(Kein) Ethik-Unterricht in Baden-Württemberg

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Haupteingang des BVG Leipzig, Foto: "Polarlys" (CC-BY-SA-3.0)

LEIPZIG. (hpd) Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) aus der vergangenen Woche hat in 3. Instanz bestätigt, dass es keinen Rechtsanspruch auf die Erteilung von Ethikunterricht bereits in der Grundschule gibt.

 

Der Landesgesetzgeber besitze bei der Einführung von Lehrfächern Gestaltungsfreiheit, deren Grenzen bei einer Festlegung auf Durchführung von Ethik-Unterricht erst ab der 7. Schulklasse nicht überschritten seien. Da das Fach Ethik nicht wie das Fach Religion durch das Grundgesetz vorgeschrieben sei, liege auch kein Gleichheitsverstoß vor.

Ethikunterricht unter Finanzierungsvorbehalt

Mit deutlichen Worten hat die Landesvorsitzende der GEW in Baden-Württemberg, Doro Moritz, das Urteil kritisiert und es als eine “Entscheidung zugunsten der Kirchen” bezeichnet. Es müsse eine Werteorientierung für alle SchülerInnen geschaffen werden, die über das hinausgehe, was die großen Kirchen anböten. Zudem gehörten bereits jetzt etwa 30 Prozent aller SchülerInnen nicht den beiden großen christlichen Konfessionen an. (Im Schuljahr 2011/2012 haben landesweit immerhin etwa 68.000 SchülerInnen am Ethikunterricht ab der 7. Klasse teilgenommen.

Doro Moritz hat darauf hingewiesen, dass im grün-roten Koalitionsvertrag die “schrittweise” Einführung des Ethikunterrichts ab der ersten Schulklasse vorgesehen sei, dass aber die Realisierung dieses Vorhabens – nach den Behauptungen der Landesregierung - an den knappen Landesfinanzen scheitere. Die Durchführung des Religionsunterrichts scheitert hingegen nicht an Finanzierungsproblemen. Für die Unterrichtung in den Glaubensinhalten der jeweiligen Religionsgemeinschaft sprudeln die Finanzquellen kräftig weiter. Nach Angaben des baden-württembergischen Kultusministeriums soll zwar ein Ausbau des Ethikunterrichts erfolgen, doch haben derzeit andere Schulprojekte Vorrang.

Dies kann man nur als Skandal bezeichnen: Mittel für die Vermittlung von Bekenntnisinhalten von Religionsgemeinschaften sind vorhanden; Mittel für einen Ethikunterricht, der für das gesellschaftliche Miteinander von ungleich größerer Bedeutung ist, jedoch nicht.

BVerwG-Urteil bald von Realität überholt ?

Dem Vernehmen nach wird die Auseinandersetzung um den Ethikunterricht ab der ersten Schulklasse vor dem Bundesverfassungsgericht fortgesetzt. So haben sich die Klägerin und ihr Anwalt geäußert. Die Angelegenheit ist nicht zu Ende, zumal die Entwicklung in Deutschland, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, weitergeht und, wie die jüngste EKD-Studie gezeigt hat, immer mehr Menschen, die aus der Kirche austreten, überhaupt keinen Bezug mehr zur Religion haben.

Kirsten Dietrich ist zuzustimmen, wenn sie in einem aktuellen Kommentar im Deutschlandradio darauf hinweist, dass – auch wenn das Urteil aus rechtlichen Gründen nicht anders möglich gewesen sein sollte – die Entscheidung aus Leipzig schon bald von der Realität überholt werden wird: “Noch sind nur wenige Konfessionslose auch organisiert, die Klage lässt sich leicht überhören. Aber niemand sollte vergessen: Das war nicht nur eine streitsüchtige Mutter, deren Klage … abgewiesen wurde. Sie steht für ein komplexes gesellschaftliches Problem, das dringend angegangen werden muss. Allerdings vom Parlament und nicht von den Gerichten.” Dem kann uneingeschränkt zugestimmt werden, auch wenn dies auf das Bohren dicker Bretter hinausläuft. Eine Dominanz kirchenfreundlicher PolitikerInnen im Deutschen Bundestag ist nicht zu leugnen. Umso wichtiger ist es, dass in der Gesellschaft und innerhalb der Parteien der Fokus auf eine Neuorientierung der bundesdeutschen Religionspolitik gerichtet wird.

