Erinnerung an das "Kölner Urteil"

KÖLN. (hpd) Am 7. Mai 2014 jährte sich das “Kölner Urteil”, das 2012 Jungen erstmalig explizit das Recht auf genitale Selbstbestimmung zugesprochen hatte, indem es die Beschneidung eines muslimischen Jungen als nicht zulässige Körperverletzung eingestuft hatte, zum zweiten Mal.

Als “Worldwide Day Of Genital Autonomy” ist dieses Ereignis inzwischen weltweit zu einem Symbol für die Selbstbestimmungsrechte des Kindes unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Tradition geworden.

Anlässlich des Jahrestages fand in Köln eine Demonstration mit zwei Kundgebungen statt, deren formulierte Kernforderung im Schutz aller Kinder weltweit vor jeglicher Verletzung ihrer körperlichen und sexuellen Integrität bestand.

Zu dieser Veranstaltung hatten weltweit insgesamt 26 Organisationen aufgerufen – neben Vereinen aus mehreren europäischen Ländern waren auch Organisationen aus den USA, Kanada und Australien auf der Liste der UnterstützerInnen zu finden (die vollständige Liste ist hier nachzulesen).

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International begann bereits die erste Kundgebung vor dem Kölner Landgericht. Victor Schiering – Koordinator des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. begrüßte zunächst die VertreterInnen der verschiedenen Organisationen und hob die Bedeutung des Jahrestages des “Kölner Urteils” hervor als einen wichtigen historischen Einschnitt: Zum ersten Mal sei auch Jungen und Männern zugesprochen worden, durch Eingriffe an ihren Genitalien verletzt zu werden. Das Urteil habe den Schmerz, die lebenslangen Folgen und die Trauer der Betroffenen anerkannt und ihnen auch das Recht eingeräumt, sich durch Schweigen vor möglichen sozialen Konsequenzen zu schützen. Das offene Bekenntnis, negativ von einer Vorhautamputation betroffen zu sein, würde oft als Ablehnung eines patriarchalischen Männlichkeitsbildes verstanden, welches auf Härte und Verleugnung von Verletzlichkeit basiere.

Es folgte ein Grußwort von David Smith – Gründungsmitglied und Vorstand von NORM-UK (Großbritannien), der das “Kölner Urteil” als historische Entscheidung bezeichnete, die in katalysierender Weise Europa wachrüttelte. Stellvertretend für die Entwicklungen der letzten beiden Jahre auf europäischer Ebene, nannte er zwei wichtige Ereignisse aus dem Herbst 2013: Die norwegische Kinderbeauftragte Anne Lindboe forderte die Regierung auf, ein Verbot der männlichen Beschneidung durchzusetzen - was von fast allen Kinderrechtsbeauftragten der nordischen Staaten übernommen wurde. Als zweites erinnerte er an den von Marlene Rupprecht (SPD) in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eingebrachten Antrag, aus dem die Resolution ‘Children’s rights of physical integrity’ hervorging, die die europäischen Staaten dazu aufrief, stärker und nachhaltiger gegen die Verletzung der Rechte von Kindern vorzugehen und in der die Jungenbschneidung namentlich Eingang gefunden hatte. Smith äußerte die Vermutung, dass Dänemark, dicht gefolgt von Finnland, die männliche Beschneidung bald verbieten werde.

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Als nächster sprach Mohamed Louizi aus der Sicht eines muslimischen Betroffenen. Der Franzose marokkanischer Herkunft war extra für diesen Tag nach Köln gereist. Louizi war im Alter von vier Jahren selbst aus religiösen Motiven beschnitten worden. Der 7. Mai 2012 sei für ihn das “erste Kapitel eines demokratischen Versprechens”. Die Behauptung, Beschneidung sei im Islam ein unumstößliches religiöses Gebot, stellte er nachdrücklich infrage. Die Worte des Propheten Mohammed selbst seien durch nachträgliche mündliche Überlieferungen (Hadithe, Sunna) “beschnitten und verwässert” worden. Das Grundprinzip von Gewalttaten zur Unterwerfung und lebenslanger Bindung an die Gruppe widerspreche der eigentlichen Intention des Islam, nämlich in Frieden mit sich selbst und den Menschen zu leben.

