Diesseits im Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma, Philologe, Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Professor
für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg.
Im August 2005 erschien in der deutschen Ausgabe der Zeitschrift „Le Monde diplomatique" ein gekürzt abgedruckter Vortrag von Jan Philipp Reemtsma unter dem Titel „Muss man Religiosität respektieren". In einem Verband wie dem unseren ist dies naturgemäß eine stets diskutierte Frage. Mit unterschiedlichen Antworten: „Alt"Mitglieder, die schon in einer der Vorgängerorganisationen wie dem Freidenkerverband organisiert waren, sind bei der Antwort oftmals viel unversöhnlicher. Oft aus eigenen leidvollen Erfahrungen. Professor Reemtsma folgte einer Einladung der diesseits-Redaktion, um seine Position noch einmal genauer darzulegen.
DIESSEITS: Vor wenigen Tagen hat der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk auf der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. In seiner Dankesrede sprach er über die europäischen Romane seiner Jugendzeit, in denen Europa nicht über das Christentum definiert werde, sondern über den Individualismus. Können Sie dem zustimmen?
JAN PHILIPP REEMTSMA: Das gilt speziell für die Form des Romans. Ich habe den Roman mal das Trainingscamp der Individualität genannt. Er stellt den Menschen in seinem biographischen Selbstentwurf dar. Das beginnt bereits mit dem „Don Quijote", wo das mittelalterliche Motiv der Abenteuerfahrt des Ritters parodistisch gebrochen und diese Brechung dazu benutzt wird, eine moderne Individualitätsfindung darzustellen. Ein solcher Prozess der Individualisierung in einer Gesellschaft steht fast immer im Zentrum aller Romane, vom „Meister" bis zur „Madame Bovary". Das war also eine völlig stimmige, auch literaturwissenschaftlich richtige Kennzeichnung.
Auch wenn es heute fast peinlich ist, in der Öffentlichkeit jemanden nach seinem Glauben zu fragen, wir fragen Sie trotzdem: Sind Sie Atheist, Agnostiker, Humanist?
Ich würde jetzt gern mit Arno Schmidt antworten: „Atheist? Allerdings!" Wenn man den Begriff aber sehr genau und wörtlich nimmt und als Atheist jemanden bezeichnet, der den Beweis antreten will, dass es keinen Gott geben kann, dann müsste ich mich redlicherweise einen Agnostiker nennen. Am wohlsten fühle ich mich bei der Anekdote von Bertrand Russell. Ein besorgter Student fragte ihn, was er, der notorische Atheist, denn sagen würde, wenn er dereinst wider Erwarten vor Gott stünde. Die Antwort: „You should have given us more evidence."
Entspricht diese Sicht Ihrer familiären Tradition?
Ich komme aus einem calvinistischen, wenn auch nicht wirklich frommen Elternhaus. Ich bin sehr früh, mit 12 Jahren, calvinistisch konfirmiert worden. Das war für mich die erste intellektuelle Herausforderung, weil der calvinistische Heidelberger Katechismus sehr viel anspruchsvoller ist als der Martin Luthers. Das ist dann jedoch alles sehr schnell zerbröckelt, unter anderem durch die Auseinandersetzung mit den Schriften Bertrand Russells. Und ich habe festgestellt, dass sich ein religiöses Bedürfnis im Laufe meines Lebens, auch in Krisensituationen, nicht wieder eingestellt hat.
Wir hatten Sie ja eingeladen, weil wir Ihren Artikel in der Zeitschrift „Le Monde diplomatique" bemerkenswert fanden. Sie plädieren darin für Respekt vor dem religiösen Menschen, nicht aber für Respekt vor seinem Glauben. Wie war das Echo darauf?
