WEIMAR. (hpd) Im öffentlichen Bewusstsein ist heute kaum noch bekannt, dass während der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49 die damals bayerische Pfalz einen besonders herausragenden Platz einnahm. Denn gerade in rückständigeren Gebieten wie der Pfalz waren nicht nur Tausende von Menschen aktiv geworden. Nein, gerade hier fanden die linken und entschiedenen Demokraten den größten Anklang. Auch darauf geht das jetzt erschienene “Lesebuch Pfälzer Volksaufstand 1849” von Wilma Ruth Albrecht ein.
Die Autorin hat in diesem Buch zwei unterschiedliche Texte zusammengefaßt. Der erste “…Was des Volkes ist…” geht als historischer Abriss auf Vorgeschichte und Geschichte der Pfälzer Revolution, die Reichsverfassungskampagne und den bewaffneten Aufstand von 1848/49 ein. Seine Aussagekraft zieht dieser Teil aus dem Abdruck, der Reproduktion wichtiger historischer Dokumente.
Gleich im ersten Dokument, dem Flugblatt “Die Forderungen des Volkes in Baden” (beschlossen am 12. September 1847 von einer Tagung süddeutscher Demokraten in Offenburg) heißt es in Art.3: “Wir verlangen Gewissens- und Lehrfreiheit. Die Beziehungen der Menschen gehören seinem innersten Wesen an, und keine äußere Gewalt darf sich anmaßen, sie nach ihrem Gutdünken zu bestimmen. Jedes Glaubensbekenntnis hat daher Anspruch auf gleiche Berechtigung im Staate. Keine Gewalt dränge sich mehr zwischen Lehrer und Lernende. Den Unterricht scheide keine Konfession.” (S. 10) Dazu sollte man wissen, dass damals im Prinzip noch die Regel galt, dass die Konfession des jeweiligen Landesfürsten bestimmend für die Konfession seiner Untertanen sein sollte. Und seinerzeit war das Schulwesen noch voll in den Händen der katholischen bzw. evangelischen Geistlichkeit.
Damals blieben die entschiedenen Demokraten nicht bei formalen politischen Menschen- und Bürgerrechten stehen. Denn in Art.10 ist ganz unmissverständlich formuliert: “Wir verlangen Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital. Die Gesellschaft ist schuldig, die Arbeit zu heben und zu schützen.” (S. 11)
Und in einer Petition an den bayerischen König, angenommen am 4. März 1848 von einer Bürgerversammlung der Pfälzer Deputierten der Ständeversammlung, ist in Art.9 kurz und bündig die Gewährung dieses Rechtes verlangt: “Freiheit des Glaubens und der Lehre.” (S. 14) Landauer Bürger forderten in einer Erklärung u.a. die Aufhebung des diskriminierenden Judendekretes sowie die Aufhebung der konfessionellen Schulen und der getrennten Lehrerausbildung.
Bemerkenswert ist auch, dass die bürgerlichen Demokraten ein wirklich allgemeines Wahlrecht forderten und sich deutlich gegen den Ausschluss Vermögensloser von Wahlen aussprachen.
Übrigens, zu den Pfälzer Abgeordneten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gehörte mit Joseph Martin Reichard ein späterer Freidenker. Die Autorin verweist in ihrer Abhandlung auf den in die Zukunft weisenden Grundrechtskatalog der am 27. Dezember verabschiedeten Reichsverfassung.
Nahezu deckungsgleich mit den Forderungen der bürgerlichen Demokraten waren die “17 Forderungen” der noch jungen Kommunistischen Partei, abgedruckt Anfang April 1848 in der Mannheimer Abendzeitung, so z.B.: “…13. Völlige Trennung der Kirche vom Staate. Die Geistlichen aller Konfessionen werden lediglich von ihrer freiwilligen Gemeinde besoldet.” (S. 132)
In der Pfälzer Volksbewegung für die Reichsverfassung waren neben bürgerlichen Demokraten auch schon erste Kommunisten aktiv. Die Autorin nennt hier den Pfarrer (!) Heinrich Loose und den Uhrmacher Valentin Weber. (S. 36)
Auf die diversen Volksversammlungen und Proklamationen sowie auf die bewaffneten Kämpfe insbesondere mit preußischen Truppen soll hier nicht näher eingegangen werden. Das mag jeder Leser dieses Buches selbst tun.
Erwähnt werden aber soll, dass sich sogar einzelne Angehörige des noch politisch und ökonomischen herrschenden Adels der Volksbewegung angeschlossen hatten. Namentlich erwähnt wird der Offizier Theodor Graf Fugger-Glött, der sich einem Korps der Volkswehr anschloss und der dafür am 11. März 1850 “wegen Staatsverrat” zum Tode verurteilt und erschossen wurde. Auch der Fabrikantensohn Friedrich Engels war in den Reihen der Volkswehr zu finden. Nicht zuletzt sind als aktive Kämpfer noch zwei Frauen zu nennen: Mathilde Hitzfeld und Franziska Anneke. Letztere machte sich später im US-Exil einen Namen als Frauenrechtlerin, revolutionäre Sozialistin, Schulleiterin und Aktivistin gegen die Sklaverei.
