Zum 70-jährigen Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage

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Bundesadler im Bundesverfassungsgericht
Bundesadler im Bundesverfassungsgericht

Am 7. September 1951 nahm das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seine Tätigkeit auf, am 28. September 1951 wurde es in einem Festakt feierlich eröffnet. Aus Anlass des 70-jährigen Jubiläums werden in Karlsruhe, dem Sitz des Gerichts, und im ganzen Bundesgebiet Veranstaltungen zur Würdigung des Gerichts stattfinden. Trotz aller bisheriger, mehr punktueller als grundsätzlicher Kritik werden dabei die großen Leistungen des Gerichts für unsere Rechtsstaatlichkeit und grundrechtliche Freiheit im Vordergrund stehen. Das liegt umso näher, als das BVerfG eine national wie international hoch angesehene Institution ist. Zudem machen die umfassenden Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse das Gericht zu einem Machtfaktor im Staat. Doch auch, wenn man die in nunmehr 155 Bänden der Amtlichen Sammlung der Senatsentscheidungen (gelegentlich auch von Entscheidungen der mit drei Richtern besetzten Kammern) dokumentierte Arbeit für Staat, Gesellschaft und Einzelbürger anerkennt, sollte man ein Interesse an einer weiter verbesserten Glaubwürdigkeit haben. Das ist im Bereich von Religion und Weltanschauung insgesamt sogar dringend vonnöten.

Die kritikwürdigen Entscheidungsbegründungen des weltanschaulichen Bereichs betreffen hauptsächlich die Themen Schule, Kirchensteuer, Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen, Religionsförderung, Diskriminierung religiöser Minderheiten und insbesondere der besonders starken Gruppe der Nichtreligiösen, die vielerorts schon die Mehrheit stellen. Für diese und andere Themen ist das übergreifende Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität von fundamentaler Bedeutung.

Dazu hat das Gericht 1965 in der Entscheidung zur Badischen Kirchenbausteuer in einer bemerkenswerten und vielzitierten Passage festgestellt, das Grundgesetz lege dem Staat als "Heimstatt aller Bürger" weltanschaulich-religiöse Neutralität auf, untersage staatskirchliche Rechtsformen und die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse. Abgeleitet hat es das Neutralitätsgebot aus einer ganzen Serie von Artikeln des Grundgesetzes (GG) beziehungsweise der durch Artikel 140 inkorporierten Artikel der Weimarer Religionsverfassung (WRV): Artikel 3 III (Besonderer Gleichheitssatz: Benachteiligungs- und Privilegierungsverbote), 4 I (Glaubensfreiheit, Gleichstellung von Religion und Weltanschauung), 33 III GG (Rechtswahrnehmung, insbesondere Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von Religion oder Weltanschauung, Benachteiligungsverbot) und 136 I, IV (Rechtswahrnehmung ungeachtet der Religion; kein Zwang zur Teilnahme an religiösen Übungen) sowie 137 I (keine Staatskirche) WRV.

Warum in der Passage nicht auch Artikel 3 I GG (Allgemeiner Gleichheitssatz), 136 III WRV (keine Verpflichtung zur Offenbarung der religiös-weltanschaulichen Überzeugung) und 137 VII WRV (Gleichstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften) genannt sind, ist nicht zu erklären. Alle Vorschriften sind unmittelbar geltendes Verfassungsrecht und konstituieren ein (konkret oft schwierig zu handhabendes) Neutralitätsgebot: eine strikte Rechtsregel und verfassungsleitendes Prinzip.1 Dass dieses auch vom BVerfG oft beschworene und später noch etwas präzisierte Gebot der Unparteilichkeit in der allgemeinen Rechtspraxis zu Lasten nichtchristlicher und insbesondere nichtreligiöser Staatsbürger massiv missachtet wurde und wird, wissen die Leser des hpd2. Wohl weniger bekannt ist, in welchem Ausmaß das BVerfG sich selbst oft nicht an das Neutralitätsgebot gehalten und sich in eine weltanschauliche Schieflage begeben hat.

