HALLE/Sa. Eine Schule in Halle – die Volkshochschule im Süden von Halle – trägt wieder den Namen
„Adolf Reichwein“, eines Opfers des Nationalsozialismus, der als Bildungspolitiker für das weltliche Schulwesen gekämpft hatte. „Wieder“ bezieht sich darauf, dass eine Schule gleichen Namens in Halle kürzlich geschlossen worden und der Name aus dem öffentlichen Erinnern getilgt war.
Die Tagung am vergangen Sonnabend, dem 9. Juni 2007, fand also an einem wichtigen Ort für humanistische Traditionspflege statt. Das Kolloquium stand unter dem Thema „Humanismus heute – Konfessionsfreiheit, Religionsabstinenz und Wertedebatte“. Der Veranstalter, der sich sehr für die Namensgebung eingesetzt hatte, war der „Humanistische Regionalverband Halle-Saalkreis“ (der zum Verbund der „Humanisten Sachsen-Anhalt“ gehört) in Kooperation mit dem „Bildungsverein Elbe-Saale“ und (eher logistisch beteiligt) die „Humanistische Akademie Deutschland“.
Eröffnet wurde das Kolloquium mit einem Grußwort des Bildungsdezernenten der Stadt Halle, Dr. Hans-Jochen Marquardt, der die Anliegen des Humanistischen Verbandes im Sinne eines modernen Humanismus in der Gesellschaft wirksam zu werden, würdigte und der Tagung vollen Erfolg wünschte. Auch die Gastgeberin der Veranstaltung, Frau Sabine Stelzner, amtierende Direktorin der Volkshochschule, wünschte der Veranstaltung einen erfolgreichen Verlauf.
Wenige Tage zuvor, am 5. Juni, war in der Volkshochschule erstmals außerhalb Berlins die Wanderausstellung des HVD – Landesverbandes Berlin „Humanismus – Geschichte und Gegenwart. Der lange Weg zu Toleranz und Gleichberechtigung“ eröffnet worden. Gastredner war der Berliner Landesvorsitzende des HVD, Dr. Bruno Osuch. Ein Grußwort überbrachte die Landtagsabgeordnete der PDS und Vorsitzende des Bildungsvereins Elbe-Saale, Dr. Angelika Klein. Der Abgeordnete des Landtags von Sachsen-Anhalt, Uwe Heft, überreichte eine Spende zur Förderung der Kinder- und Jugendarbeit des „Humanistischen Regionalverbandes Halle-Saalkreis“ im offenen Kinder- und Jugendtreff seines Bürgerhauses „alternativE“.
Den ersten Vortrag auf dem Kolloquium am Samstag hielt der Bundesvorsitzende des HVD und Direktor der Humanistischen Akademie Deutschland, Dr. Horst Groschopp (Berlin). Das Thema seines Vortrags lautete: „Woher wissen wir, was moderner Humanismus ist?“ Es ging vor allem um eine genauere soziologische Bestimmung des „Wir“.
Bezug nehmend auf das bereits von Wolfgang Eichhorn Mitte der 1960er in der DDR gestellte Problem, ob eine „wissenschaftliche Ethik“ möglich sei, wurde die Frage abgeleitet, ob der Humanismus als bekennende Geisteshaltung und „soziale Konfession“ wissenschaftlich begründbar sei. Das wurde letztlich verneint. Aber als wesentlich für einen weltlichen Humanismus wurde die Beschäftigung mit den Wissenschaften genannt und die Selbstbestimmung der Würde des Menschen, eingeschlossen den fehlenden Gottesbezug, und die Gleichheit sowie Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihren Leistungen, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihren weltanschaulichen Bekenntnissen angesehen.
Das warf die Frage nach dem Wesen anderer Humanismen auf, z.B. dem „christlichen“, dem „dritten“, dem „evolutionären“, dem „realen“ und anderen.
Die Vorläufer der modernen humanistischen Bewegung, z.B. die Freidenker proletarische Richtung, verbanden ihre weltanschaulichen Positionen eher mit dem Sozialismus als mit dem Humanismus. Den damaligen bürgerlichen Humanisten wurde aus den Reihen der organisierten Arbeiterbewegung (z.B. August Bebel) sogar „Humanitätsduselei“ vorgeworfen.
Der Redner ging dann auf neuere Forschungen von Hubert Cancik zur römischen Bestimmung von „humanitas“ ein, um begründet zu fordern, dass ein moderner Humanismus die „soziale Frage“ (die Problematik Armut und Reichtum) nicht ausklammern dürfe.
Dr. Carsten Frerk (Hamburg), Leiter der Forschungsgruppe „Weltanschauungen in Deutschland“ (fowid) , erläuterte in seinem Vortrag empirische Befunde zu Religiosität und Wertorientierungen bei Jugendlichen und in der Bevölkerung überhaupt. Wenn man davon ausgehe, dass für Religiosität in den christlichen Konfessionen der Glaube an einen persönlichen Gott konstitutiv ist, lässt sich im Ergebnis der dargestellten Untersuchungen feststellen, dass ein beträchtlicher Teil der Kirchenmitglieder bereits Atheisten sind, weil sie die wesentlichen christlichen Dogmen nicht teilen. Sie sind nur noch Kirchenmitglieder, weil sie irgendwann einmal getauft wurden, ohne religiös erzogen worden zu sein, oder aus Nützlichkeitserwägungen heraus (es ist besser dabei zu sein).
