Man kann, ja man muss fast sagen, dass der Wojtyla-Papst und der Theologenpapst Küng wahre "Exhibitionisten des Leidens und Sterbens" sind. Aber natürlich kann Küng dabei nicht stehen bleiben. Er muss sich ja auch vor seiner an ihn glaubenden Öffentlichkeitsgemeinde heroisieren. Deswegen betont er tapfer: "Ich hänge nicht an diesem Leben" (was sogar die Hauptüberschrift des Interviews ist), "ich lebe auf Abruf und bin bereit, jederzeit Abschied zu nehmen". Hier widerspricht sogar "Der Spiegel" unter Hinweis auf Küngs Autobiographie, in der Küng klagt: "Es wird mir weh ums Herz, wenn ich bedenke, dass ich das alles aufgeben soll".
Da Küng in seinen drei dickleibigen Erinnerungsbänden ununterbrochen um sich selbst und seine Verdienste kreist ("Vielleicht habe ich deshalb auch immer wieder erwähnt, wer mich in Wissenschaft, Politik und Medien anerkennend zitiert"), wird es selbst dem "Spiegel" zu viel: "Ihnen wurde ein Leben lang Eitelkeit vorgeworfen. In Ihrer Biographie gibt es dazu sogar ein ganzes Kapitel (...). Sie schreiben, dass andere Theologen auf Sie neidisch waren, weil Sie öfter zu Fernsehsendungen eingeladen wurden, weil Sie auf einen sportlichen Körper und angemessene Kleidung Wert legen, einen Schlips tragen". Schwaches Dementi Küngs: "Meine Fähigkeiten habe ich selten überschätzt.(...) Und ich habe auch eine Abneigung gegen illusionistisch überschätzte Eigenschaften. Ich kenne meine Grenzen".
Es liegt wahrscheinlich auch nicht allein an Küng, dass ihm selbst der kleinste von ihm ausgehende Anlass zum Event gerät und sofort von den Medien aufgegriffen wird. Küng hatte beispielsweise nicht einmal gesagt, dass er tatsächlich Sterbehilfe in Anspruch nehmen werde. Aber sofort verkündeten Medien, dass er es tun werde und dass dies ein revolutionärer Affront gegen die Amtskirche sei. Allsogleich auch verlieh ihm die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (dghs) in Bonn einen Verdienstorden für seine Zivilcourage. Wohlgemerkt eine säkuläre Organisation, die von einem Atheisten, Hans-Henning Atrott, gegründet wurde.
Da nützte es nichts mehr, dass der eher ängstliche Küng sofort zurückruderte: "Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass man meine Einstellung zum Sterben als Protest gegen die kirchliche Autorität sieht. (...) Es wäre doch lächerlich, seinen Tod zu inszenieren als Protest gegen die kirchliche Autorität". Er habe auch "noch keinen Fahrplan" in Bezug auf die letzte Station seines Lebens. Allerdings: "Meine persönliche Sterbeliturgie habe ich in meinem letzten Memoirenband genau niedergelegt". "Der Spiegel": Aber "ein Pfarrer darf Ihnen nicht die letzte Ölung geben?" Küngs Antwort ist ein Jein, das zu der Zwiespältigkeit seines Charakters und seiner Theologie passt: "Ich werde einen Freund, der Priester und einer meiner Schüler ist, dabeihaben".
Welches "wilde Leben"?
Der vermeintlich so progressive Theologe Küng war ohnehin in sakramentalen und liturgischen Dingen ein echter Konservativer. Immer wieder, zuletzt noch in seinem Buch "Ist die Kirche noch zu retten?", betont er, dass er ja schließlich von der Amtskirche nicht suspendiert worden sei, somit täglich seine hl. Messe zelebrieren könne, was er auch treu und brav tue. Dass er aber seinen Status als Priester aufgegeben hätte, wo doch der jüdische Jesus nicht im entferntesten im Sinn hatte, ein Christentum, Papsttum oder Priestertum zu stiften – davon war Küng meilenweit entfernt. Diesbezüglich blieb er ein ganz traditionalistisch-konservativer Kleriker. Man stelle sich vor: Der täglich seine Messe zelebrierende Priester Küng spricht die Wandlungsworte: "Das ist mein Leib", "Das ist mein Blut". Wie kann der sich so aufgeklärt gebende Küng in diesem Moment glauben, eine Hostie in den Leib Christi, ein paar Tropfen Wein in das Blut Christi zu verwandeln? Ein abergläubischer Irrsinn! Aber Küng vollzieht ihn, indem er die Messe zelebriert!
