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Und plötzlich muss man "Sie" sagen

Kennt ihr das: räum dein Zimmer auf / stell das Fahrrad nicht immer quer in den Flur, du bist doch nicht allein / zieh diese schrecklichen Klamotten aus, sieh dich doch mal im Spiegel an / hör endlich auf rumzuräumen und mach’ was Ordentliches / Läuft das Video-Spiel immer noch? / Geht es auch mal ohne Handy? / nimm dir ein Beispiel an … !!
Na klar kennt ihr das!
Ist jetzt nach der Jugendweihe damit Schluss? Könnt ihr nun endlich tun und lassen, was ihr wollt? Selbstverständlich ! — Selbstverständlich nicht!

Eingangs meiner Rede habe ich darauf hingewiesen, dass wir mit dem heutigen Ehrentage für unsere Jugendweihlinge gemeinsam den Abschied von der Kindheit feiern.

Für Jugendliche ist der Wunsch, möglichst früh erwachsen zu werden, heute genau so brennend wie schon seit Generationen, auch als Erich Kästner, seine Texte schrieb. Als Jugendlicher musste er den fürchterlichen 1. Weltkrieg, dessen Beginn sich zum 100. Male jährt, als Soldat miterleben. Seine Gedichte hierüber sind eine einzige Anklage und Warnung vor menschenverachtendem Krieg, der nur den Mächtigen der Finanzwelt, der Wirtschaft und Politik dient , aber Millionen den Tod bringt. Erich Kästner, dessen Bücher öffentlich von den Nazis verbrannt wurden, warnte sehr früh vor dem braunen Spuk: “Nie darf man so tief sinken, von dem Kakao, durch den man Euch zieht auch noch zu trinken.”

Er mahnte auch nach der schrecklichen und sinnlosen Zerstörung seiner Vaterstadt am Ende des Zweiten Weltkrieges, man müsse darauf achten, dass mit dem Wiederaufbau der Städte und der Demokratie die Freiheit ganz errungen werde.

Dabei müssen die Generationen zusammenarbeiten und ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten nutzen: “Liebe Kinder”, rät er, “wenn ihr etwas nicht verstanden haben solltet, fragt Eure Eltern! - Und, liebe Eltern”, fährt er fort, “wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!”

Seine folgenden Gedanken möchte ich Euch heute als bedenkenswerte Ratschläge mit auf den Weg geben. Als “vier archimedische Punkte” bezeichnete Kästner die folgenden Eckpfeiler menschlicher Orientierung, die unter Punkt drei die eingangs erwähnte Kindheit in Erinnerung ruft:

  1. Jeder Mensch höre auf sein Gewissen! Das ist möglich. Denn er besitzt eines. Diese Uhr kann man weder aus Versehen verlieren, noch mutwillig zertrampeln. Diese Uhr mag leiser oder lauter ticken - sie geht stets richtig. Nur wir gehen manchmal verkehrt.

  2. Jeder Mensch suche sich Vorbilder! Das ist möglich, denn es existieren welche. Und es ist unwichtig, ob es sich dabei um einen großen toten Dichter, um Mahatma Gandhi oder um Onkel Fritz aus Braunschweig handelt, wenn es nur ein Mensch ist, der im gegebenen Augenblick ohne Wimpernzucken das gesagt und getan hätte, wovor wir zögern. Das Vorbild ist der Kompaß, der sich nicht irrt und uns Weg und Ziel weist.

  3. Jeder Mensch gedenke immer seiner Kindheit! Das ist möglich. Denn er hat ein Gedächtnis. Die Kindheit ist das stille, reine Licht, das aus der eigenen Vergangenheit tröstlich in die Gegenwart und Zukunft hinüber leuchtet. Sich der Kindheit wahrhaft erinnern, das heiß: plötzlich und ohne langes Überlegen wieder wissen, was echt und falsch, was gut und böse ist. Die meisten vergessen ihre Kindheit wie einen Schirm und lassen sie irgendwo in der Vergangenheit stehen. Und doch können nicht vierzig, nicht fünfzig spätere Jahre des Lernens und Erfahrens den seelischen Feingehalt des ersten Jahrzehnts aufwiegen. Die Kindheit ist unser Leuchtturm.

  4. Jeder Mensch erwerbe sich Humor! Das ist nicht unmöglich. Denn immer und überall ist es einigen gelungen. Der Humor rückt den Augenblick an die richtige Stelle. Er lehrt uns die wahre Größenordnung und die gültige Perspektive. Er macht die Erde zu einem kleinen Stern, die Weltgeschichte zu einem Atemzug und uns selber bescheiden. Das ist viel. Bevor man das Erb- und Erzübel, die Eitelkeit, nicht totgelacht hat, kann man nicht beginnen, das zu werden, was man ist: ein Mensch."

Ihr habt viele Menschen kennengelernt, von ihnen gelernt und verschiedene Erfahrungen gemacht. Eure Eltern haben euch das Laufen beigebracht, eure ersten Schritte waren wohl behütet; von ihnen, den Großeltern und Verwandten und Freunden habt ihr gelernt zu sprechen, mit den Mitmenschen zu kommunizieren, sie haben euch erste Werte vermittelt.

Später dann kam die Schule dazu, die euch Orientierungshilfen anbot und nun die Gesprächsrunden der Jugendweihe, die für euch organisiert wurden.

Ihr werdet bald Verantwortung übernehmen lernen, in Familie und Gesellschaft und dabei wird es darauf ankommen, dass eure Wertmaßstäbe stimmen. Bei der Fortgestaltung unseres Staates und unserer Demokratie müssen alle Humanisten gemeinsam zusammenarbeiten und Euch, ihr jüngeren wird es zufallen, die gute Tradition der Jugendweihe fortzuführen.

Wir wünschen euch, dass ihr so wie rund 40.000 Jugendliche in ganz Deutschland - nein, jetzt muss ich ja “Sie” zu Ihnen sagen - , dass Sie unbeschwert den zweiten Teil Ihrer Jugendweihefeier gemeinsam im Kreise mit den Eltern, Verwandten und Freunden begehen werden.
Dabei wünschen wir Ihnen alles Gute und eine schönen Tag, der mit glücklichen Erinnerungen im Gedächtnis bleiben möge!