Bislang liegt noch kein schriftliches Urteil des BverwG, sondern nur eine knappe Pressemitteilung vor. Es bleibt deshalb noch abzuwarten, welche Begründungen im Einzelnen für die Entscheidung genannt werden.

Nicht auszuschließen ist, dass das BverwG ähnlich argumentieren wird wie die Vorinstanz, der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH). In seinem Urteil vom 23.01.2014 hat der VGH deutlich gemacht, dass sowohl Religionsgemeinschaften als auch Weltanschauungsgemeinschaften (wie etwa dem HVD) aus Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes das Recht zustehe, “bekenntnisgebundenen Weltanschauungsunterricht an staatlichen Schulen zu erteilen.” (Siehe hier)

Die Einrichtung eines humanistischen Weltanschauungsunterrichts hat die Klägerin, Mutter dreier konfessionsfreier Kinder, mit ihrer Klage nicht begehrt, worauf der VGH deutlich hingewiesen hat. Es müsste für einen humanistischen Lebenskundeunterricht in der Schule, wie es ihn etwa in Berlin gibt, allerdings auch eine Weltanschauungsgemeinschaft (HVD) vorhanden sein, die ihn tatsächlich anbietet. Das ist in Baden-Württemberg gegenwärtig nicht der Fall, und herbeiklagen kann man einen solchen Unterricht auch nicht. Außerdem gibt es hier von politischer Seite noch mancherlei Blockaden, wie sich deutlich in den letzten Jahren in Nordrhein-Westfalen gezeigt hat.

Religionsunterricht – an Kirchen delegierter Ethikunterricht?

Auf eine weitere (bedeutsame) Äußerung des VGH sei an dieser Stelle hingewiesen: Die Klägerin hatte (zutreffend) argumentiert, die Schulen hätten einen umfassenden Bildungs- und Erziehungsauftrag, der eine ethisch-moralische Bildung der Kinder einschließe und notwendiger Weise einen sozialen Werte- und Normenunterricht erfordere. Die Aufgabe der ethisch-moralischen Bildung sei jedoch mit dem Religionsunterricht vom Staat auf die Kirchen delegiert worden. In einer Gesellschaft, in der die konfessionellen Bindungen immer weiter abnähmen, könne dieser Bildungsauftrag nicht allein den Kirchen überlassen werden. Die baden-württembergische Landesregierung hatte dagegen eingewandt, wegen der aus der Landesverfassung folgenden christlich orientierten Grundwertung habe der Staat ein spezifisches Interesse an der Vermittlung christlicher Werte und nicht eines wie auch immer gestalteten sozialen Werte- und Normensystems.

Der VGH hat hierzu ausgeführt, dass “… der Staat den Religionsgemeinschaften nicht die Aufgabe übertragen hat, für ihn für eine ethisch-moralische Bildung zu sorgen.”

Gegenstand des Religionsunterrichts sei – so der VGH - “… vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft”, der in “konfessioneller Positivität und Gebundenheit” zu erteilen sei.

Ist aber der Religionsunterricht kein Ort zur Vermittlung allgemeiner sozialer und ethischer Werte – wie von interessierter Seite gerne behauptet wird - so ist allerdings die Frage aufzuwerfen, an welcher Stelle eine solche Wertvermittlung erfolgen soll. Abgesehen von Erziehungszielen, die in Landesverfassungen verankert sind, und die auf eine christliche orientierte Erziehung aller SchülerInnen, somit auch der konfessionsungebundenen, atheistischen, alevitischen, buddhistischen, hinduistischen, humanistischen, muslimischen, paganen SchülerInnen usw., orientieren, und die als faktisch obsolet Gewordene möglichst umgehend beseitigt werden sollten, ist der bereits aus dem Grundgesetz folgende Auftrag zur Erziehung der heranwachsenden Generationen nicht nur zum Lesen und Schreiben sowie in fachspezifischer Hinsicht, sondern auch zur Bejahung der in im Grundgesetz kodifizierten Menschenrechte, von gesellschaftlich besonderer Bedeutung.