Schon in seinem eben genannten Buch hat sich Küng zum Spitzenreformer, Arzt und Psychotherapeuten der Kirche hochstilisiert. Gegen Ende seines hier analysierten Interviews aber bringt er noch das Kunststück fertig, sich als keuschen Aloysius darzustellen. "Leben Sie selbst zölibatär?" fragt ihn "Der Spiegel". Küng antwortet: "Ich bin nicht verheiratet, habe weder Frau noch Kinder". Der erste Teil dieser Antwort ("Ich bin nicht verheiratet") ist die Standardantwort vieler Priester, die mit Frauen zusammenleben. Und sie ist nicht einmal ganz falsch, weil der Begriff Zölibat zunächst einmal nur Ehelosigkeit meint. Da kann die Amtskirche in Hunderten von offiziellen Erklärungen bestimmen, dass das von ihr den Priestern auferlegte Zölibatsgesetz nicht bloß Ehelosigkeit, sondern auch Enthaltungen von jeglichem Sexualverkehr mit Frauen bedeutet, die meisten Priester halten sich nur an den ersten Teil der Bestimmung und verschweigen ihre Verhältnisse.
Was wäre das doch für ein revolutionärer Akt gewesen, wenn sich Küng öffentlich dazu bekannt hätte, dass er Frauen, Freundinnen, Lebensgefährtinnen hatte und dass er auch sein Outing als Protest gegen das widernatürliche Zölibatsgesetz der Kirche verstanden wissen wolle. Stattdessen hat er ganze Traktate gegen das Zölibatsgesetz der Kirche geschrieben, hat das Menschenrecht des Priesters auch auf seinen Leib und die Frau mit diversen Argumenten begründet, aber öffentlich stets so getan, als ob ihn das persönlich alles nicht betreffe. Und auch im jetzigen Interview spricht er nur von "meiner idealen Lebensbegleiterin... im Sinn einer vorbildlichen Wegkameradschaft: Wir haben getrenntes Eigentum, getrennte Stockwerke, getrennte Wohnungen. (...) Mehr habe ich darüber nicht zu sagen".
Zwar gibt er in einem anderen Zusammenhang seines Interviews zu, ein derart "wildes Leben" geführt zu haben, dass er gedacht habe, er würde nicht mal sein 50. Lebensjahr erreichen. Wer aber bei diesem "wilden Leben" auch an Sex denkt, liegt zwar beim Durchschnittsmann goldrichtig, missversteht aber den doch weit über dem Durchschnitt stehenden Hans Küng gehörig, denn der meint sicherlich ein "ganz anderes" wildes Leben.
Dabei müsste er sich gar nicht so zieren, denn auch ein Karl Lehmann oder ein Walter Kasper und eine Reihe anderer Theologen wurden zu Kardinälen ernannt, obwohl sie ihre Frauen hatten. Aber offenbar muss einer, der sich als Spitzenvertreter aller Reformbewegungen in der Kirche wähnt, auch noch den Mythos aufrechterhalten, frei von der sexuellen Begierde zu sein.
Auch diesbezüglich erweist sich Küng als braver Nachvollzieher der Zölibatsideologie seiner Kirche. Denn auch die Zölibatsenzyklika des von ihm, wie er betont, hochgeschätzten Pauls VI. stellt ja noch den zölibatären Priester als über den Menschen mit ihren Begierden stehend dar. Er sei gerade wegen seiner Beherrschung des Fleisches mehr als alle anderen Menschen sozusagen in der Mitte zwischen Gott und Mensch: zwar weniger als Gott, aber mehr als der Mensch.
Als Verdienst Küngs wertet "Der Spiegel" auch noch, dass er 1995 die Stiftung Weltethos ins Leben gerufen habe, und zwar, "um den Dialog zwischen den Religionen zu fördern". Aber eine echte Versöhnung der Weltreligionen konnte dabei gar nicht herauskommen, denn für Küng bleibt Jesus Christus unbezweifelbar der einzige und einzigartige Maßstab echter Menschlichkeit, selbst für säkular-humanistische Atheisten.
Und auch da werden wir zwei Dinge nicht erleben: Trotz allem Optimismus Küngs in Bezug auf den neuen Papst wird dieser weder das heuchlerische Zölibatsgesetz für Priester aufheben noch urbi et orbi feierlich ex cathedra erklären, dass alle Religionen gleichermaßen Wahres und Falsches enthalten und keine Weltreligion über eine andere zu stellen ist. Um eine echte Versöhnung, einen Weltfrieden der Religionen zu erreichen, müsste zuallererst das biblische Gottesbild von seinen haarsträubenden Grausamkeiten befreit werden. Allein über hundertmal befiehlt der biblische Jahwe-Gott sogar den Völkermord!
Aber was schreibt der alles glättende, alles vernebelnde, alles verschleiernde "Reformtheologe" Küng im Interview: "Der Gott der Bibel ist ein Gott der Barmherzigkeit und nicht ein grausamer Despot". Bei derart frecher Leugnung biblischer Tatbestände verbietet sich jeder weitere Kommentar.
Prof. Dr. Hubertus Mynarek
Zur umfassenden weiterführenden Kritik an Küngs Gesamtwerk vgl. H. Mynarek, Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann?, Marburg 2012, Tectum-Verlag.