Warum ist Europa wichtig? (4)

Die Diskurse der meisten religiösen "Autoritäten" und ihrer Bündnispartner sind für uns das große zu überwindende Hindernis. Denn wenn wir das Denken und Handeln der überwiegenden Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger betrachten, die sich zum Beispiel zur katholischen Identität bekennen, stellen wir eine große Diskrepanz zu den offiziellen institutionellen kirchlichen Diskursen fest. Die Ende 2013 vom Vatikan angestoßene Befragung der Gläubigen über ihr Wissen zur offiziellen Doktrin, ihre Einstellung dazu und ihre tatsächliche Praxis auf dem Gebiet von Familienleben, Sexualität und menschlicher Reproduktion liefert dafür den besten Beweis.

 

Inwieweit ist das Wanken der katholischen Doktrin auf der europäischen Ebene angekommen?

Viel zu wenig! Politische Instanzen wie die der EU, die sich durch demokratisch gewählte Repräsentation legitimieren, scheinen keinerlei Bedenken zu haben, diese vom kirchlichen (Fuß-)Volk ihrer zumindest repräsentativen Legitimität entblößten "Autoritäten" nach wie vor ohne jegliche Hinterfragung als legitime, für die politische Verhandlung autorisierte Gesprächspartner zu betrachten und zu behandeln. Das macht doch zumindest sehr nachdenklich. In unseren Augen müsste daher der Artikel 17 aus dem Vertrag von Lissabon, der für diese Verbindungen auch noch eine Grundlage geschaffen hat, ersatzlos gestrichen werden.

Aber der sich ausweitende Kampf für Trennung von Staat und Kirche hat dazu geführt, dass die frauenfeindliche politische Agenda der religiösen Institutionen inzwischen als Wolf im Schafspelz daher kommt und sich als Menschenrechtsdiskurs oder als wissenschaftlicher Diskurs verkleidet. Es verteidigen inzwischen selten kirchliche "Würdenträger" oder "Oberhäupter" diese frauenfeindliche Agenda, sondern immer mehr nicht zum Klerus gehörende Juristen, Ärzte, Bioethiker usw., die es tunlichst vermeiden, über Religion oder Moral zu sprechen.

 

Warum ist es konkret zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Selbstbestimmung wichtig, am 25. Mai zur Europawahl zu gehen?

Weil es wichtig ist, jene Abgeordnete ins Parlament zu wählen, von denen zu erwarten ist, dass sie diese Agenda unterstützen. Europa gilt in den Augen vieler Menschen in der Welt immer noch als ein Beispiel für die Verwirklichung der Menschenrechte und für Fortschritt in der Gendergerechtigkeit. In einer Zeit, in der Fundamentalismen aller Art immer stärker werden, ist es wichtig, dass das so bleibt.

 

Wie schätzen Sie die europäischen Entwicklungen ein, wo stehen wir gerade bezüglich der Selbstbestimmung?

Europa befindet sich wie der gesamte Westen in einer großen Krise, von der die Finanzkrise vielleicht nur der spektakulärste Aspekt ist. Die Art und Weise, wie unsere politischen Institutionen mit dieser Krise umgehen (ich denke auch an die NSA-Affäre) schwächt ihre Legitimität auf gravierende Weise.

Viele, besonders Jugendliche, können sich mit diesen Institutionen nicht (mehr) identifizieren. Es ist ein Prozess, der an die Erosion der Legitimität der religiösen Autoritäten und institutionellen Formen innerhalb der katholischen (und auch der anderen) Kirchen erinnert. Es entsteht ein Klima, das dem Erstarken politischer Ideologien und Organisationen Vorschub leistet, die für das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gefährlich sind.

 

Außer vom Wahlrecht Gebrauch zu machen: Was können Einzelne tun, um sich für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt und Diskriminierung einzusetzen?

In der "Repräsentativen Demokratie" bestimmt momentan eine politische Klasse über die Verteilung der allen gehörenden (weil ja öffentlichen) Ressourcen und steckt den Rahmen ab, in dem sich immer mehr eine Umverteilung von unten nach oben vollzieht. Die Ohnmacht gegenüber den Entscheidungen und Handlungsweisen dieser Klasse bringt viele Einzelne dazu, sich auf eine "überschaubare" Ebene, z.B. das Privatleben oder die Nachbarschaft, oder das Lokale zu konzentrieren.

So entstehen allerlei Initiativen, die es den Einzelnen ermöglichen, ihr Leben so weit wie möglich selbstbestimmt und in sinnvollen Beziehungen mit anderen zu gestalten – was ja eigentlich Politik im ursprünglichsten Sinn des Wortes bedeutet. Ähnlich wie in der katholischen Kirche, wo sich "Basisgemeinden" bildeten, in denen Menschen sinnvolle Beziehungsgeflechte aufbauten. Hier konnten sie ihr religiöses und soziales Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen, ohne darauf zu warten, ob sie von den "Autoritäten" dazu ermächtigt wurden.

Ich meine Initiativen wie Tauschbörsen, Regionalwährungen, Transition-Town-Bewegungen, "share economy", "couch surfing", "crowd funding", "urban gardening" - also do-it-yourself-Initiativen auf allen möglichen Gebieten. Es handelt sich noch um marginale Trends, die aber dem Bedürfnis vieler Menschen entsprechen, sich nicht mehr von einem totalitären neoliberalen Markt als hirnlose Verbraucher reduzieren zu lassen, sondern Konsumverweigerung zu üben.

Sie möchten nicht wählen zwischen einem großen blauen Geländewagen oder einem grünen kleinen Stadtflitzer, sondern sich lieber nur noch so weit fortbewegen, wie es ihnen ihre Füße oder das Fahrrad erlauben. Das betrifft oft auch die Sphäre der institutionellen Politik.

Das Interview führte Corinna Gekeler

 

Bislang in der Interview-Serie zur Europawahl erschienen:

Sophie in ´t Veld: Europa-Abgeordnete der niederländischen linksliberalen D66 und Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik (EPPSP)

Dr. Margret Steffen: Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung und Expertin für gewerkschaftliche Europapolitik

Werner Hager: Sprecher der Säkularen Grünen NRW, der sich insbesondere mit Europapolitik befasst