Ich habe wenig Reaktionen darauf bekommen, ausgenommen eine massive Kritik von Robert Spaemann. Er hat eine Rezension des neuen Buches von Habermas dazu verwendet, um mich als Beispiel für einen neuen aggressiven Laizismus hinzustellen. Er entstellt meine Argumentation dabei auf groteske Weise. Er unterstellt mir die Behauptung, Religiösen könne man im säkularen Staat nur im Modus des Waffenstillstandes begegnen. Tatsächlich habe ich gesagt, dass Leute, die so fundamentalistisch denken wie der ehemalige und auch der heutige Papst, mit der säkularen Gesellschaft qua Selbstauskunft nur im Modus des Waffenstillstandes leben, also genau das Gegenteil. Ich respektiere Religiosität über den Respekt meines Mitbürgers, dessen private Lebensentwürfe ich respektiere. Was ich nicht respektieren muss, ist der Inhalt seines Glaubens, indem ich ihn für etwas Besonderes oder Höherwertiges halte.
Wo lässt sich eine Grenze ziehen zwischen dem, was Sie respektieren können und dem, was sie in Ihrem Text als Unfug bezeichnen?
Unfug definiere ich in diesem Falle subjektiv. Es kann ja nicht erwartet werden, dass ich vor allem Respekt habe, was irgendwie durch den Kopf eines Menschen geistert. Das tut doch wohl niemand. Sehr wohl habe ich den Respekt dem Menschen gegenüber, ich lasse ihn denken, was immer er will. Ob ich dann auch sein Handeln respektieren kann und will, steht auf einem anderen Blatt. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel, aus eigenem Erleben. Jemand kam auf einer Tagung zu spät, er sollte einen Vortrag halten. Er kam deswegen zu spät, weil er sich daran gebunden fühlte, den Sabbat einzuhalten. So wollte er nicht persönlich Auto fahren. Er hätte ein Taxi nehmen können, er wollte aber auch nicht, dass der Taxifahrer diese Regel verletzt, obwohl sie für ihn nicht gilt. Darüber will ich nicht richten, wie weit jemand seine Überzeugungskreise zieht, dann müsste ich mich in einen innerreligiösen Dialog einschalten. Aber was ich von ihm erwarten kann ist, dass er rechtzeitig losgeht. Nun gab es unter den Zuhörern, die auf ihn warteten, solche, die mit einer gewissen Emphase bewunderten, wie jemand wie er zu seinen Überzeugungen steht. Überzeugung hin oder her, aber der Mann hat sich einfach schlecht benommen.
Da machen sie bei Ihrer Einschätzung also vor keinem Glauben halt?
Selbstverständlich nicht.
Religion soll Privatsache sein, ist das in unserer Gesellschaft tatsächlich so?
Das ist die Geschäftsgrundlage des säkularen Staates. Allerdings, wer tief religiös ist, wird das als irgendwie defizitär erleben. Der neue Papst hat mehrfach deutlich gesagt, die Reduktion der Religion auf die Dimension einer privaten Überzeugung sei ein Angriff auf die Religion. Man müsse anerkennen, dass die Kirche als eine gesellschaftsformende Kraft auftritt, und auch der säkulare Staat müsse die Kirche als wesentliche Sinnressource wollen. Ich meine aber, dass dieser Anspruch - ohne uns seid ihr nichts - die Geschäftsgrundlage des säkularen Staates verlässt. Allerdings lasse ich eine solche Ansicht als private Meinung selbstverständlich gelten. Ich weiß nur, woran ich bei einem Vertreter dieser Meinung bin.
Der säkulare Staat braucht Religion nicht um Sinndefizite zu erklären. Aber selbst Philosophen wie Habermas betonen doch immer wieder den Nutzen des sozialen Engagements von Religiösen auch für den säkularen Staat.
Man muss hier vielleicht unterscheiden zwischen dem tatsächlichen Faktum, dass es in sozialen Einrichtungen sowohl der katholischen als auch der evangelischen Kirche ausgesprochen engagierte Menschen gibt, denen ich hohen Respekt zolle und mit denen ich gerne zusammenarbeite, lieber zusammenarbeite, als mit irgendwelchen Bürokraten von Sozialämtern, die sich dort nur zufällig zusammenfinden, weil es ihr Job ist. Ich arbeite in Hamburg zusammen mit dem Diakonischen Werk, ich trage dort zur Finanzierung einer Schuldnerberatung bei. Dort sitzen hochkompetente und engagierte Leute. Es ist klar, dass sie ihr Engagement aus ihrer Religiosität schöpfen. Das heißt nun nicht, dass die Ressourcen für ein solches Engagement nur aus Religion bezogen werden können, die können genauso aus individueller Moral herrühren. Es folgt also nicht, wenn es die Religion nicht mehr gäbe, dann gäbe es solche engagierten Leute nicht mehr. Meine These ist: Wenn diese Menschen aus irgendwelchen Gründen aus den religiösen Zusammenhängen herausfallen, dann suchen sie sich ihre Begründungen woanders her.