Maßgeblich beruht die Zukunftsfähgkeit einer Gesellschaft, schreibt der Sozialethiker Hartmut Kreß, u.a. auf Verbesserungen der Bildungs- und Gesundheitsstandards sowie auf wissenschaftlichen Entwicklungen. Seitens des Staates sind deshalb Schutzpflichten für Bildung, das Gesundheitswesen und die Forschung auszuüben. “Insofern lebt er (der Staat) von kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzung, die er …. selbst zu garantieren hat und für die er als Staat Verantwortung trägt”, so Kreß. (Hartmut Kreß, Ethik der Rechtsordnung, Staat, Grundrechte und Religionen im Lichte der Rechtsethik , Kohlhammer 2012, S. 30)

Die Inititative der Klägerin zeigt auf, dass der (demokratisch-pluralistisch verfasste) säkulare Staat ethische Verantwortung trägt und ethische Orientierungen in die Gesellschaft zu vermitteln hat. Diese Anforderung ergibt sich bereits aus dem Grundgesetz selbst. Wer lediglich darauf verweist, dass der Staat von kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen lebe, die er nicht selbst geschaffen habe, übersieht oder verschweigt in apologetischer Absicht, dass es wiederum auch Sache des Staates ist, Wertevermittlung zu betreiben.

Auch aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 folgen, wenngleich auch nicht in unmittelbar rechtsbegründender Weise, Anforderungen an die Ausrichtung der Bildung von Kindern, wenn es in Art. 20 Abs. 2 heißt: “Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.” Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Erklärung mit ihrem UN-Beitritt anerkannt. Eine politische Umsetzung dieser anerkannten Erklärung für den Schulunterricht wird stärker als bisher zu fordern sein.

Wer andererseits Ethikunterricht nur in einer funktionalen Beziehung als Ersatz für Religionsunterricht versteht, verkennt, dass Religionsunterricht eben keine ethische Unterrichtung von SchülerInnen bedeutet, sondern nur konfessionelle Glaubenslehre. Nur in einem von spezifischen (damit divergierenden und somit letztlich beliebigen) Glaubenslehren gelösten allgemeinen, für alle SchülerInnen verpflichtenden Ethikunterricht werden allgemeinverbindliche Regeln erörtert werden können, die in einer pluralistischen Gesellschaft für Alle von Bedeutung sind und anerkannt werden können.

Aufgabe des Staats: Wertevermittlung an nachwachsende Generationen

Es ist eine zentrale Aufgabe des Staates, der die Grundrechte zu wahren und zu schützen hat, diese Grundwerte über den Schulunterricht an die junge Generation zu vermitteln. Ein subjektiv-rechtlicher Anspruch der SchülerInnen hierauf besteht aufgrund des aus Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes hergeleiteten Grundrechts auf Bildung (das das Grundrecht auf ungehinderte Entfaltung der Persönlichkeit konkretisiert).

Allerdings wird es erforderlich sein, einen solchen Unterricht nicht lediglich für diejenigen SchülerInnen anzubieten, die nicht an einem Religionsunterricht teilnehmen. Denn dort wird, wie der VGH Baden-Württemberg ausgeführt hat, gerade keine moralisch-ethische Bildung vermittelt, sondern es werden lediglich die Glaubengrundsätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft dargeboten. Das reicht aber für eine ethische Erziehung mit der Förderung einer menschenrechtlichen Orientierung nicht aus, zumal religiös begründete Werte in einer zunehmend religiös- und weltanschaulich inhomogener werdenden Bevölkerung immer bedeutungsloser werden. Auch SchülerInnen, die am Religionsunterricht teilnehmen, dürfen von einer allgemeinen moralisch-ethischen Erziehung nicht ausgeschlossen werden. Darauf haben sie einen grundgesetzlichen Anspruch. Für das Funktionieren einer auf menschenrechtlicher Grundlage verfassten Gesellschaft ist es erforderlich, dass allen Gesellschaftsmitgliedern bereits im Kindes- und Jugendlichenalter Zugang zu den maßgeblichen moralisch-ethischen Werten eröffnet wird.

Durch die Initiative der Klägerin ist die wichtige Thematik Ethikunterricht / Religionsunterricht in die breite Öffentlichkeit gelangt, weit über die nach wie vor eingeschränkte humanistische und säkulare Öffentlichkeit hinaus. Das ist das große Verdienst dieses Vorgehens. Notwendig ist die weitere gesellschaftliche Debatte über einen für alle SchülerInnen von der Grundschule an verbindlichen Ethikunterricht (bezüglich dessen Ausgestaltung im Einzelnen noch vieles zu klären sein wird) und die weitere Behandlung eines Religonsunterrichts, der trotz mancher apologetischer Beteuerungen eben keine ethische Orientierung zum wesentlichen Inhalt hat, sondern nur die jeweilige religiöse Unterweisung in all ihrer Beliebigkeit.

Die Zeit des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht sollte unbedingt auch für die notwendige gesellschaftliche Debatte genutzt werden.

Walter Otte