Interview

Ein Leben für die Selbstbestimmung

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Dolly Hüther mit der roten Karte vor dem Reichstag im Rahmen der Kampagne für das Recht auf Letzte Hilfe
Dolly Hüther mit der roten Karte vor dem Reichstag

Dolly Hüther ist ein politischer Mensch. Geprägt durch ihre eigene Biographie begann sie, sich für Gleichberechtigung einzusetzen und dafür, dass Frauen selbst über ihren Körper bestimmen dürfen. Im Stern bekannte sie sich zu ihrem illegalen Schwangerschaftsabbruch. Heute ist sie 90 Jahre alt und engagiert sich für die Legalisierung der Freitodassistenz, zuletzt für die Kampagne für das Recht auf Letzte Hilfe in Berlin. Der hpd hat mit ihr gesprochen.

hpd: Gut eine Woche ist es her, da standest du mit einer gelben und einer roten Karte vor dem Reichstagsgebäude in Berlin und zwei Fahrzeuge tourten mit deinem Konterfei durch die Stadt. Du verwarnst sinnbildlich jene Politiker:innen, die 2015 für den sogenannten "Sterbehilfeverhinderungsparagraphen" 217 gestimmt hatten. Wie kam es dazu, dass du das Gesicht der Kampagne für das Recht auf Letzte Hilfe wurdest?

Dolly Hüther: Die veranstaltenden vier Institutionen sind auf mich zugekommen. Ulla Bonnekoh von der DGHS (Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, Anm. d. Red.) hatte mich empfohlen.

Hattest du dich vorher schon für die Legalisierung des assistierten Freitods engagiert oder war das ein neues Thema für dich?

Das war nicht neu, ich bin mittlerweile seit einem Jahr Mitglied bei der DGHS. Dazu kommt, dass meine Freundin eine Freitodbegleitung hatte. Dann habe ich angefangen, mich auch mal mit meinem eigenen Tod zu beschäftigen. Mit 90 Jahren ist das kein Luxus, sondern das ist wichtig. Mit einer anderen Freundin habe ich dann angefangen, mich auszutauschen und sie hat mir vieles erklärt, wie das bei einer schweren Krankheit sein kann, mit Abschied und Tod. Gemeinsam sind wir dann zu einem Vortrag hier in Saarbrücken, wo wir leben, gegangen; ich habe die Leute von der DGHS kennengelernt und habe viel zum Thema gelesen.

Und wie ist deine persönliche Haltung zum selbstbestimmten Sterben?

Das ist eigentlich sehr einfach: Ich möchte in kein Altenheim, ich habe vier besichtigt. Keines hat mir zugesagt, und das fünfte war zu teuer. Da ich aber Vorerkrankungen habe, nenne ich mich inzwischen Betroffene. Zum jetzigen Zeitpunkt möchte ich mir noch nicht selbst helfen oder helfen lassen, sondern dann, wenn ich es für nötig halte. Aber wenn es soweit ist, weiß ich, dass ich auf jeden Fall Hilfe haben kann. Ich habe auch schon mit meinen Söhnen gesprochen und es ist geklärt: es wird in meinem Schlafzimmer stattfinden und sie werden dabei sein. Und ich schlafe in vier Sekunden ein. Das ist einfach toll.

Du engagierst dich seit 45 Jahren in der SPD und warst sechs Jahre stellvertretende Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen im Saarland. Wie ist es für dich, dass der Entwurf für eine Neuauflage des vom Bundesverfassungsgericht gekippten Gesetzes federführend von einem SPD-Abgeordneten kommt?

Auf den Flyern, die wir bei der Aktion letzte Woche in Berlin verteilt haben, steht: "Wer die Verfassung nicht versteht, gehört nicht in den Bundestag" – ich bin entsetzt über den Antrag von Lars Castellucci. Und ich will ihm auch mal schreiben, als Genossin. Es darf auf keinen Fall einen neuen Paragraphen 217 geben.