Was man auch bei erklärten Humanisten wie unseren Mitgliedern ab und zu erlebt ist, dass das Fehlen eines Trostes beklagt wird. Andere Aspekte der Religiosität wie Sinnsuche oder Gemeinschaftsleben kann man anders für sich lösen, doch in Krisenzeiten fehlt etwas. Oder sehen Sie irgendwo einen Ersatz?
Ich weiß nicht - wenn man gelernt hat, ohne Tröstungen zu leben, vergeht auch das Bedürfnis danach. Wer diese Bedürfnisse aber hat, der braucht Religion, denn nur dort können solche Gefühle einer, sagen wir: transzendentalen Geborgenheit geweckt werden. Aber auch in der transzendentalen Obdachlosigkeit (so hat Lukács mal das moderne Lebensgefühl genannt) lässt sich leben. Mit einem gewissen Stolz, dass man erwachsen geworden ist.
Woraus erwächst dieser?
Die Seele des Menschen ist ein komplexes Gebilde. Wir alle haben einen Teil magischen Denkens, davon kommen wir nie weg, jeder ist ein bisschen abergläubisch. Dieser Teil magischen Denkens in uns wird von den Religionen mit bedient. Wendet man sich von Religion ab, dann muss man lernen auch ohne diesen Bereich zu leben, und man pflegt den magiegläubigen Teil der Seele durch kleine Alltagsrituale. In einem Interview sagte der Fernsehpfarrer Fliege: „Irgendwann steht jeder vor dem Tod. Dann haben wir die Antwort, die anderen haben sie nicht." Hat er recht, aber das heißt nicht, dass jemand, der nicht religiös ist, in Verzweifelung sterben muss. Und Religiöse sterben auch in Verzweiflung. Der notorische Atheist David Hume ist, trotz schwerer Krebserkrankung, ungeheuer heiter gestorben.
Wenn ich von „Stolz" rede, so tue ich das vor dem Hintergrund der Geschichte der Herausbildung des säkularen Staates. Auf dieses Resultat ungeheurer Anstrengungen kann man mit Recht stolz sein - es hat viele gegeben, die große Schwierigkeiten auf sich genommen haben, um dazu beizutragen, das Weltdeutungsmonopol der Kirchen zu beenden.
Ich will ihnen ein Beispiel nennen, das hat mit Religion nichts zu tun, sondern betrifft den Stolz in politischer Dimension. Im Rahmen der Hamburger Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht hielt ich einen Vortrag, da marschierte die NPD mit 30 Mann und Transparenten in den Saal, und es gab erst mal ein paar Sprechchöre. Ich habe den Vortrag gehalten, ich habe mit den Leuten, denen es nicht um die Diskussion, sondern um Provokation und Einschüchterung ging, auch diskutiert. Es war ein öffentlicher Vortrag, eine öffentliche Diskussion. Für diese Form von Öffentlichkeit stehen wir, und die anderen bekämpfen sie.
Es gibt Situationen in denen hilft auch Stolz nicht unbedingt weiter. Stichwort: Militärseelsorge - wenn es Militärpfarrer gibt, soll es dann auch humanistische Berater geben?
Wer dieses Angebot möchte, der soll es auch bekommen dürfen, selbstverständlich. Wobei ich Menschen, die mit Soldaten arbeiten, ob religiösen oder nicht-religiösen, immer davor warne, die Probleme zu unterschätzen, die da auf sie zukommen. Diese Berater müssen sowohl eine sehr hohe menschliche als auch psychologische Kompetenz haben, sie müssen wissen, wie reagiert ein Nervensystem auf extremen Stress.