Die dritte Rede vor dem Landgericht kam von Viola Schäfer, die als Vorsitzende von intaktiv e.V. - eine Stimme für genitale Selbstbestimmung die Ziele dieses noch jungen Vereins vorstellte, nämlich geschlechterunabhängiges Recht auf genitale Unversehrtheit bzw. Selbstbestimmung, sowie die Abschaffung des § 1631d bzw. die Erlaubnis zur Beschneidung erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres. Besonderen Wert lege der Verein auf die Verbesserung der Aufklärung über „Beschneidungen“: Dass es sich bei einer Phimose zunächst eigentlich um einen angeborenen Zustand handle und die Vorhaut sich auf natürliche Weise spätestens beim Eintritt in die Pubertät in den allermeisten Fälle von selbst löse und dass sie keineswegs ein verzichtbarer und überflüssiger Körperteil sei, werde leider weder in der Schule noch sonst wo gelehrt.

Nach dieser Rede begann der Marsch zum Roncalli-Platz vor dem Kölner Dom. Die DemonstrantInnen, unter denen sich gleichermaßen Mitglieder der unterstützenden Organisationen, Zugehörige verschiedener Nationalitäten und Religionsgemeinschaften fanden, trugen aussagekräftige Motto-Schilder wie z.B. “Cut the bullshit – not the foreskin” oder “Frauen und Männer gemeinsam für unteilbare Kinderrechte”.

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Vor dem Kölner Dom fand gegen 12.30 Uhr der zweite Teil der Kundgebungen statt.

Als erster sprach Dr. Kupferschmid vom BVKJ. Er stellte fest, dass sich beim Thema Beschneidung alle Kinder- und Jugendärztlichen Organisationen in Deutschland und auch die wissenschaftliche Organisation der deutschen Kinderchirurgen dahingehend einig seien, dass das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit Vorrang vor allen anderen Rechtsgütern haben müsse, selbst vor dem Elternrecht auf Erziehung. Ärzte müssten zudem darüber aufklären, dass eine Vorhautentfernung für Jungen fast nie einen Vorteil habe, jedoch fast immer Nachteile und Risiken.

Aufgrund mangelnden Wissens über Funktion und Entwicklung der Vorhaut von kleinen Jungen unter der deutschen Ärzteschaft werde oft grundlos beschnitten. Die große Mehrheit der angeblich medizinisch notwendigen Beschneidungen, die vorgenommen werden, sei nicht notwendig. Vielmehr sei die Beschneidung ein Wirtschaftsfaktor im deutschen Gesundheitswesen. Zuletzt kritisierte er den oft global gegen jede kritische Stimme bezüglich der Jungenbeschneidung geäußerten Vorwurf des Antisemitismus. Abgesehen davon, dass die Zahl der jüdisch motivierten Beschneidungen in Deutschland (bei insgesamt 40.000 Beschneidungen jährlich nur etwa 100 jüdische Kinder) zahlenmäßig nicht ins Gewicht falle, stelle die Verwendung des Antisemitismus-Begriffs gegenüber denjenigen, die für das Recht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit eintreten, eine Abwertung seiner selbst dar.

Mina Ahadi, die für den Zentralrat der Ex-Muslime sprach, sagte, es ging heute nicht mehr nur um eine Botschaft an die deutsche Regierung, das Beschneidungsgesetz abzuschaffen, sondern, darum solche Gesetze international zu verhindern. Besonders Familien aus sogenannten Islamischen Ländern seien zum Umdenken aufgefordert. Laut Ahadi fürchteten die Vertreter islamischer Religionsgemeinschaften um ihren Machtverlust und setzten die Europäische Regierungen derzeit unter Druck. Die heutige Demonstration richte sich nicht nur an die europäischen Staaten sondern habe vor allem auch eine Signalwirkung in Richtung der islamischen Länder wie Iran, Irak, Sudan, Afghanistan usw., in denen die Beschneidung aus religiösen Motiven häufig vorgenommen werden. Ahadi forderte ein weltweites Beschneidungsverbot für alle Jungen und Mädchen unter 18 Jahren.

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Christa Müller, Gründerin und Vorsitzende des Vereins (I)NTACT – Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen e.V. stellte fest, dass in denjenigen afrikanischen Ländern, in denen Mädchen beschnitten werden, auch die Jungenbeschneidung praktiziert und anlässlich dieser Riten große Feste für Kinder beider Geschlechter gefeiert werden. Ebenso wie die Mädchen oft nach diesem Eingriff sterben, sterben auch die Jungen: an Blutvergiftung, Verbluten oder Wundstarrkrampf. Das Kölner Urteil habe in Deutschland endlich darauf aufmerksam gemacht, dass auch hier unnötige operative Eingriffe mit negativen Folgen an Kindern vorgenommen werden. Den §1631d allerdings bezeichnete Müller als Einfallstor für weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland. Eltern, die bei ihrer Tochter eine “kleine Sunna” (Entfernung der Klitoris-Vorhaut und der Klitoris-Spitze) vornehmen lassen wollten, könnten sich vor einem deutschen Gericht mit Berufung auf das Beschneidungsgesetz und den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter das Recht auf diesen Eingriff an ihrer Tochter vermutlich einklagen. Denn trotz des § 226a StGB könne bei Jungen nicht erlaubt sein, was bei Mädchen verboten ist. Auch jüdischen und muslimischen Jungen müsse das Recht auf Unversehrtheit zugesprochen werden. Gerade hier in Deutschland sollte man aus der Vergangenheit gelernt haben.

Der Historiker Jérôme Segal, der bereits 2012 in österreichischen und französischen Medien zum Thema Beschneidung Stellung nahm, nannte das “Kölner Urteil” einen Meilenstein und ein “Symbol der Vernunft”. Es sei einfach, aber wichtig zu verstehen, dass Erwachsene an den Genitalien von Kindern nichts zu suchen haben. Dem Argument dass die Tora den Ritus vorschriebe, setzte er entgegen, dass das Judentum bereits einige Stellen in der Tora abgelehnt hat – so beispielsweise die Steinigung bei Ehebruch. Vor allem in Israel und den USA habe auch unter vielen praktizierenden Juden bereits ein Umdenken stattgefunden – durch das Ritual einer Brit Shalom anstelle der Brit Mila, bei der man Neugeborene in der Gemeinde ohne Verstümmelung willkommen heißt. Man könne, so Segal, durchaus Jude sein, ohne Beschneidung; für ihn habe seine jüdische Identität etwas mit Werten zu tun. Er schloss seine Rede mit den Worten von Immanuel Kant - “Sapere Aude” die er auf den Moment übertrug mit der Aufforderung: “Habe Mut, dich gegen die Zwangsbeschneidung zu engagieren!”

Renate Bernhard von pro familia NRW, die sich seit vielen Jahren mit der weiblichen Genitalverstümmelung befasst, erklärte, dass dieselben Argumente, die zur Befürwortung der Jungenbeschneidung vorgebracht werden, wie es anfangs bei Mädchenbeschneidung der Fall war: Man solle sich in Riten fremder Völker nicht weiter einmischen. Auch die weibliche Genitalverstümmelung wurde anfangs verharmlosend als Beschneidung bezeichnet, die man als religiösen Ritus zu respektieren habe. Pro familia NRW habe hinsichtlich der Jungenbeschneidung dann auch einen solchen Prozess durchlaufen, und zunächst eine Fachtagung mit Expertenanhörung ausgerichtet. Doch das Beschneidungsgesetz trat bereits vor Beendigung dieses Prozesses, nämlich bereits 7 Monate nach dem “Kölner Urteil” in Kraft. Pro familia NRW hält das Gesetz heute für verfehlt, da eine Vorhautamputation ein schwerwiegender Eingriff mit irreversiblen Auswirkungen sei. Zudem widerspreche er der UN-Kinderrechtskonvention, die das Recht des Kindes auf Unversehrtheit schützt. Die Entscheidung über eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung solle daher allein von der Person getroffen werden, an der sie vorgenommen wird.

Zuletzt sprach Christian Bahls, 1. Vorsitzender von MOGiS e.V. - eine Stimme für Betroffene. Bahls, der sich seit vier Jahren mit dem Thema Beschneidung beschäftigt, wies darauf hin, dass die zu beobachtenden Folgen einer Beschneidung, in ihrer Art sowie in ihrer Schwere, den Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit ähneln. Ebenso wie sexueller Kindesmissbrauch stelle Beschneidung einen Eingriff in die Sexualität dar und bewirke dadurch u.a. Probleme bei der Entwicklung einer eigenen Sexualität, der Partnerschaft und der Bindungsfähigkeit bis ins Erwachsenenalter. Bereits vor dem Kölner Urteil gab es Netzwerke von negativ Betroffenen und KinderrechtlerInnen, die dann im Mai 2012 aktiviert wurden. Bahls beschrieb das “Kölner Urteil” als eine Initialzündung, mit der endlich auch in Deutschland einmal eine positive Entwicklung ihren Ausgang nehme - nämlich die Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung von Jungen bei der Beschneidung als eine Menschenrechtsverletzung zu erkennen.

Abschließend bedankte er sich bei allen, die am heutigen Tag weltweit für genitale Selbstbestimmung eintraten und rief dazu auf, sich auch in Zukunft jedes Jahr wiederholt dafür einzusetzen.

 

Am 7. Mai fanden auch in Vancouver und London Demonstrationen statt. Dieses Video gibt einen kleinen Einblick.