BERLIN. (hpd/dghs) Suizid ist ein Grundrecht. Suizid ist auch ein Menschenrecht. Es lässt sich auf europäischer Ebene aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) herleiten. Sie schützt neben dem Familien- ganz allgemein das Privatleben eines Menschen in all seinen Facetten. Auch das Ende des menschlichen Lebens fällt somit unter diesen Schutz.
Suizid als Menschenrecht
Sowohl das Ob als auch das Wie dieses Endes muss dem Träger des Menschenrechts überlassen bleiben. Niemand sonst darf sich anmaßen, über das Leben eines anderen zu bestimmen, nicht über seine Qualität und auch nicht über seine Dauer.
Die Verlängerung menschlichen Lebens gegen den Willen des Betroffenen greift somit in der gleichen Weise in den Schutzbereich des Menschenrechts auf Privatleben ein, wie seine Verkürzung. Sprich: lebensverlängernde Maßnahmen stehen, rechtlich wie ethisch gesehen, auf derselben Unrechtsstufe wie Totschlag.
Daher müssen auch für eine mögliche Rechtfertigung jenes Eingriffs ähnlich hohe Hürden gelten wie für die Tötung eines Menschen. Nur in außergewöhnlichen Ausnahmesituationen und bei klar und unzweifelhaft dargetanem Willen wird man daher medizinische Maßnahmen, welche körperliche Lebensfunktionen künstlich aufrechterhalten, rechtfertigen können.
Auf keinen Fall aber sind Eingriffe in das Recht auf Ableben dann rechtfertigbar, wenn ein eindeutiger Wille des Betroffenen diese ablehnt. Die Gretchenfrage ist, wie Zweifelsfragen zu lösen sind. Hier hat die Jurisprudenz bislang keine menschenrechtsgerechten Lösungen zum Schutz des Einzelnen vor künstlicher Lebensverlängerung entwickelt. Sie löst den Konflikt ganz brutal dadurch, dass sie den Willen des Einzelnen im Zweifel ignoriert, ihm also einen mutmaßlichen “Vernunft”- oder Gotteswillen unterstellt, ohne nach den Wünschen, dem Denken und der Persönlichkeit des Betroffenen zu fragen.
Schlimmer noch: Nicht selten spricht sie dem Betroffenen die Fähigkeit zur eigenen Willensbildung schlicht ab, um sich des Problems zu entledigen.
Der Wille des Einzelnen in einer zunehmend psychiatrisierten Gesellschaft
Damit sind wir beim Thema: Wie frei ist der Wille des Einzelnen in einer immer stärker psychiatrisierten Gesellschaft?
Die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens hat bei einer Veranstaltung im März 2014 die Zahl von 50 Prozent potentieller Psychiatriepatienten in Deutschland genannt. Mithin: Die Hälfte der Bevölkerung in unserem Land ist latent davon bedroht, eine psychiatrische Diagnose gestellt zu bekommen, untergebracht oder mit persönlichkeitsverändernden Psychopharmaka behandelt zu werden.
Die Zahlen sind beunruhigend, da die angeblichen psychischen Erkrankungen nicht Malaisen wie eine Grippe oder ein Beinbruch sind. Vielmehr stigmatisieren sie die Betroffenen, wirken dissozialisierend, führen rasch zu Freiheitsentzug, zum Verlust der bürgerlichen und der wirtschaftlichen Existenz und zum Einsatz psychotroper Substanzen, die dem Betroffenen sein eigenes Ich rauben.
Eine Oberärztin aus dem thüringischen Mühlhausen berichtete unlängst stolz, ihre Patienten seien “entpersönlicht”. In einer solchen Situation gestehen weder die Ärzte, die das ohnehin fast nie tun, noch die Gerichte dem Einzelnen noch eine freie Willensentscheidung zu. Eine Fähigkeit zur “freien Selbstbestimmung” wird psychiatrisierten Menschen schlicht abgesprochen. Legt man die obigen Zahlen von 50 Prozent zu Grunde, so wäre ohne weiteres die Hälfte der Bevölkerung von einer freien Willensbestimmung ausschließbar.
Äußern diese Menschen den Wunsch auf einen Suizid oder dessen Begleitung, laufen sie Gefahr, nicht gehört zu werden, krankheitsbedingt nicht in der Lage zu sein, ihre Situation einzuschätzen und so fachärztlich entmündigt gegen ihren Willen künstlich am Leben gehalten zu werden, obwohl sie es tatsächlich ablehnen. Unendliches Leiden und unendliche Qual stehen nicht selten am Ende einer solchen Karriere.
Die Umdeutung der Sterbewilligkeit in eine “Selbstgefährdung”
Doch auch die anderen 50 Prozent sind bedroht, jene, die eigentlich als psychisch gesund und stabil gelten. Denn wer in Deutschland den Wunsch nach einem Ende seines Lebens äußert, gilt bereits als suspekt, labil und tendenziell depressiv.
Regelmäßig wird bei psychiatrischen Explorationen die “Suizidalität” des Probanden abgefragt. Ein Seneca oder Marc Aurel haben in unserem “modernen” Gemeinwesen ideologisch keinen Platz. Es ist vielmehr geprägt durch einen “absoluten Lebensschutz”, den unser Strafrecht seit Jahrzehnten zementiert. Wer von ihm abweicht, gilt schon als gestört.
Nicht selten steht daher der Wunsch nach dem eigenen Ende am Anfang einer leidvollen Psychiatrisierung. Auch bei Absenz strafbaren Verhaltens erlaubt unser Recht, Menschen von der Straße weg einzusperren, wenn bei ihnen Eigen- oder Fremdgefährdung zu bejahen ist. Unter der Floskel der “Eigengefährdung” firmiert der Wille oder Wunsch nach Selbstschädigung, Krankheit und Suizid.