Reaktion des Papstes dahin: "Ich habe schon zwei handgeschriebene und sehr freundliche Briefe von ihm erhalten. Auf dem Umschlag stand als Absender einfach 'F. Domus Sanctae Marthae, Vaticano', unterzeichnet 'mit brüderlichem Gruß'. Das ist schon ein neuer Stil."

Papst Franziskus hat einen neuen Freund gewonnen: Hans Küng. Schon sieht sich dieser in einer Front mit dem Papst gegen die deutsche Bischofskonferenz, denn die wolle ihn ja bis zum heutigen Tag partout nicht rehabilitieren. Aber mit dem Papst als neuem Freund kann er diesen Affront der Bischofskonferenz besser verschmerzen: "Papst Franziskus sollte nicht andere wichtige Aufgaben gefährden, indem er mich aufwertet und zu viel Nähe zu mir zeigt."

Ganz ähnlich ist jetzt der führende südamerikanische Befreiungstheologe Leonardo Boff wortwörtlich umgefallen. Ihn, den Ratzinger so oft gedemütigt und zu peinlichen Unterwerfungserklärungen gezwungen hat, hat Papst Franziskus umarmt und mit ihm ein paar freundliche Worte gewechselt. Seitdem ist er der Troubadour des neuen Papstes und singt er in zahlreichen kirchlichen Zeitschriften und Zeitungen das Loblied auf ihn als den "neuen Revolutionär" im Vatikan.

Weder Boff noch Küng als Symbole des vermeintlichen Fortschritts in der Kirche sind im Stande zu erkennen, geschweige denn öffentlich anzuerkennen, dass der neue Papst kein einziges der abstrusen und absurden Dogmen abändern oder gar aufheben wird oder dass er den Urquell des Hochmuts des Alleinseligmachenden, die päpstliche Unfehlbarkeit je widerrufen würde.

Wie zur Bestätigung dessen weist "Der Spiegel" im Interview mit Küng darauf hin, dass der neue Papst einen der schärfsten Hardliner im Vatikan, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, als Chef der Glaubenskongregation im Amt bestätigt hat, ihn also "weiter Glaubensaufseher und Großinquisitor spielen lässt". Das schwache Gegenargument Küngs: "Ich könnte mir vorstellen, dass Benedikt sich für den Verbleib Müllers stark gemacht hat".

Ein weiteres Argument, dass Papst Franziskus an der amtskirchlichen Dogmatik nicht rütteln wird: "Er hat die Heiligsprechung von Johannes Paul II. angekündigt, einem restaurativen Papst, der Gruppen wie Opus Dei und die Legionäre Christi stark gemacht hat". Auch dieses Argument kann Küngs Begeisterung für den neuen Papst nicht bremsen, er schiebt die Schuld an dieser Kanonisation auf das Weiterwirken des vorigen Papstes: "Die Heiligsprechung Wojtylas wurde von Benedikt forciert, unter Missachtung aller vorgeschriebenen Fristen. Dies nun einfach abzubrechen wäre nicht nur ein Affront gegen Benedikt, sondern auch gegen viele Polen. Ich kann verstehen, dass Franziskus das nicht will".

Wenn aber Franziskus den Polen einen neuen Heiligen servieren will, stellt er damit die Wahrheit über den keineswegs heiligen Lebenswandel Wojtylas hintan. Leider muss man dann aber ziemlich generell annehmen, dass der Papst vor lauter Rücksichtnahmen auf die vielen einflussreichen Cliquen im Vatikan das Gebot der Priorität der Wahrheit des öfteren mit Füßen treten wird.

Es geht ja auch letztlich nicht so sehr um die Legitimität der Heiligsprechung eines Johannes Pauls II. oder eines Johannes XXIII., sondern um eine wirklich revolutionäre Tat, die man Papst Franziskus allerdings nicht zutrauen kann, nämlich die Aufhebung überhaupt aller Heiligsprechungen, die in den meisten Fällen eine Farce, Legende, Lüge oder Betrug sind. Auch Küng gibt an dieser Stelle wenigstens zu, dass sie "eine Erfindung des Mittelalters" seien und dass man sich fragen könne, ob diese Heiligsprechungen "heute überhaupt noch Sinn machen".

Aber vielleicht spricht ja eine künftige Kirche auch noch Hans Küng heilig, wenn noch mehr Intellektuelle, die nur Küngs wegen in der Kirche bleiben, nach seinem Tod aus ihr austreten. Damit hat die Kirche ja nie Gewissensprobleme gehabt: Theologen, die sie ein oder mehrere Jahrhunderte vorher indiziert, exkommuniziert oder suspendiert hatte, hat sie später zu Kirchenvätern ernannt oder zur Ehre der Altäre erhoben.

Zelebriertes Ende

Tatsächlich hat Küng mit dem Wojtyla-Papst jetzt schon eines gemeinsam: Er zelebriert sein eher oder später bevorstehendes Ende fast genauso öffentlichkeitswirksam, wie dieser Papst sein Sterben vor aller Augen demonstrierte. Man erinnere sich an das lange Sterben des Wojtyla-Papstes: Jede Geste, jeder Atemzug, jedes Stöhnen, jedes Flüstern, jedes Klagen wurde der Menge via TV nahegebracht. Alle sollten mitleiden, weil doch der Tod eines Großen viel mehr als der Tod eines gewöhnlichen Sterblichen bedeute (siehe dazu: H. Mynarek, Der polnische Papst, Freiburg 2005). Und jetzt sind wir seit etwa zwei bis drei Monaten Zeugen von ständig in die Medien gelangenden Nachrichten über Küngs Gesundheitszustand.

Er spricht auch im hier analysierten Interview von seinem "oft gequälten Gehirn", lässt den "Spiegel" referieren, dass Küng "ein alter, kranker Mann" sei, der "unter einem Hörsturz, (...) Arthrose und einer Makuladegeneration" leide, die dazu führe, dass er bald nicht mehr werde lesen können. Küng bestätigt: Ja, "das wäre das Schlimmste, nicht mehr lesen zu können". Aber natürlich wehre er sich "noch jeden Tag intensiv" gegen die bei ihm festgestellte Parkinson-Erkrankung. Allerdings nehme er all dies "als mahnende Vorboten des Todes", denn auch "meine Schrift wird klein und oft unlesbar, sie scheint fast zu verschwinden. Meine Finger versagen".

Wir dürfen aber auch erfahren, was Küng so alles gegen seinen Zustand tut: "Ich schwimme täglich eine Viertelstunde hier im Haus, mache physiotherapeutische Übungen auf dem Boden, dazu Stimmübungen, Fingerübungen. (...) Außerdem nehme ich täglich zehn verschiedene Tabletten". Dank dieser zehn Tabletten, "dank der Fortschritte der Hygiene und der Medizin" erreiche er eine "künstliche Verlängerung seiner Lebenszeit". Denn "das kann man von mir nicht erwarten, dass ich so einen Zustand in Kauf nehme" wie den des ebenfalls an Parkinson leidenden Muhammed Ali ("für mich eine schreckliche Vorstellung") oder den seines Freundes Walter Jens, der durch seine auch ihn, Küng, deprimierende Demenz "in eine Art Kindheit zurückgefallen ist", bevor er starb.