"Die säkulare Szene ist erwachsen geworden", heißt es in der aktuellen bruno.-Ausgabe mit Blick auf die 18 Jahre, die zwischen dem Vorschlag zur Gründung eines "Zentralrats der Konfessionsfreien" 2004 und seiner offiziellen Vorstellung im Mai 2022 lagen. Wie das Jahresmagazin der Giordano-Bruno-Stiftung aufzeigt, waren die Voraussetzungen für eine säkulare Politik nie so günstig wie heute – zugleich wird es jedoch immer schwieriger, die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen.
Als sich der Zentralrat der Konfessionsfreien am 19. Mai 2022 im Haus der Bundespressekonferenz vorstellte, musste er nicht bei "Null" anfangen, sondern konnte auf zahlreiche Organisationen und Initiativen zurückgreifen, die seit 2004 im Umfeld der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) entstanden sind. Hierzu zählen unter anderem die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), der Humanistische Pressedienst (hpd) sowie der Zentralrat der Ex-Muslime, der den Kampf gegen die totalitären Auswüchse des Politischen Islam weltweit vorangebracht hat. Allein in den letzten fünf Jahren entstanden unter anderem das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw), das Hans-Albert-Institut (HAI) sowie das Bertha von Suttner-Studienwerk (BvS), das die gbs in Kooperation mit dem HVD, der HAD und der Bundesarbeitsgemeinschaft Humanistischer Studierender gegründet hat, um säkulare Studentinnen und Studenten zu fördern.
Möglich geworden ist all dies nicht zuletzt durch den "langen Weg vom Paulus zum Saulus", den gbs-Gründer Herbert Steffen hinter sich gebracht hat. Im aktuellen bruno. findet sich ein achtseitiges Portrait des Stiftungsgründers, der zunächst Priester werden wollte und erst spät, glücklicherweise nicht zu spät, "gottlos glücklich" wurde. Herbert Steffen hat Jahrzehnte gebraucht, um sich aus der religiösen Umklammerung zu befreien. Auch deshalb sollte die "humanistische Nachwuchsförderung" möglichst frühzeitig ansetzen. Wie dies gelingen könnte, zeigt das ausführliche bruno.-Interview mit der Begabungsforscherin Tanja Gabriele Baudson und dem empirischen Sozialforscher Tobias Wolfram, die mit Nachdruck darauf hinweisen, "dass wir es uns nicht leisten können, Potenziale zu verschenken".
Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs
Die Gießener Ärztin Kristina Hänel hat ihre Potenziale ganz gewiss nicht verschenkt: Ihr Mut und ihre Widerstandsfähigkeit haben dazu geführt, dass der Deutsche Bundestag am 24. Juni 2022 beschloss, Paragraf 219a aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Die gbs und das ifw hatten Kristina Hänel in ihrem aufsehenerregenden Prozess durch die Instanzen begleitet. Wie der Artikel "Die Würde der Frau ist antastbar…" im aktuellen bruno. verdeutlicht, ging es der Stiftung dabei nicht nur um die Streichung des umstrittenen Paragrafen 219a, der es Ärztinnen und Ärzten verboten hatte, Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zu veröffentlichen, sondern grundsätzlich um die Entkriminalisierung und Enttabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland.
Ist dieses Ziel realistisch? Ja, allerdings nur dann, wenn die maßgeblichen Politikerinnen und Politiker zu der Einsicht gelangen, dass die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch aus den Jahren 1975 und 1993 ähnlich verfassungswidrig waren wie das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1957, mit dem das höchste deutsche Gericht einst die Schwulenverfolgung in Deutschland legitimiert hatte – ein Punkt, den gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon bereits in seiner Stellungnahme "Schwangerschaftsabbruch im liberalen Rechtsstaat" herausgearbeitet hatte.
Das säkulare Jahrzehnt
Selbstverständlich tritt auch der Zentralrat der Konfessionsfreien für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ein. Der Schwerpunktartikel des aktuellen bruno. stellt die politische Agenda des Zentralrats vor, der von gbs-Beirat und Bestseller-Autor Philipp Möller geleitet wird. Dabei entkräftet der Text die Argumente, die gegen die neue "Lobbyorganisation der Konfessionsfreien" seit der ersten Pressekonferenz im Mai 2022 erhoben wurden. So ist es beispielsweise unwahr, dass "die" Konfessionsfreien zu heterogen für eine politische Vertretung seien. Wie die empirischen Daten belegen, ist die Gruppe der Konfessionsfreien in zentralen Fragen der Ethik und der Weltanschauung sogar deutlich homogener als etwa die Gruppe der katholischen oder der evangelischen Kirchenmitglieder.