Ein politischer Mensch bist du ja nun schon sehr lange. Wie hat das alles angefangen?

Als ich an einem Nachmittag in Saarbrücken mit meinem kleinen Sohn spazieren war, sah ich im Schaufenster die Ankündigung für einen Nachmittag der AsF, der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen. Da bin ich hingegangen und die Frauen dort waren toll. Ich war zu diesem Zeitpunkt ja Hausfrau mit wenig politischer Ahnung – ich durfte nicht arbeiten, weil mein Mann das so wollte, das war ja damals noch so. Ich hab mich mit diesen Frauen unterhalten über die Dinge, für die sie kämpften – Gleichberechtigung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Ehegattensplitting abschaffen – und dachte mir: Das ist etwas, das mir Spaß macht. Ich kam dann öfter vorbei und 1977 bin ich in die SPD eingetreten – wegen Willy Brandt, ich habe ihn geliebt! Heute kann ich sagen, dass ich der Partei viel zu verdanken habe.

Du hast dich in deinem Leben vor allem auch für reproduktive Rechte eingesetzt. Wie kam es dazu?

Isolde (Dolly) Hüther, Jahrgang 1932, ist langjähriges SPD-Mitglied und war stellvertretende Landesvorsitzende von Pro Familia Rheinland-Pfalz-Saar; sie engagiert sich seit Jahrzehnten für Frauenrechte und nun auch für Selbstbestimmung am Lebensende. Sie hat sechs Bücher geschrieben, gibt Kurse an der Volkshochschule und hört als Senioren-Studierende Vorlesungen in verschiedenen Fachbereichen.

Ich hatte 1963 einen Schwangerschaftsabbruch, als das noch illegal war. Eine Ausschabung, ohne Narkose. Es war die Hölle, das ist immer noch ein Trauma für mich. Und dafür hätte ich ins Gefängnis gehen können. Mein Mann hat glücklicherweise zu mir gestanden, auch wenn er mich nicht unterstützen konnte, er hätte sich ja schlecht bei der Arbeit entschuldigen können, um mich zu meiner Abtreibung zu begleiten. Ich habe das Schweigen dann Stück für Stück gebrochen und 1989 habe ich mich im Stern öffentlich bekannt. Das war damals die zweite Staffel dieser Aktion. Und nachdem ich das gemacht hatte, wurde ich gefragt, ob ich nicht stellvertretende Landesvorsitzende von Pro Familia in Rheinland-Pfalz und Saarland werden möchte.

Heute ist es ja im Gegensatz zu früher möglich, straffrei einen Schwangerschaftsabbruch zu machen, auch wenn er grundsätzlich noch immer als kriminelle Handlung ausgewiesen ist. Was sagst du zur derzeitigen Regelung in Deutschland?

Ich lache dazu laut! Warum? Weil es für mich schlimm ist, vorher zwangsberaten zu werden. Ich war bei einer Zwangsberatung dabei, das ist der größte Quatsch. Das ist eine Geschichte, die zwischen dem Mann und der Frau ausklamüsert werden muss, und dann entscheidet die Frau und geht zum Arzt oder der Ärztin. Und der Mann soll mitgehen!

Du hast eine lange Zeitspanne im Blick. Wie weit ist die Gleichberechtigung der Geschlechter für dich hierzulande gekommen?

Es hat sich einiges gut entwickelt: Wir haben Ärztinnen und Ärzte gefunden, die bereit waren, den Abbruch zu machen, wenn der Beratungsschein vorlag. Aber es ist und war ein Tabuthema. Viele Ärzte sind ausgestiegen. Viele unserer Ärztinnen sind schlecht behandelt worden, wie wir an der Geschichte mit Kristina Hänel ganz klar gesehen haben. Aber den Paragraphen 219a haben wir ja jetzt wegbekommen, das ist ja in Ordnung.

