Der japanische Film "Plan 75" von Chie Hayakawa ist eine Dystopie zum Thema Sterbehilfe. Gerade deshalb sollten auch Befürworter der Sterbehilfe den japanischen Oscar-Beitrag anschauen, der im Mai in die deutschsprachigen Kinos kommt. Nicht zuletzt, um auch bei den Diskussionen um die Sterbehilfe mitreden zu können, die der Film sicherlich befeuern wird.
Den Befürwortern der Sterbehilfe wird von ihren Gegnern gerne und oft vorgeworfen, sie würden durch ihren Wunsch selbstbestimmt über ihr Sterben entscheiden zu wollen, alle Dämme brechen und den Suizid als gesellschaftliche Verpflichtung etablieren.
Was ist dran an diesem Argument? Ist ein "sozial verträgliches Frühableben", wie es 1998 der damalige Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar in einem Radiointerview im NDR ausdrückte, ein vorstellbares Szenario? In Deutschland und Europa sicher nicht, würden wohl die meisten jetzt spontan antworten, freilich ohne es zu wissen, weil ja niemand die Zukunft vorhersagen kann. Aber in anderen Ländern könnte das schon realistisch sein. In Japan zum Beispiel.
Japan steht, seiner demografischen Entwicklung wegen, vor größten Herausforderungen. Denn die japanische Gesellschaft ist wegen der fortschreitenden Überalterung und den damit folgenden ökonomischen Problemen auf dem Weg, einen langsamen Alterstod zu sterben. Die Alten werden immer älter und zahlreicher und die Jungen immer weniger, auch weil die Geburtenrate mehr und mehr sinkt. Letzteres hat kulturelle Gründe, kann aber hier und jetzt nicht vertieft werden gleichwohl es ein Teil der Lösung des Problems wäre, dass Japan die älteste Gesellschaft des Planeten ist.
Bei so dermaßen großen Herausforderungen ist es gut, dass es Wirtschaftswissenschaftler gibt. Die aber stehen im Allgemeinen nicht in dem Ruf von moralischen und ethischen Bedenken beschwert zu sein. Sie betrachten die Welt in Zahlen und ordnen sie mit einem Rotstift, was mitunter seltsame Blüten treibt.
So wie beispielsweise der Yale-Professor Yusuke Narita. Als dieser Ende 2021 in einer Talkshow gefragt wurde, wie man denn das Altersproblem der japanischen Gesellschaft lösen könnte, antwortete er: "Ich habe das Gefühl, dass die einzige Lösung ziemlich klar ist. Ist es am Ende nicht Massenselbstmord und Massen-Seppuku älterer Menschen?" (spiegel.de)
Mit dieser und ähnlich radikalen Aussagen erlangte Narita in den sozialen Medien Kultstatus und wurde vor allem unter dem jungen Teil der japanischen Bevölkerung zum Star. Zwar versuchte Narita das Gesagte wieder einzufangen indem er sagte, seine Aussagen wären so nicht gemeint gewesen und als Metapher zu verstehen, aber das glückte nur so leidlich. Und so wie man die Paste, die einmal aus der Tube raus ist, auch nicht wieder hinein bekommt, so bekommt man auch Gesagtes nicht wieder zurück und schon gar nicht im Zeitalter des Internets und seiner sozialen Medien. Dass der Herr Professor solcherlei Ansichten hat, schreibt der Spiegel, ist das eine. Bedenklich aber ist es, dass diese Aussagen relevant werden, weil sie eine gewisse Anschlussfähigkeit in Teilen der japanischen Bevölkerung haben.
In die gleiche Kerbe schlägt der Film "Plan 75" von Chie Hayakawa, der allerdings als Warnung zu verstehen ist und in seiner Handlung nach der Diskussion über den massenhaften Alterssuizid beginnt, sozusagen als Verwirklichung von Yusuke Naritas "Lösungsvorschlag".
Hauptprotagonistin des Films ist die 78-jährige Michi, die von Chieko Baisho verkörpert wird. Diese ist gesundheitlich noch gut zu pass und arbeitet unermüdlich im Houskeeping eines Hotels, um nicht Sozialhilfe beziehen zu müssen.
Junge Leute wünschen der gesellschaftlichen Probleme wegen den Alten den Tod und nach zahlreichen Gewalttaten gegen alte Menschen und einem Amoklauf in einem Altenheim beschließt die Exekutive, dass Menschen ab 75 Jahren das Recht haben, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.
Das versucht man den Alten mit einer Zahlung von 100.000 Yen (knapp 680 Euro) schmackhaft zu machen. Mit dem Geld können sie sich noch einmal etwas gönnen bevor ihnen geholfen wird, sich das Leben zu nehmen. Der Abschluss des Vertrages gestaltet sich so einfach wie der Kauf eines Mobiltelefons.
Trailer zum Film "Plan 75"
Der Film, der der japanische Beitrag zu den Oscars ist und ab diesem Monat in die deutschen Kinos kommt, spielt das Gedankenexperiment bis zum Ende durch und verzichtet auf Effekthaschereien. Das macht ihn zu einem ernstzunehmenden Diskussionsgegenstand und sollte deshalb auch von Sterbehilfebefürwortern gesehen werden. Aber ist er auch in unserem Kulturkreis eine realistische Darstellung einer möglichen Zukunft, also eines Dammbruchs bei der Sterbehilfe?
Genauer betrachtet geht die demografische Entwicklung in Europa in die gleiche Richtung wie in Japan. Die Japaner sind uns darin, wenn überhaupt, einfach nur ein paar Jahrzehnte voraus.
Dennoch gibt es große Unterschiede. Während im Christentum der Suizid als "metaphysische Revolte" verpönt ist, orientieren sich Japaner am Diesseits. Werte wie Gerechtigkeit und Liebe bedürfen keines Gottes und offenbaren sich am stärksten durch den Mut zu sterben, quasi als höchster Akt, um die Wahrheit zu begründen. Ein anderer Aspekt ist die kollektivistische Gesellschaftsstruktur der Japaner, während sich die Menschen in Europa als Individuen betrachten.
Wenn bei uns um das Recht auf einen selbstbestimmten Tod und die notwendige Hilfe dazu gestritten wird, streiten wir immer auch gleichzeitig um das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und die hier dazugehörende Hilfe. Es sind die beiden Seiten der gleichen Medaille. Deshalb ist es umso unverständlicher, wenn Sterbehilfegegner den Diskurs dahingehend verschieben, dass das Recht auf einen assistierten Suizid das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben bis zum natürlichen oder medizinisch hinausgezögerten Ende gefährden würde.
Ohne Zweifel: Wer die Utopie will, muss die Dystopie mitdenken. Weil er sonst vielleicht im guten Glauben in die falsche Richtung läuft und es erst merkt, wenn es zu spät ist. Denn es ist wichtig zu wissen, was man will, noch wichtiger aber ist es zu wissen, was man nicht will. Ein Szenario wie im Film "Plan 75" wollen wir, vom Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben Oldenburg, ganz sicher nicht.
Also ist es angebracht, die Diskussion um die Sterbehilfe voranzutreiben, sie nicht allein den Gegnern der Sterbehilfe zu überlassen und dafür zu sorgen, dass die Wirtschaftswissenschaftler bei ihren Leisten bleiben.