Im Hinblick auf Gleichbehandlung haben wir natürlich weitere Wünsche. Auf Gedenkveranstaltungen kommt unsereins ja nicht vor. Der Bundespräsident segnet das deutsche Vaterland, es gibt viele Beispiele, wo die Geschäftsordnung nicht eingehalten wird.
Ich bin ja auch nicht der Meinung dass die Trennung von Staat und Kirche hier in der Bundesrepublik so vollzogen ist, wie sie vollzogen sein sollte. Kirchensteuer, Präambelgott - wie gut, dass er aus der europäischen Verfassung draußen ist. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, die Situation in Europa mit den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges ist natürlich eine besondere. In den USA haben wir diese Trennung von Staat und Kirche, aber wir haben dort ein Land, wo es nicht möglich wäre, dass ein Atheist Präsident wird. Diese Gesellschaft begann ja mit vielen fundamentalistischen Auswanderern, die aus einem intoleranten Europa flohen, aber natürlich selber fanatisch religiös waren, und die in ein riesengroßes Land kamen, wo sich jeder ein Fleckchen suchte konnte, auf dem er in aller Ruhe isoliert von anderen fanatisch sein konnte. Da ist mir ein Modell schon lieber, wo es vielleicht nicht ganz so sauber getrennt ist, aber die Mechanismen des säkularen Staates die religiösen Energien sozusagen kleinarbeiten. So habe ich auch nichts gegen die theologischen Lehrstühle. Ich finde es gar nicht so falsch, wenn da eine Universitätsleitung ein Auge drauf hat.
Wenn man es strikt an den Maximen messen würde, müsste schon einiges besser sortiert werden, aber so schlecht läuft es ja nicht.
Ist der Humanistische Verband in Ihren Augen eine konfessionelle Organisation?
Er entspricht ja nicht meiner Definition von Religiosität. Ihnen ist die diesseitige Welt ja genug. Es kommt allerdings darauf an, wie aufgeregt Sie Ihre Geschäfte betreiben, ob man Sie dann als quasi konfessionell bezeichnen müsste. Wenn es Ihnen zum Beispiel reicht, dass ein Minister die Wahl hat, die religiösen Eidesformel zu sprechen oder das „so wahr mir Gott helfe" wegzulassen, ist alles in Ordnung. Wenn Sie aber darauf bestehen, eine eigene neue Eidesformel zu erfinden, dann würde ich sagen, das lasst mal lieber sein.
Soweit hatten wir selbst noch gar nicht gedacht. Doch jetzt ist die Idee in der Welt... Was die Säkularen derzeit tatsächlich umtreibt ist die Frage, ob ein „Zentralrat der Konfessionslosen" das geeignete Gremium wäre, um in der Gesellschaft besser wahrgenommen zu werden.
Ich sehe als die großen Kräfte des Säkularen nicht solche Verbände, die großen Kräfte sind Wissenschaft, Kunst und Literatur, nicht zuletzt auch Wohlstand, das heißt die Konsumgesellschaft, und schließlich die Möglichkeit Sinnressourcen zu beziehen, woher immer man sie herbekommen möchte. Wir müssen nicht mehr die Attitüde des militant Säkularen pflegen (auch wenn mich Spaemann für einen hält, der das tut). Früher war das anders. In der Vergangenheit hat man auch in unserer Kultur schwere Nachteile hinnehmen müssen, um zur säkularen Gesellschaft beizutragen, sich dazu zu bekennen. Blicken wir ruhig mit einer großen Hochachtung auf Menschen, die das auf sich genommen haben, wie im Übrigen auch heute in nicht-säkularen Gesellschaften immer noch Menschen deswegen in ihrer Existenz bedroht sind. Für die sollte man sich auch vorbehaltlos einsetzen, und da ist dann durchaus eine gewisse aggressive Deutlichkeit am Platze. Ich glaube nur, man kann diese Verve aus dem 18. Jahrhundert nicht in 21. Jahrhundert retten - nicht in unserer Gesellschaft. Das kommt mir ein bisschen angestaubt vor. Und mir persönlich wäre es sehr fremd einem Verein beizutreten, in dem ich dann über diese Fragen diskutiere.