Im bruno.-Magazin heißt es dazu: "Die Konfessionsfreien sind eine Gruppe an sich, aber noch keine Gruppe für sich. Sie weisen zwar alle Merkmale einer gesellschaftlich relevanten Gruppe auf, verfügen aber noch nicht über das Bewusstsein, eine gesellschaftlich relevante Gruppe zu sein." Mithilfe des Zentralrats könnte sich dieses Bewusstsein entwickeln. Insofern stehen nach Ansicht der bruno.-Redaktion die Zeichen nicht schlecht, dass die ambitionierten Ziele des "säkularen Jahrzehnts" verwirklicht werden können. Dies verdeutlicht auch das Zitat, das der aktuellen bruno.-Ausgabe vorangestellt ist: "Politische Mehrheiten werden sich nicht mehr gegen, sondern nur noch mit der rasant wachsenden Gruppe der Konfessionsfreien erzielen lassen."
Die autoritäre Bedrohung
Allerdings steht dem Projekt des säkularen Jahrzehnts ein mächtiger Feind entgegen: die "Internationale der Nationalisten", die reaktionäre religiöse Werte mit nationalem Chauvinismus zu einem brandgefährlichen Mix verbindet. Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine hat gezeigt, welche Katastrophen religiös-nationalistische Ideologien auslösen können. Tatsächlich sind identitäre Denkmuster weltweit auf dem Vormarsch – selbst bei denjenigen, die sich gegen die "Internationale der Nationalisten" engagieren. Der bruno.-Artikel "Die autoritäre Bedrohung" analysiert die Hintergründe dieser gefährlichen Entwicklung und verdeutlicht, welche Haltung erforderlich wäre, um die offene Gesellschaft gegen ihre wiedererstarkten Feinde zu verteidigen. (Die gbs und der hpd haben diesen Text nach dem Wahlsieg der italienischen Mussolini-Verehrerin Giorgia Meloni am 25. September vorab veröffentlicht).
Glücklicherweise müssen die Verteidiger der offenen Gesellschaft in Deutschland (noch?) nicht den Mut aufbringen, den Raif Badawi aufbringen musste, als er in Saudi-Arabien "gleiche Rechte für alle" einforderte. Nach zehn Jahren Haft wurde Raif zwar im März 2022 aus dem Gefängnis entlassen, darf aber sein Heimatland noch immer nicht verlassen. Wie der bruno.-Artikel "#LetRaifFly" darlegt, setzt sich die gbs weiterhin entschieden für den "bekanntesten politischen Gefangenen der arabischen Welt" ein, der 2016 gemeinsam mit seiner Frau Ensaf Haidar den "Deschner-Preis" der Stiftung erhalten hat.
Menschen, die etwas bewegen
Wie in den vorangegangenen Heften findet man auch im aktuellen bruno. Kurzportraits von Personen, die sich im Umfeld der gbs für die offene Gesellschaft engagieren. Und selbstverständlich gibt es auch wieder eine ausführliche Darstellung der wichtigsten Ereignisse des Vorjahres (etwa die spektakulären Aktionen zum kirchlichen Missbrauchsskandal, die weltweit für Schlagzeilen sorgten) sowie eine detaillierte Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben der Stiftung. Wie gewohnt endet das Heft mit einer Karikatur, welche die Inhalte der Ausgabe satirisch kommentiert (dieses Mal stammt sie von Piero Masztalerz, der die Unkultur sprachlicher Überempfindlichkeiten auf die Schippe nimmt).
Das 84-seitige Jahresmagazin der gbs, das abermals nach den Richtlinien des "Cradle to Cradle"-Konzepts produziert wurde, erscheint in einer gedruckten Auflage von 10.000 Exemplaren, kann aber zusätzlich als pdf-Dokument heruntergeladen werden. Die bruno.-Ausgaben der vorangegangenen Jahre sind weiterhin auf der gbs-Website verfügbar.
Erstveröffentlichung auf der Website der gbs.