Bei der Gleichberechtigung hat sich viel verändert: Frauen wurden durch feministische Zeitschriften informiert über Dinge, die sie selbst betreffen. In der Politik hat sich auch viel getan beim Frauenanteil, aber wenn ich den bayerischen Innenminister sehe, vier Männer rechts, vier Männer links und er in der Mitte – da muss ich sagen: Es gibt immer noch viel zu tun, packen wir's an! Aber was mir gefällt, ist, dass die Männer sich angefangen haben zu ändern: Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich einen Mann, der seinen Kinderwagen schiebt. Und das freut mich. Mein Mann hat noch nicht mal eine Hand an den Wagen gelegt, weder beim ersten Kind noch beim zweiten – und die sind acht Jahre auseinander.

Was es nach wie vor gibt, ist das Ehegattensplitting, das die Frauen benachteiligt, und die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen. Was ich hier immer betone: Es gibt einen Unterschied zwischen Arbeit und Erwerbstätigkeit. Ehrenamtliche Arbeit oder Arbeit im Haushalt wird nicht bezahlt. Dort, wo wir erwerbstätig sind, bekommen wir auch Geld. Und wenn wir etwas verdienen, bekommen wir später auch Rente. Ich habe 127 Euro eigene Rente, ich bin noch Zeitzeugin der Frauen, die nicht erwerbstätig sein konnten und durften.

Du bemühst dich auch darum, unsere Sprache weiterzuentwickeln. Willst du das kurz erläutern?

Ich schreibe immer alles um, weil die Frauen gerne vergessen werden. Das kleingeschriebene "man" zum Beispiel – das sagt ja nichts aus. Da habe ich bei der Gesellschaft für deutsche Sprache angefragt und die haben mir gesagt, es sei kontextual durch ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie und weitere Wörter zu ersetzen. Und seit der Zeit mache ich das.

Ein anderes Beispiel ist das Wort "Suizid", das man nicht mehr verwenden sollte. Der Begriffsursprung laut Duden ist das lateinische "sui" – sich selbst, und das Verb "caedere" – töten. Als Synonyme schreiben die da unter anderem "Selbstentleibung", "Selbsttötung", "Selbstvernichtung" und "Selbstmord" – Selbstmord ist für mich, wenn sich jemand vor einen Zug wirft. Aber nicht das, was ich eines Tages machen werde, wenn es mir nicht mehr gut geht. Das ist etwas ganz anderes, nämlich professionelle, humane Freitodbegleitung. Und das ist etwas so Beruhigendes und Gutes…

Schwangerschaftsabbruch und Freitodbegleitung sind beides Ausdruck von Selbstbestimmung. Was bedeutet Selbstbestimmung für dich?

Selbstbestimmung bedeutet für mich: Wenn ich eine Schwierigkeit habe, die auf mich zukommt, dass ich für mich als erwachsener, intelligenter Mensch auch selbst entscheiden kann und nicht erst überall fragen muss. Da treffen sich die beiden Themen auch wieder bei der gesetzlichen Regelung: Beim 218er fällt die Zwangsberatung vielleicht bald weg, dann sollte es beim 217er nicht wieder neu so festgelegt werden. Ich will keine Beratung!

Du bist jetzt 90 und engagierst dich nach wie vor unermüdlich. Welche Projekte stehen noch an? Was möchtest du erreichen?

Ich wäre glücklich, wenn ich in der Partei mehr tun könnte. Ich würde gerne auch mal Dinge diskutieren, die auf Bundesebene laufen. Warum kämpfe ich weiter? Weil ich endlich diesen Paragraphen 218, genau wie den 219 und 217 aus dem Strafgesetzbuch raushaben möchte. Und weil ich will, dass wir human sterben können. Was auch noch umzusetzen ist, ist die geschlechtergerechte Sprache. Denn wer in der Sprache nicht vorkommt, an die wird nicht gedacht. Es ist noch viel, was zu schaffen wäre.

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