Und doch verwenden Sie in Ihrem Text immer wieder die Begriffe „wir" und „uns", die auf den ersten Blick auf eine Organisiertheit schließen lassen.
Das hat einen anderen Hintergrund. Ich habe schon so oft Post bekommen von Christen oder christlichen Zeitschriften, die einem einfach unterstellen, dass auch ich zu ihnen gehöre, die ungefragt das Wort „wir" verwenden. Höflich ist es zu fragen: „Sind Sie Christ, wenn ja, dann möchten wir ihnen gern diese oder jene Fragen stellen." So wollte ich einfach mal diese selbstverständliche Unterstellung aufgreifen. Darin schließe ich alle ein, die nicht religiös sind, egal ob sie vereinsmäßig organisiert sind. Aber in meinem Vortrag schloss das „Wir" auch alle Religiösen ein - auf Zeit des Vortrags - denn auch ein Religiöser sollte den Standpunkt einer säkularen Gesellschaft einnehmen können, auch wenn er ihn nicht übernehmen möchte.
Sie selbst sind ja bekannt als großzügiger Mäzen. Was empfehlen Sie einer Organisation wie der unseren an Selbstdarstellung und Außenwirkung, damit Menschen wie Sie auf uns aufmerksam werden. Wie suchen Sie sich Projekte aus, die Sie für förderungswürdig halten?
Ganz einfach. Ich sehe, ob es mich interessiert oder nicht. Entscheidend ist nicht, wie Sie sich darstellen, entscheidend ist, für welche Inhalte Sie stehen und ob sie ihre inhaltliche Arbeit gut machen.
Es ist gut, dass Sie uns mit Ihrer Außensicht darin bestärken, keine neue Kirche werden zu wollen. Das Problem ist nur die Gesetzeslage. Um in den Genuss einer öffentlichen Förderung zu kommen, wird vom säkularen Staat von uns verlangt, unsere weltanschauliche Position genau zu definieren. Und nur so erfüllen wir die Bedingungen um beispielsweise in der Berliner Schule Humanistischen Lebenskundeunterricht anbieten zu können. Dieser Unterricht ist ein Bekenntnisunterricht.
Mein Sohn ist nicht getauft, da bin ich schon für Konsequenz, ich halte nichts von atheistischen Eltern, die ihr Kind „zur Sicherheit" taufen lassen. Das kann das Kind später sehr wohl allein entscheiden. Trotzdem taucht in den Kinderköpfen irgendwann diese Gottesvorstellung auf, dann kommt natürlich unweigerlich das Theodizeeproblem. Ich habe ihm erzählt, wie eine christliche Antwort auf das Problem aussehen würde - aber ich halte natürlich diese theologischen Konstruktionen nicht für befriedigend. Also schlug ich vor, einen Fachmann zu befragen und ging mit meinem Sohn zur nächsten Kirche. Dem Pfarrer erkläre ich, mein Sohn hätte ein theologisches Problem. Was macht dieser pflichtvergessene Mensch? Lädt ihn zum Kindergottesdienst ein! Er müsste sich doch sagen: Hier ist eine Seele in Not, ich bin gefordert - aber er verweist auf den Kindergottesdienst! Dort sind wir dann auch hingegangen und mein Sohn fand das auf verlässliche Weise so schrecklich, dass er seitdem keine Kirche mehr betreten hat, es sei denn aus kunsthistorischem Interesse. Die Atmosphäre dort kontrastierte in einer Weise mit dem, was er von zu Hause kannte, dass es dort für ihn nicht attraktiv war. Ich habe zu Hause nie meine Meinung verheimlicht, doch nie für eine bestimmte Art der Weltanschauung geworben. Nur immer gesagt, die Angebote sind da, Kirchen, Moscheen, Synagogen, falls es dich interessiert, rufe ich da an und mache einen Termin.
Wir gehen da im Lebenskundeunterricht einen anderen Weg. Bei uns lernen die Kinder mit den Chancen und Risiken der Selbstbestimmung umzugehen. Wir sagen dem Kind ganz klar, du brauchst für dein Leben keine Religion, du kannst mit Krisensituation fertig werden, ohne dass dafür irgendein religiöser Beistand notwendig ist. Es ist nur wichtig, dass du andere Menschen findest, die auch so denken. Das lehnt sich an die These an, dass es keinen vorgegebenen Sinn des Lebens gibt. Der kann nur darin liegen, gelungene Sozialbeziehungen zu erreichen.
