Götter, Religionen und die Politik

Politik und Religion

Graf nimmt das Projekt der Aufklärung aber etwas näher im einleitenden Essay des noch zu besprechenden Bands “Politik und Religion” in den Blick. Er hat zusammen mit dem Leiter der Carl Friedrich von Siemens Stiftung diesen Tagungsband herausgegeben, dessen Texte schwerpunktmäßig von Philosophen und Politologen verfasst wurden. Grafs Essay betont die Wichtigkeit der ernster zu nehmenden weltanschaulichen Neutralität des Staats angesichts einer “notorischen Gefährlichkeit” des religiösen Bewusstseins. Der Staat müsse Religion daher unter Kontrolle halten. Wie das angesichts der Unterschiedlichkeit der Verhältnisse geschehen soll, bleibt aber im Nebel, auch beim Vergleich der europäischen Staaten und bei Berücksichtigung der auch von Graf genannten desintegrativen Aspekte von Religion. Auch aktuell ist ihm die katholische Kirche in Sachen Demokratie und Aufklärung ein Dorn im Auge. Man müsse liberale Religion stärken und dürfe das religiöse Feld nicht kampflos den Antiliberalen überlassen.

Cover: Politik und Religion
 

Hans Ulrich Gumbrecht schreibt eingehend zur sehr oft erörterten religionspolitischen Situation in den USA. Daher erscheint der Beitrag von Gregory Freeze zur Entwicklung in Russland wesentlich interessanter, und zwar sowohl für die stalinistische Zeit wie die danach. Da geht es um den dramatischen Anstieg der Religiosität seit 1990, bei gleichzeitig überwiegend außerkirchlicher russischer Orthodoxie (Glaube ohne Kirchenbindung), großer religiöser Unwissenheit und Distanz zum Moskauer Patriarchat. Dort habe sich eine Oligarchenherrschaft mit “zügelloser Korruption” und starker Verquickung mit dem Staat immer weiter verfestigt. Hillel Fradkin befasst sich mit der Problematik des Islamischen Staats und dem weltweit wachsenden Islamismus und seiner langen historischen Entwicklung. Zwei Schauplätzen gilt sein besonderes Interesse: Ägypten und Iran.

Religionspolitik in der klassischen Antike ist das Thema Robert Bartletts. Der Autor befasst sich, sehr speziell, hauptsächlich mit Aristoteles, so dass ein Zusammenhang mit der “Diagnose der Gegenwart” kaum herzustellen ist. Das gilt auch für Peter Schäfers Beitrag zur Theokratie in der jüdischen Antike, ausgenommen ein knapper, aber informativer Abschnitt zum Grundwiderspruch des Staats Israel zwischen Säkularität und Orthodoxie mit skeptischer Prognose.

Etwas theoretisch ist der Aufsatz von Hans Joas zur Sakralisierung und Entsakralisierung politischer Herrschaft, der mit einem Plädoyer für die Entsakralisierung der jeweiligen politischen Macht und für weltweite individuelle Menschenrechte endet.

Besonderes Interesse weckt Jürgen Habermas mit seinen Gedanken zu Politik und Religion. Zu Recht hebt er die Trennung des Gerechten vom Guten (d.h. von Recht und Moral, Cz) als Merkmal des grundrechtssichernden demokratischen Staats hervor. Das Problem für Religiöse sei dabei, die Rolle als Staatsbürger und als Gläubiger in Einklang bringen zu müssen. Sie dürften daher nicht ins Private abgedrängt werden. Alle Bürger seien von der Vernünftigkeit der Verfassungsprinzipien zu überzeugen, wozu der Verfasser zutreffend auf die liberale Rechtstheorie von John Rawls verweist. In diesem Zusammenhang vertritt Habermas die (das Rechtsproblem verkennende) Ansicht, in Deutschland dürfe die männliche Beschneidung nicht aufgrund fehlerhafter Definitionsanmaßung durch die Mehrheitskultur verboten werden. Richtig ist freilich der Gedanke, die Identität aller Staatsbürger solle auf faire Weise gewahrt werden. Abschließend benennt Habermas zwei Defizite des “nachmetaphysischen Denkens”: eine universale Vernunftmoral motiviere nur schwach und reiche daher vielleicht nicht aus, zum anderen beunruhigt ihn die Frage, ob die Kraft der Vernunft “zu einer Transzendenz von innen” stärker sei als der in ihr “brütende Defätismus”. Was also tun?

Im Epilog erklärt Mitherausgeber Meier u.a., zu Recht wolle Habermas den säkularen religionsneutralen Staat stärken durch Nutzbarmachung der Integrationskraft der Religionsgemeinschaften, denen abzuverlangen sei, die demokratischen Regeln aus dem Glauben heraus zu begründen. Die Philosophie müsse den religiösen Fundamentalismus jeder Couleur mit Ernst bekämpfen, gerade weil er die Vernunft in Frage stelle. Die Philosophie sei aber nicht der Religion zu assimilieren, sondern stehe und falle mit der Kritik von Politik und Religion (S. 312).

Mit dieser richtigen Erkenntnis steht man freilich am Ende auch dieses Bandes wieder etwas ratlos vor der Frage, was konkret zu tun sei. Beide Bücher bringen somit viel interessante Information, aber die Frage nach den Schlussfolgerungen wird nicht wirklich beantwortet. Es bleibt, so die Anmerkung des Rezensenten, wohl nichts Anderes übrig, als auf allen Ebenen weiterhin zu versuchen, geduldig und wissenschaftlich fundiert Aufklärung zu betreiben. Das ist freilich wegen der religiösen Grundtendenz in Politik, Medien und Schulen schwierig, zumal es keine (ausreichende und zutreffende) staatsbürgerliche Erziehung gibt. Wer etwas gegen die “notorische Gefährlichkeit” (F.W. Graf) der Religionen tun will, darf nicht ausgerechnet diese verfassungswidrig begünstigen und die liberalen, auf wirkliche Neutralität Wert legenden Kräfte diskriminieren (ergänzend zur Integrationsaufgabe des deutschen Staats).

 


Friedrich Wilhelm Graf: Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird. München 2014, C.H. Beck Verlag, 286 S., 16,95 Euro

Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart. München 2013, C.H. Beck Verlag, 324 S., 14,95 Euro