In der Diskussion wurde auch darauf verwiesen, dass die verminderte Religiosität in Deutschland nicht in Korrelation mit dem realen politisch gewollten Einfluss der Kirchen steht, wie er seit „Konstantin dem Großen“ (in der Diskussion: dem „Groben“) in Europa festgeschrieben wurde.
Von den Konfessionsfreien ist jedoch nur ein Teil potenziell für einen organisierten weltlichen Humanismus zu gewinnen, weil ihre Bedürfnisse und Interessen frei von festen weltanschaulichen und ethischen Bindungen sind, bzw. weil ihnen diese in dieser Hinsicht gleichgültig sind, aus welchen Gründen auch immer. Dieser Teil der Konfessionsfreien ist daher nicht nur für die Kirchen verloren, sondern bisher auch für die Humanisten. Dennoch stimmen viele humanistische und ethische Wertvorstellungen eines großen Teils von Konfessionsfreien mit denen der organisierten Humanisten überein (Allensbach-Studie).
Dr. habil. Viola Schubert-Lehnhardt (Halle), Vizepräsidentin der „Humanistischen Akademie Deutschland“, Bildungsverein Elbe-Saale, referierte zum Thema: „Humanistische Werte in bioethischen Debatten“.
In einem ersten Punkt behandelte sie das Problem der Begründung von Werten. Ihrer Erfahrung nach spielen religiöse und weltanschauliche Letztbegründungen in den bioethischen Debatten eine eher geringe Rolle, sondern mehr politische und monetarische Begründungen für Entscheidungen, z.B. zum Thema der Stammzellen-Forschungen und der Organspende. Sie verwies darauf, dass in der Praxis die Entscheidung, ab welchem Zeitpunkt ein Embryo als Mensch anzusehen und dessen Leben zu schützen ist, eine Frage gesellschaftlicher Übereinkunft ist, wenn man von fundamentalistischen Positionen absieht.
Verwunderung rief die Information hervor, dass bei Blutspenden homosexuelle Männer prinzipiell wegen des Verdachts auf Aids ausgeschlossen werden. Dieser Generalverdacht sei nicht nachzuvollziehen. In entsprechenden Fragebögen wird jedoch offiziell nach sexuellen Praktiken gefragt.
Gita Neumann (Berlin), Referentin für Lebenshilfe beim HVD Berlin, sprach zum Thema „ Mystik, nichtreligiöse Spiritualität und Lebensberatung – stärkste Bedrohung für Kirche und Klerus damals wie heute?“ Sie versuchte unter Bezugnahme auf Ernst Tugendhat und den ARD-Film „Glauben ohne Gott“ den Begriff der Spiritualität aus seinem religiösen, esoterischen und transzendentalen Zusammenhang zu lösen und ihm einen Platz im emanzipatorischen, von Dogmen aller Art freien Denkens zu sichern.
Abschließend sprach Prof. Dr. Frieder Otto Wolf (FU Berlin), Präsident der „Humanistischen Akademie Deutschland“ zum Thema „Frieden als Wert“. Traditionelle Wertorientierungen seien in der Geschichte des Kapitalismus durch die Wertorientierung auf Geld aufgelöst worden. Zu unterscheiden sei zwischen der Gültigkeit und der Geltung von Werten, d.h. ihrer Befolgung. Wie können vernünftige Werte auch Geltung erlangen?
Ein weiteres gesellschaftliches Problem sei das Verhältnis von Konflikten, die unvermeidlich sind, und Konsens, der für das friedliche Miteinander von Menschen und Staaten notwendig ist. Darf unter diesem Gesichtspunkt Frieden erzwungen werden oder verhindert die mit der Anwendung von Gewalt verbundene Verschärfung der Macht gerade den Konsens.
Welche Gewaltanwendung ist legitim? Dieser Frage ging der Redner unter dem aktuellen Aspekt der Ereignisse während des G8-Gipfels genauer nach, um dann zu der Frage zu kommen, unter welchen Voraussetzungen kann von Religionen oder Weltanschauungen Gewalt ausgehen? Der Referent betonte, dass dies davon abhänge, ob von ihnen ein Absolutheitsanspruch erhoben wird. Einen Wahrheitsanspruch zu erheben sei hingegen legitimes Recht jeder Religion und Weltanschauung, was die Anerkennung der Wahrheitsansprüche der anderen aber einschließe. Die Behauptung der eigenen Anschauung als allein gültig oder wahr, berge daher potenziell die Gefahr der Gewaltanwendung gegen Andersdenkende. Der Anspruch auf die eine wissenschaftliche oder gar einzige wissenschaftliche Weltanschauung oder eine wahre Religion ist daher abzulehnen.
Hier wurde auf die Ringparabel Lessings Bezug genommen, die so gelesen werden solle, dass es den einen wahren Ring nicht gebe, sondern alle wahr sind bzw. einen Kern Wahrheit enthalten. Wer das „Palaver der Menschheit“ tatsächlich wolle, der einzige Weg zum Frieden (wobei der Redner hier auf den Kant'schen Text von 1795 „Zum ewigen Frieden“ einging und zur Erklärung seiner Position heranzog), müsse mit allen nicht-rechthaberisch reden lernen, die ebenfalls bereit zum Reden sind.
Werner Lange