Für manchen mag das stimmen, für andere sind gelungene Sozialbeziehungen zweitrangig. Diesem Menschen ist es wichtig, viel allein zu bleiben um einen Roman zu schreiben. Viele wirklich große Schriftsteller sind sozial nicht unbedingt kompetent, weil das alles nicht zusammen in ein Leben passt. Es gibt unterschiedliche Lebensentwürfe. Den der Selbstverwirklichung - der kann, wenn es extrem wird, kalt und grausam werden. Und es gibt den Lebensentwurf der Mitmenschlichkeit, der Solidarität, der kann, wenn es extrem wird, vereinnahmend und totalitär werden.
Sind Schriftsteller nicht angewiesen auf die Bereitschaft mit anderen zu kommunizieren, auf deren Bereitschaft ihre Werke auch zu lesen?
Wenn er etwas taugt, wird er sein Buch schreiben, so oder so.
Derzeit planen die Humanisten eine eigene Privatschule. Im Landesverband Bayern wurde dieses Projekt schon abgelehnt, weil die Bayerische Verfassung fordert, die Schule habe in Ehrfurcht vor Gott zu erziehen.
Das finde ich skandalös. Ich bin schon für das Recht aller möglichen Vereine, Privatschulen zu gründen, solange Qualitätsstandards gelten und sich das Gelehrte im Rahmen der Gesetze hält. Ich hätte meinen Sohn aber auf eine solche Schule nicht geschickt, eben weil es eine weltanschaulich gebundene Schule gewesen wäre. Mir ist am sympathischsten die ganz normale staatliche Schule, wo es einen Religionsunterricht gibt, den man nicht besuchen muss.
Darf der säkulare Staat einen Werteunterricht anbieten?
Ja, er darf das natürlich, ich bezweifle nur, ob das viel Sinn macht. Warum sollen moralische Debatten in ein eigenes Fach ausgelagert werden? So wie die Schulen im Moment aussehen, werden sie vor allem dazu beitragen, dass die Kinder ihr Interesse an solchen Fragen verlieren. Am besten lernen Schüler dies doch wohl im praktischen Leben, so wie der Umgang miteinander ist, das prägt. Wenn ein Lehrer Diskriminierung nicht zulässt, merkt sich das ein Schüler, da braucht man keine Unterrichtsstunde anzubieten.
Was sagen Sie zur Leitkulturdebatte?
Das Problem bei dieser Debatte ist, dass sie unter diesem blöden Oberbegriff steht. Ich hätte gar nichts dagegen, über bestimmte Dinge, die in diesem Rahmen thematisiert werden, auch mitzudiskutieren -und zwar in aller Schärfe: Wer in dieser Gesellschaft lebt, hat sich konsequent an die Gesetze zu halten, es gibt für niemanden weltanschauliche Schonräume. Menschen bleiben in dieser Gesellschaft unverstümmelt, werden nicht zwangsverheiratet. Egal unter welchen Vorzeichen - nichts darf die Freiheitsrechte einschränken. Man kann es auch einfach Rechtsstaat oder Menschenrechte nennen. Die Leitkulturdebatte ist eine schwammige Geschichte. Letztlich vermute ich dann doch dahinter den Versuch, wie Rainer Barzel in den 60er-Jahren das hohe C anzustimmen.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Bleibt uns die säkulare Gesellschaft erhalten?
Man tut, was man kann, für das, was man für richtig hält. Nur können wir uns im Leben auf gar nichts verlassen. Der Zivilisationsprozess ist nie etwas Erreichtes, sondern immer etwas Gefährdetes, das permanenter Anstrengung bedarf.
Wir bedanken uns sehr, dass Sie unsere Einladung zum Gespräch angenommen haben.
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Das Gespräch mit Prof. Reemtsma führten Patricia Block, Dr. Horst Groschopp und Jaap Schilt.