Angesichts der Kräfteverhältnisses und des Verrats des Großbürgertums mussten die Revolution und der Pfälzer Volksaufstand von 1848/49 scheitern, dennoch waren sie nicht umsonst. In einem kurzen Ausblick bewertet Wilma Ruth Albrecht in fünf Punkten daher die historische Einordnung der damaligen Pfälzer Volksbewegung. Hervorhebenswert ist da z.B., dass es schon damals darum ging, “eine Verselbständigung der Politiker als politische Klasse zu verhindern.” (S. 72)
Den zweiten Teil dieses Lesebuches bilden neun fiktive Briefe von Margaretha aus der Pfalz an ihre Freundin Jenny, erst Trier, dann im Exil. Diese Texte sind zwischen August 1830 und November 1849 datiert. In den Briefen ist immer wieder die Rede vom Karlchen… Unschwer zu erkennen sein dürfte, dass es sich hierbei um Jenny von Westphalen und ihren späteren Mann Karl Marx handelt. Dieser fiktionale Teil illustriert aus persönlicher Sicht einer Frau diese bewegenden Jahrzehnte. Die Briefschreiberin erscheint als kluge, emanzipierte und gesellschaftlich aktive Frau. Die Autorin dürfte hier indirekt der oben erwähnten Franziska Anneke ein Denkmal gesetzt haben.
Und liegt der Renzensent falsch, wenn der Name der Briefschreiberin, Margaretha, symbolisch gemeint sein könnte? Denn nicht nur, dass neben anderen Dichtern auch Goethe in ihren Briefen immer wieder erwähnt wird, sondern auch die berühmte “Gretchenfrage” klingt an mehreren Stellen sehr deutlich an. So ist im fünften Brief davon die Rede, dass Margaretha gerne einen Kindergarten gründen möchte: “Langfristig (…) wird der Kindergarten in eine öffentliche Volksschule überführt. In ihr sollen die Kinder auch und gerade aus ärmeren Klassen Erdkundeunterricht, naturwissenschaftlichen Unterricht, Zeichenunterricht und musischen Unterricht erhalten. (…) …dem Klerikalismus muß sein Spielzeug entrissen werden, sonst schnappen noch die alten Nilkrokodile zu und verschleppen die Jugend ins Alte Ägypten unter die Priesterherrschaft.” (S. 102/103)
Der nachfolgende Brief geht sehr deutlich auf Marxens Zusammenfassung der Feuerbach’schen Religionskritik ein. Weiter hinten steht dann ein Erlebnisbericht über den von der Autorin inzwischen gegründeten Kindergarten: “Vor zehn Tagen kam nun eine staatliche Kommission, in ihrem Gefolge der katholische Priester und der evangelische Pfarrer. Ihnen sei Unerhörtes über das Treiben im Glashaus zugetragen worden und sie wollten nun untersuchen, ob es auch gut und sittlich zuginge. (…) Die Dunkelmänner vermochten ihren Argwohn nicht verbergen, fragten sie doch zuvor die Kinder nach ihrer Religionsangehörigkeit aus, wollten Gebete und Legenden aufgesagt bekommen und suchten Kreuz und Gesangbücher. (…) ein amtlich gesiegeltes Schreiben, in dem man mich streng auffordert: erstens ein 26 mal 12 Zentimeter großes Kreuz über der Eingangstür anzubringen, zehn Katechismen (fünf katholische und fünf evangelische) anzuschaffen, einmal die Woche den Frühgottesdienst zu besuchen und darauf zu achten, daß die Jungen ihre Mützen und die Mädchen ihre Kopftücher [sic!; SRK] tragen, wenn ich mit ihnen im Städtchen ausgehe. In wenigen Monaten käme die Kommission zur Prüfung wieder. Dann müsse jedes Kind das Vaterunser, einen Psalm und eine Heiligengeschichte aufsagen” können. (S. 107/108)
In den Briefen werden aber auch ganz persönliche Dinge, also die Nöte der politischen Emigranten und ihrer Familien oder die Verfolgungen der Demokraten in den deutschen Fürstenstaaten angesprochen. Die Briefschreiberin muss schließlich selbst emigrieren, kann aber schließlich in der Schweiz eine Volksschule für Mädchen einrichten. Margaretha resümiert: “Wahrscheinlich werden spätere Historiker unsere Revolution bekritteln, kleinschreiben oder ins Lächerliche ziehen, um Volksaktionen zu diskreditieren.” (S. 123)
Diesen Gedanken greift Heiner Jestrabek in seinem vorzüglichen Nachwort “1848/49” – Die Revolution der Freigeister“ auf . Er weist darauf hin, dass in jener Zeit auch die freireligiöse Bewegung (”Frei in der Religion“ – später dann ”Frei von Religion“) entstand und dass ”nahezu alle Persönlichkeiten der frühen Freidenkerbewegung Anhänger oder Kämpfer der Revolution gewesen seien. Er stellt dazu kurz einige Persönlichkeiten vor.
Es sei heute Usus, dass bundesdeutsche Politiker sich gerne auf die Paulskirchenverfassung und deren in die Weimarer Verfassung und das bundesdeutsche Grundgesetz eingegangenen Grundrechte berufen würden. Doch, so Jestrabek, “noch nicht einmal die bürgerlichen Freiheiten und die Glaubens- und Gewissensfreiheit wurden vollständig realisiert.” (S. 135) Er belegt das anhand einiger aussagekräftiger Beispiele und schließt: “Forderungen von 1848/49 endlich umsetzen!”
Auch mit diesem Lesebuch geht es – und das auf gelungene Weise durch die Verbindung von Fakten und Fiktion – um produktives Erinnern: Es genügt nicht, daran zu erinnern, was geschehen ist, es muss vor allem daran erinnert werden, was noch zu tun ist.
Wilma Ruth Albrecht: Pfalz und Pfälzer – Lesebuch zum Pfälzer Volksaufstand 1849. Mit einem Nachwort von Heiner Jestrabek. 140 S. m.Abb. brosch. Edition Spinoza im Verlag Freiheitsbaum. Reutlingen und Heidenheim 2014. 14 Euro. ISBN 978–3–922589–57