Gesamthaltung des BVerfG in der Neutralitätsfrage noch immer ungeklärt

1973 hat sich das Gericht ohne aufwändige Untersuchungen nicht in der Lage gesehen, in einem 75 Zentimeter hohen Standkreuz auf dem Richtertisch einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot zu erkennen und stattdessen nur wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls eine Verletzung der Glaubensfreiheit des Klägers angenommen. Damit wurde das Neutralitätsgebot im Einklang mit einer in Literatur und Rechtspraxis weit verbreiteten Strömung zu einem sehr vagen flexiblen bloßen Prinzip reduziert.

In seinen bei genauer Lektüre recht widersprüchlichen Entscheidungen von 1975 zu den sogenannten christlichen Gemeinschaftsschulen hat das Gericht die Frage der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Unterrichts gar nicht aufgeworfen und den Begriff der Unzulässigkeit missionierender Einflussnahme gar nicht diskutiert. Das hat bis heute zu unnötigen und fruchtlosen Gerichtsverfahren geführt. Bei der Anregung zum Schulgebet durch einen Lehrer, was als selbstverständlich zulässig angesehen wurde, erwähnte das Gericht das Neutralitätsgebot als Prüfungsmaßstab nicht einmal.

Zum erfreulichen Kruzifix-Beschluss von 1995, in dem freilich der juristische Stellenwert der Neutralität im Verhältnis zum Grundrecht der Glaubensfreiheit ungeklärt blieb, ist anzumerken, dass eine Minderheit von drei Richtern in Sondervoten überaus heftig, aber mit erstaunlich groben Rechtsfehlern, gegen die dogmatisch traditionelle Begründung der Mehrheit polemisiert haben. Während die Entscheidung des Zweiten Senats zum islamischen Kopftuch staatlicher Lehrerinnen von 2003 das Neutralitätsgebot noch angemessen berücksichtigte, erklärte der Erste Senat 2015, grundsätzlich habe die Religionsfreiheit der Lehrerin Vorrang vor dem Neutralitätsgebot. Die Irritationen halten bis heute an. Die Gesamthaltung des BVerfG in der Neutralitätsfrage ist nach 70 Jahren trotz ihrer enormen Bedeutung noch immer ungeklärt.

Selbstverwaltungsrecht wurde zu Selbstbestimmungsrecht

Die manchmal monopolartige Position kirchengebundener sozialer Einrichtungen in einer zunehmend säkularen Gesellschaft wäre ohne die stufenweise Rechtsprechung des BVerfG nicht möglich gewesen. Das BVerfG hatte zunächst den 1961 gesetzlich neu eingeführten Vorrang der freien (d. h. überwiegend kirchlichen) Träger vor den öffentlichen Einrichtungsträgern grundsätzlich gutgeheißen. Dann hat es den kirchenverbundenen Einrichtungen (Caritas, Diakonie) die Berufung auf die Religionsausübungsfreiheit ermöglicht, als ob diese selber Religionsgemeinschaften wären. Damit verbunden wurde eine unhistorisch und ohne Anhaltspunkt im GG exzessiv ausgeweitete Religionsausübungsfreiheit, die – äußerst fragwürdig – das Vorliegen einer bloßen religiösen Motivation ausreichen lässt.

Weiter hat das Gericht das Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 137 III WRV/140 GG) ausgeweitet zu einem Selbstbestimmungsrecht, dem zudem bei der Abwägung mit den einschränkenden Vorschriften eines religionsneutralen Gesetzes ein "besonderes Gewicht" zukommen solle. Das ist juristisch unvertretbar, denn für eine solche Gewichtung gibt es keinerlei Rechtskriterien und die "Schranken des für alle geltenden Gesetzes" (Art. 137 III 1 WRV/140 GG) gelten laut Verfassung gerade für die eigenen Angelegenheiten der "Religionsgesellschaften". Gekrönt wurde diese Gesamtkonstruktion durch eine rigide Rechtsprechung des BVerfG zum Kündigungsschutz zu Lasten der weltlich-rechtlichen Arbeitnehmer in "kirchlichen" Einrichtungen (1985), die schon damals von Kritikern zu Recht als skandalös angesehen wurde. Noch 2014, als das europarechtlich und gesellschaftspolitisch nicht mehr verständlich war, hat der Zweite Senat diese Rechtsprechung sogar noch bekräftigt.

