HAMBURG. (hpd) Es ist vollbracht! Die Weihenacht mit ihrem allgegenwärtigen Gebimmel und Gesäusel liegt hinter uns. Der Bratenduft und Glühweindunst über den Weihnachtsmärkten hat sich gelegt. Doch mancher erinnert sich noch und weiß nicht recht, wie ihm geschah.
Jan S. aus Hamburg zum Beispiel. Auf einem der weit mehr als 30 Weihnachtsmärkte hatte ihm jemand, der es gut mit sich meinte, einen rosa Zettel in die Hand gedruckt (siehe Bild). Mit einem sinnenden Engelchen darauf und dem herzigen Sprüchlein: "Siehe ich sende dir einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege, und bringe dich an den Ort, den ich bereitet habe." War wohl der Weihnachtsmarkt gemeint?
Wie niedlich, wie gemütlich das Textlein! Hat da der Herrgott persönlich was vom Himmel gesandt? Immerhin war’s unterzeichnet mit einer Bibelstelle aus dem Alten Testament: Exodus 23,20.
Sollte man doch mal nachschlagen, dachte sich Jan S., und wurde in der Lutherbibel von 1984 schnell fündig. Doch was er da las, müsste eigentlich selbst christliche Seelen zum Schaudern bringen. Je länger Jans Augen über die holprigen Zeilen glitten, verwandelte sich die süßliche Lyrik in eine schreckliche Saga aus Bedrohung, Vertreibung und Vernichtung. Man überzeuge sich selbst:
20 Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe.
21 Hüte dich vor ihm und gehorche seiner Stimme und sei nicht widerspenstig gegen ihn; denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, weil mein Name in ihm ist.
22 Wirst du aber auf seine Stimme hören und alles tun, was ich dir sage, so will ich deiner Feinde Feind und deiner Widersacher Widersacher sein.
23 Ja, mein Engel wird vor dir hergehen und dich bringen zu den Amoritern, Hetitern, Perisitern, Kanaanitern, Hiwitern und Jebusitern, und ich will sie vertilgen.
24 Du sollst ihre Götter nicht anbeten noch ihnen dienen noch tun, wie sie tun, sondern du sollst ihre Steinmale umreißen und zerbrechen.
25 Aber dem HERRN, eurem Gott, sollt ihr dienen, so wird er dein Brot und dein Wasser segnen, und ich will alle Krankheit von dir wenden.
26 Es soll keine Frau in deinem Lande eine Fehlgeburt haben oder unfruchtbar sein, und ich will dich lassen alt werden.
27 Ich will meinen Schrecken vor dir her senden und alle Völker verzagt machen, wohin du kommst, und will geben, dass alle deine Feinde vor dir fliehen.
28 Ich will Angst und Schrecken vor dir her senden, die vor dir her vertreiben die Hiwiter, Kanaaniter und Hetiter.
29 Aber ich will sie nicht in einem Jahr ausstoßen vor dir, auf dass nicht das Land wüst werde und sich die wilden Tiere wider dich mehren.
30 Einzeln nacheinander will ich sie vor dir her ausstoßen, bis du zahlreich bist und das Land besitzt.
31 Und ich will deine Grenze festsetzen von dem Schilfmeer bis an das Philistermeer und von der Wüste bis an den Euphratstrom. Denn ich will dir in deine Hand geben die Bewohner des Landes, dass du sie ausstoßen sollst vor dir her.
32 Du sollst mit ihnen und mit ihren Göttern keinen Bund schließen.
33 Lass sie nicht wohnen in deinem Lande, dass sie dich nicht verführen zur Sünde wider mich; denn wenn du ihren Göttern dienst, wird dir das zum Fallstrick werden.
Bei so viel Horror in der Hinterhand, dachte Jan S., müsste doch selbst dem hartgesottensten Gläubigen der Weihnachtskeks und Abendmahlswein im Hals stecken bleiben. Doch der Trick mit dem Herausklauben milder Worte aus dem Textzusammenhang funktioniert so ziemlich bei jeder Sonntagsandacht. Das Dunkle und Dräuende archaischer Legenden wird für die Sonntagspredigt einfach übergangen.
Wer macht sich da nach Singsang, Gebet und Glockenklang schon mal die Mühe wie Jan S. aus Hamburg, den ganzen Text in der Bibel aufzusuchen?
Zudem wurde über die Jahrhunderte mit immer neuen Übersetzungen und Überarbeitungen der heiligen Schriften allzu Gruseliges umgedichtet, umgedeutet und weichgespült. Wer’s nicht glaubt, führe sich folgendes Beispiel zu Gemüte. Im Original der Lutherbibel von 1545 lautet etwa die Stelle im 2. Buch Samuel, Kapitel 12, Vers 31 noch düster:
Aber das Volck drinnen füret er eraus / vnd legt sie vnter eisern segen vnd zacken / vnd eisern keile / vnd verbrand sie in Zigelöfen / So thet er allen Stedten der kinder Ammon. Da keret Dauid vnd alles Volck wider gen Jerusalem.
Für die Einheitsübersetzung der Bibel von 1980 hat man den Text wohlweislich abgesoftet:
Auch ihre Einwohner führte er fort und stellte sie an die Steinsägen, an die eisernen Spitzhacken und an die eisernen Äxte und ließ sie in den Ziegeleien arbeiten. So machte er es mit allen Städten der Ammoniter. Dann kehrte David mit dem ganzen Heer nach Jerusalem zurück.
Doch erlaubt: Hand anlegen an Gottes Wort? Solche lyrischen "Überarbeitunge"“ – Maloche in der Ziegelei statt Verbrennen im Ziegelofen – sollen die Zweifler bei der Stange halten. Nur, für Weihnachten reicht auch das meist nicht. Da wird lieber – wenigstens auszugsweise – aus dem Neuen Testament zitiert. Doch selbst da ist der Gläubige vor Schrecken und Verdammnis nicht gefeit. Denn auch da (wieder Einheitsübersetzung 1980) wird Gegnern und Ungläubigen immer wieder mit Höllenfeuer und Ab in den Ofen! gedroht, so in Matthäus, Kapitel 13, Vers 42:
Der Menschensohn wird seine Engel aussenden und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.
Oder in Vers 50:
So wird es auch am Ende der Welt sein: Die Engel werden kommen und die Bösen von den Gerechten trennen und in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.
Fazit: Man höre genau hin, wenn die Glocken süß klingen, lese lieber nach, was die Englein so lieblich singen. Denn Vorsicht scheint geboten, egal, ob beim Messwein oder beim Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt.