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Der Tod einer Boxerin

(hpd) Jeden Freitag veröffentlicht der hpd einen Artikel zu einem Film oder einer Serie, die mit einem “humanistischen Auge” gesehen werden. Ob aktive Sterbehilfe jeweils legitim sein und welche Gefahren auch passive Sterbehilfe bergen kann, diskutiert Edgar Dahl am Beispiel von “Million Dollar Baby”.

Maggie Fitzgerald ist, wie man in den USA zu sagen pflegt, “White Trash”. Aufgewachsen in einem schäbigen Wohnwagen in Missouri, wird sie von ihrer von der Stütze lebenden Mutter bereits mit 13 Jahren von der Schule genommen und zum Tellerwaschen in einen schmierigen Imbiss geschickt.

Doch Maggie, gespielt von Hilary Swank, hat einen Traum. Da sie ein Kämpferherz hat, will sie professionelle Boxerin werden. Also schlägt sie sich kellnernd nach Los Angeles durch und beginnt dort in einem billigen Box-Stall zu trainieren.

Dieser Box-Stall wird von Frankie Dunn und Eddie Dupris geleitet. Frankie, dargestellt von Clint Eastwood, und Eddie, dargestellt von Morgan Freeman, sind seit Jahrzehnten beste Freunde. Eddie war, bis er in einem Kampf ein Auge verlor, ein vortrefflicher Boxer, und Frankie war bis zu diesem Unglückstag ein erfolgreicher Trainer.

Frankie lehnt es zunächst ab, Maggies Trainer zu werden. Er trainiere “keine Mädchen”. Auf ihren Einwand, sie sei zäh, antwortet er: “Tough is not enough!” – “Zäh ist nicht genug!”

Eddie, der Maggies Talent erkennt, gibt ihr hinter Frankies Rücken Ratschläge. Angesichts ihres Eifers, ihrer Wissbegierde, ihrer Lernbereitschaft und ihrer geradezu eisernen Disziplin kommt jedoch auch Frankie bald nicht mehr umhin, anzuerkennen, dass Maggie zumindest eine Chance verdient.

Nachdem er sich ihrer annimmt, entwickelt sich zwischen Frankie und Maggie bald ein Verhältnis wie zwischen Vater und Tochter. Diese väterliche Beziehung wird noch dadurch unterstützt, dass Frankie offenbar jeden Kontakt zu seiner eigenen Familie verloren hat. Wir erfahren nie, was vorgefallen ist. Alles, was wir zu sehen bekommen, ist, dass die Briefe an seine leibliche Tochter stets mit dem Vermerk “Return to Sender” ungeöffnet zurück kommen.

Hilary Swank als Maggie

Maggie erweist sich tatsächlich als ein Naturtalent. Nachdem sie ein gutes Dutzend Kämpfe in Amerika gewonnen hat, reist Frankie mit ihr durch Europa. Um ihr in England und Irland Sympathien zu eröffnen, gibt er ihr den gälischen Beinamen “Mo Chuisle”. Maggie fragt ihn, was dieser Name bedeute, doch Frankie antwortet nur, sie werde es schon noch erfahren.

Schließlich eröffnet sich Maggie die Chance auf einen Titelkampf. In Las Vegas tritt sie für ein Preisgeld von einer Million Dollar gegen die amtierende Weltmeisterin Billie “The Blue Baer” an, einer Ostberliner Ex-Prostituierten, die berüchtigt dafür ist, mit unsauberen Mitteln zu boxen.

Und tatsächlich kommt es, wie es kommen muss. Da sich Maggie als technisch überlegen erweist, greift Billie zu schmutzigen Tricks. So schlägt sie beispielsweise mehrmals mit ihrem Ellbogen zu. In der Angst, ihren Titel zu verlieren, greift sie schließlich zum Äußersten. Kurz nachdem die Glocke die dritte Runde beendet hat, versetzt sie Maggie einen “Sucker Punch”, einen heimtückischen Schlag von hinten, so dass sie geradewegs mit ihrem Hals auf den Stuhl in ihrer Ringecke stürzt.

Die Diagnose ist fatal: Tetraplegie! Maggie wird nie wieder ihre Arme und Beine bewegen können. Sie ist vom Hals abwärts gelähmt.

Frankie, der sich die schwersten Vorwürfe wegen Maggies Unglück macht, ruft in allen Kliniken der USA an, um irgendeinen Spezialisten zu finden, der sie vielleicht doch noch kurieren könnte. Doch dies erweist sich verständlicher Weise als eine vergebliche Liebesmüh.

In dem Versuch, ihr einen neuen Sinn im Leben zu geben, schlägt Frankie Maggie vor, einen computer-gesteuerten Rollstuhl zu kaufen und zur Schule zurück zu kehren. Doch Maggie will nichts davon wissen. Stattdessen bittet sie Frankie, ihr beim Sterben zu helfen.

Clint Eastwood als Frankie

Katholisch erzogen weist Frankie dieses Ansinnen zunächst energisch zurück. Doch als Maggie sich in dem Versuch, zu verbluten, die eigene Zunge abbeißt, kommt er nicht mehr umhin, ihre Bitte ernst zu nehmen. Sie sagt ihm, sie habe mehr erreicht, als sie sich je erhoffen durfte. Sie habe die Welt gesehen und Menschen gehört, die ihr zujubeln. Und sie möchte sterben, bevor dieser Jubel, der immer noch an ihr Ohr dringt, verstummt.

Um nicht vom Personal aufgehalten zu werden, schleicht sich Frankie eines Nachts in die Klinik und verabreicht Maggie eine Spritze mit einer Überdosis Adrenalin. Bevor sie stirbt, sagt er ihr, was “Mo Chuisle” bedeutet: “Mein Herz, mein Leben”. Dankbar lächelnd schläft Maggie für immer ein.

“Million Dollar Baby” ist weit, weit mehr als nur ein Film über Sterbehilfe. Doch für den Zweck dieses Artikels muss es leider genügen, uns auf diesen Aspekt zu konzentrieren.

Anders als in “Das Meer in mir” geht es in “Million Dollar Baby” nicht um den assistierten Suizid, sondern um die aktive Sterbehilfe. Wie bereits erwähnt, ist die aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten und wird als “Tötung auf Verlangen” mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. In Belgien, Luxemburg und den Niederlanden wird die aktive Sterbehilfe dagegen bereits seit Jahren unter strengen Auflagen praktiziert.

Was für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe spricht, ist klar: Es gibt Patienten, die vom assistierten Suizid keinen Gebrauch machen können. Wer beispielsweise so stark gelähmt ist, dass er nicht mehr schlucken kann, dem nützen auch ein Becher Natriumpentobarbital und ein Strohhalm nichts. Warum also in solchen Ausnahmefällen nicht nur den assistierten Suizid, sondern auch die aktive Sterbehilfe entkriminalisieren?

Obgleich die in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden gesammelten Daten es eindeutig widerlegen, heißt es in Deutschland nach wie vor, dass eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe zu gefährlich sei, weil sie dem Missbrauch Tür und Tor öffne.

Der wohl häufigste Einwand gegen die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe tritt im Gewand des so genannten “Dammbruch-Argumentes” auf. Nach diesem Einwand würde eine Legalisierung der aktiven freiwilligen Sterbehilfe früher oder später zur Legalisierung der aktiven unfreiwilligen Sterbehilfe führen. Zunächst, so das Argument, werden Ärzte ihren Patienten nur auf deren ausdrücklichen Wunsch hin töten; bald aber werden sie dazu übergehen, ihre Patienten auch ohne deren ausdrücklichen Wunsch zu töten. Nach dem bekannten Motto “Wehret den Anfängen!” sprechen sich daher viele Menschen für ein striktes Verbot der aktiven Sterbehilfe aus.

Was ist von diesem Argument zu halten? Erstens sollten wir uns klar machen, dass der Einwand eines drohenden Dammbruchs kein Argument gegen die aktive Sterbehilfe als solche darstellt. Er ist lediglich ein Argument gegen die vermeintlichen sozialen Konsequenzen der aktiven Sterbehilfe. Zweitens ist der Verweis auf die sozialen Folgen eine offene Frage. Es genügt nicht, dramatische soziale Veränderungen zu behaupten, man muss sie auch begründen. Mit anderen Worten: Eine Dammbruch-Behauptung ist noch kein Dammbruch-Argument. Und drittens müssen wir uns daran erinnern, dass es uns sehr wohl möglich ist, eine gesetzliche Grenze zu ziehen. So können wir beispielsweise die aktive freiwillige Sterbehilfe zulassen, die aktive unfreiwillige Sterbehilfe aber verbieten. Tatsächlich tun wir dies ja auch in zahllosen Fällen. Denken wir nur an die Organtransplantation. Auch dort hätte man befürchten können, dass das Gesetz es zunächst nur erlaube, hirntoten Patienten Organe zu entnehmen, bald aber schon auch nicht mehr therapierbare Patienten ihrer Organe beraubt werden mögen.

Ein ähnlicher Einwand besagt, dass die Missbrauchsgefahren einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe einfach zu groß seien. Tatsächlich lässt es sich nicht ausschließen, dass eine einmal etablierte Praxis der aktiven Sterbehilfe zu Fällen von Missbrauch führen werde. Dennoch sollten wir dieses Argument nicht unkritisch betrachten. Denn es wäre ein Fehler, allein auf die Missbrauchsgefahren der aktiven Sterbehilfe hinzuweisen, die Missbrauchsgefahren der passiven Sterbehilfe aber zu übersehen. Immerhin sind die Missbrauchsgefahren der passiven Sterbehilfe mindestens genauso groß wie die der aktiven Sterbehilfe. So wie Patienten subtil zu einer Einwilligung in die aktive Sterbehilfe gedrängt werden können, können sie selbstverständlich auch subtil zu einer Einwilligung in die passive Sterbehilfe gedrängt werden. So könnte ein Arzt seinem Patienten beispielsweise jede Hoffnung auf Genesung nehmen und ihn zum Abschalten seines Beatmungsgeräts bewegen.

Anders als die Missbrauchsgefahren der aktiven Sterbehilfe lassen sich die Missbrauchsgefahren der passiven Sterbehilfe sogar empirisch belegen. So haben verschiedene Studien gezeigt, dass Ärzte dazu neigen, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ohne vorherige Befragung der betroffenen Patienten einzustellen. In den USA, so hat sich beispielsweise gezeigt, sprechen gut 15 Prozent der Ärzte ihre Entscheidung, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen abzubrechen, lediglich mit den Familienangehörigen, nicht aber mit den betroffenen Patienten ab, und zwar selbst dann, wenn die Patienten bei vollem Bewusstsein und in jeder Hinsicht urteilsfähig sind. In Australien beläuft sich die Zahl der Fälle, in denen Ärzte eine lebenserhaltende Behandlung ohne vorherige Einwilligung des Patienten einstellen, auf 20 Prozent. In Neuseeland liegt sie bei 48 Prozent. Und in Italien und Schweden werden sogar mehr als 50 Prozent aller ärztlichen Entscheidungen am Lebensende schlichtweg über den Kopf der Patienten hinweg getroffen.

Maggie und Frank

Bedauerlicherweise gibt es bislang noch keine vergleichbaren Untersuchungen aus Deutschland. Aus einer Umfrage, die unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin durchgeführt worden ist, lässt sich jedoch erahnen, dass die Zahl von Todesfällen, die auf den Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen ohne vorherige Einwilligung der betroffenen Patienten zurück geht, ähnlich hoch sein dürfte wie in Italien und Schweden. Obgleich 90,4 Prozent der deutschen Palliativmediziner es für moralisch unzulässig hielten, einem sterbenden Patienten auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin aktive Sterbehilfe zu leisten, betrachteten es 63,3 Prozent doch für moralisch zulässig, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ohne dessen ausdrücklichen Wunsch abzubrechen!

In meinen Augen sollten sterbende Patienten so viele Optionen wie nur möglich haben. Sie sollten sich palliativmedizinisch behandeln lassen können. Sie sollten sich in einem Hospiz betreuen lassen können. Sie sollten sich den Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen erbitten können. Sie sollten sich sedieren lassen können. Sie sollten sich ein Medikament zur Selbsttötung aushändigen lassen können. Und sie sollten sich eine Dosis eines todbringenden Medikaments injizieren lassen können.

Aus juristischen Gründen sollte man den ärztlich-assistierten Suizid aber stets der direkten aktiven Sterbehilfe vorziehen. Wenn irgend möglich, sollte die Tatherrschaft immer beim Sterbewilligen liegen. Nur so kann nahezu jedweder Missbrauch verhindert werden. Eine aktive Sterbehilfe sollte also nur zugelassen werden, wenn der Sterbewillige nachweislich unfähig ist, vom assistierten Suizid Gebrauch machen zu können – in aller Regel also nur in den wenigen Fällen, in denen der Patient nicht einmal mehr selbstständig schlucken kann.

 

Trailer (deutsch):


Million Dollar Baby (USA, 2004). Regie: Clint Eastwood; Darsteller (u.a.): Clint Eastwood, Hilary Swank, Morgan Freeman; 127 Minuten. Der Film wurde mit vier Oscars ausgezeichnet, davon drei in den wichtigsten Kategorien Bester Film, Beste Regie und Beste Hauptdarstellerin.