Der Verfassungsschutz ist dafür da, die Demokratie zu schützen. Doch er verhält sich in seiner Überwachungspraxis auch demokratieschädigend, sagt Ronen Steinke. In seinem neuen Buch fordert eine neue über Debatte über die Legitimität des deutschen Verfassungsschutzes.
Es ist die Zeit für Populisten: Die üblichen Verdächtigen aus der CSU- und AfD-Politik-Riege nennen Klima-Aktivisten jetzt Klima-Terroristen, auch für Hardliner in Polizei- und Ordnungsbehörden gelten sie nicht wegen ihrer Protestmethoden, sondern wegen politischer (relativ gemäßigter) Forderungen mittlerweile als "Verfassungsfeinde". Das ruft den Verfassungsschutz auf den Plan.
Der deutsche Verfassungsschutz ist etwas sehr Besonderes. Einen solchen Geheimdienst haben andere westliche Demokratien nicht. Es ist ein Geheimdienst, der im Inland späht. Er richtet sich nicht gegen Kriminelle, sondern gegen Personen und Gruppen, die als politisch verwerflich erklärt werden. Er spioniert Bürgerinnen und Bürger aus, die keine Gesetze verletzen, sondern ihre demokratischen Rechte wahrnehmen. Dabei hat der Verfassungsschutz enorm große Freiheiten, enorm große Macht.
Das kritisiert Ronen Steinke, in Berlin lebender Journalist und Autor, der vor allem für die Süddeutsche Zeitung recherchiert und schreibt. In seinem neuen Buch geht er der Frage nach, ob dieser Geheimdienst die Demokratie schützt oder eher schadet. Seit Jahren recherchiert er im Milieu der Inlandsspione, hat Spionagechefs interviewt und Agenten bei der Arbeit begleitet. Auf über 200 Seiten beschreibt er Aspekte wie behördliche NS-Kontinuitäten des Verfassungsschutzes, erinnert an die Zeit des "Radikalenerlasses", schildert das flächendeckende Versagen bei der Aufklärung der NSU-Morde bis hin zur digitalen Quellen-Überwachung und der Präsenz des "Dienstes" aktuell in den Sozialen Medien. Lesbar und spannend zeigt er, wie der Verfassungsschutz operiert, seine V-Leute vorgehen.
Der Inlandsgeheimdienst, so Steinke, der in Deutschland mit 8.000 Agentinnen und Agenten unterwegs sei, überwache im Land nicht nur Extremisten, die unsere Verfassung gefährden und bekämpfen, sondern auch Menschen, die sich legal politisch engagieren, etwa aus der Klima-Protest-Bewegung. Damit agiere der Verfassungsschutz gegen Gruppen, die auf legalem Wege ihre Meinung sagten, kritisiert Steinke. Er lege über diese Menschen Akten an, drohe und schüchtere sie ein.
Steinke geht es nicht darum, politisch Partei zu ergreifen für die von den Behörden ins Visier genommenen Gruppen. Als Verteidiger eines liberalen Rechtsstaates stört er sich vor allem daran, wie stark mitunter an Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerüttelt wird sowie linke und rechte Gruppierungen mit Doppelstandards beurteilt werden. Er kritisiert die deutschen Verfassungsschutzämter als "Politik-Beobachtungs-Geheimdienst" – mit einer offensichtlichen Einäugigkeit: die Horch- und Blickposten waren traditionell eher schwach nach rechts gerichtet. Der Feind stand links!
Dem Mann, der als Verfassungsschutz-Präsident über die freiheitliche Grundordnung des Landes zu wachen beauftragt war, widmet Steinke ein ganzes Kapitel: Hans-Georg Maaßen. Sechs Jahre, bis 2018, war er der oberste Verfassungsschützer – und geriet immer häufiger in die öffentliche Kritik. Maaßen, CDU-Mitglied, fiel durch populistisches Geraune zur Merkel'schen Migrationspolitik auf, bagatellisierte die Hetzjagden von Chemnitz, wo Rechtsradikale Menschen verfolgten und verprügelten, die sie für Ausländer hielten. Und Maaßen versuchte wiederholt, eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz zu stoppen. Im Herbst 2018 beendete Maaßen seine Beamtenkarriere, um in die Politik zu gehen. Bei der Bundestagswahl 2021 trat er in Thüringen erfolglos als Direktkandidat für die CDU an. Danach sorgte er immer wieder mit rechtslastigen und antisemitischen Äußerungen für Empörung in der eigenen Partei und der Öffentlichkeit. Der CDU-Bundesvorstand wollte ihn loswerden und beschloss im Februar deshalb ein Parteiausschlussverfahren gegen Maaßen. Ein Kreisparteigericht aber lehnte dieser Tage den Antrag der Bundespartei ab, ihn aus der Partei auszuschließen. Die Tatsache, dass ein Mann wie Maaßen der oberste Verfassungsschützer des Landes sein konnte, ist beinahe beängstigend. Die Causa Maaßen macht deutlich: Demokratie gerät auch von Innen in Schieflage.
Ronen Steinke ist eine informative und irritierende Innenansicht einer Institution gelungen, die vor allem eines zeigt: eine Debatte über den Geheimdienst ist überfällig.
Ronen Steinke, Verfassungschutz – Wie der Geheimdienst Politik macht, Berlin Verlag, 220 Seiten, 24 Euro