Fehlende Unbefangenheit

Auf weitere Beispiele einer kirchenfreundlichen beziehungsweise weltanschaulich diskriminierenden Rechtsprechung muss hier verzichtet werden. Es ginge um Kirchensteuer, Religionsförderung, Schwangerschaftsabbruch und anderes. Insgesamt ergibt sich, dass das BVerfG, ungeachtet seiner großen Gesamtleistung, im Bereich von religiöser und nichtreligiöser Weltanschauung nicht neutral judiziert hat. Nichtreligiöse Menschen können den Staat insoweit nicht als "Heimstatt" empfinden. Festzustellen sind widersprüchliche und sonst unzureichende Begründungen. Wichtige Rechtsfragen wurden ignoriert oder verbal überspielt, unpraktikable Ergebnisse ohne Not in Kauf genommen, anerkannte Grundsätze der Rechtsgewinnung punktuell missachtet. Das kann hier nicht im Einzelnen erörtert werden.3

Mit bestimmten Eigenarten der Entscheidungsbegründungen (lehrbuchartige theoretische Ausführungen vor der konkreten Fallprüfung) und der eigentlich unvertretbaren Arbeitsbelastung der Richter lassen sich die teilweise großen Defizite nicht erklären. Entscheidend dürfte die oft fehlende Unbefangenheit und ideologische Voreingenommenheit sein. Hinweise dazu lassen sich der speziellen Kontaktpflege des Gerichts zu den großen Kirchen (Karlsruher Foyer, Papstbesuch 2011, Fachgespräch mit Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz) entnehmen. Bemerkenswert ist der Hinweis Carsten Frerks darauf, dass im Lauf der Zeit sieben Richter des BVerfG hohe päpstliche Orden für Verdienste um Papst und Kirche erhalten haben.4

Erfreulich ist nach allem die einstimmig gefällte, vorbildlich klare, widerspruchsfreie und intellektuell unangreifbare Entscheidung des Zweiten Senats zum ärztlich assistierten Suizid von 2020. Demnach ergibt sich aus Artikel 2 I und 1 I GG das Recht auf autonomes Sterben nach den eigenen Vorstellungen und auch mit fremder geschäftsmäßiger qualifizierter Hilfe. Ebenfalls zu begrüßen ist die nahezu gleichzeitig ergangene Entscheidung zum Problem des Kopftuchtragens von Rechtsreferendarinnen, die das in der Justiz besonders wichtige Neutralitätsgebot hervorhebt. Ob damit eine Wende zu konsequenterer Beachtung der Unparteilichkeit im religiös-weltanschaulichen Bereich eingeleitet ist, muss sich noch zeigen.

Mit der entsprechenden Hoffnung kann man dem Bundesverfassungsgericht für die Zukunft eine weiterhin erfolgreiche Tätigkeit wünschen.

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  1. Statt aller: G. Czermak/E. Hilgendorf, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2. A. 2018, S. 91-104; H. Dreier, Staat ohne Gott, 2018, S. 95-139; knapp: https://weltanschauungsrecht.de/religioes-weltanschauliche-neutralitaet. ↩︎
  2. Zur Rekapitulation: https://weltanschauungsrecht.de/privilegien ↩︎
  3. Dazu aber ausführlich mit zahlreichen Beispielen: G. Czermak, Siebzig Jahre Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage, Baden-Baden 2021 (Nomos, Schriften zum Weltanschauungsrecht 2). Zum Buch https://weltanschauungsrecht.de/meldung/czermak-bverfg-weltanschauliche-schieflage ↩︎
  4. C. Frerk, Kirchenrepublik Deutschland – Christlicher Lobbyismus, Aschaffenburg 2015, S. 294 f. ↩︎