Manifestieren – die Reise der Esoteriker zurück ins Märchenland

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Wenn man es sich ganz doll wünscht, bekommt man solch ein Haus.
Wenn man es sich ganz doll wünscht, bekommt man solch ein Haus.

Als Kind stellen wir uns vor, wir könnten alles erreichen. Bei manchen kehrt dieses Gefühl auch als Erwachsene wieder zurück – in Form des bei Esoterikern beliebten Manifestierens.

Die schönste Zeit des Lebens ist die Kindheit. Als Dreikäsehoch waren für uns alle Visionen, die uns die Fantasie auftischte, Realität pur. Der Beweis für diese Behauptung: Nichts faszinierte uns als Kinder so sehr wie Märchen. Wir konnten auf Drachen in den Himmel fliegen, als Könige durch ein goldenes Schloss wandeln, mit den Elfen auf den Blumenwiesen tanzen und auf einem Einhorn zu den Sternen reiten.

Später ließen uns die Entwicklung des Hirns und die schmerzlichen Erfahrungen mit der Schwerkraft die Träume platzen. Der Überlebenskampf erforderte, dass wir einen Realitätssinn entwickelten. Wir mussten die Zusammenhänge und Hintergründe der Lebenswirklichkeit erkennen, um uns behaupten zu können. So hat es die Evolution eingerichtet. Wir verdanken diesen Prozess den wissenschaftlichen und technischen Fortschritten und dem Wohlstand. Wir fliegen nicht mehr mit den Drachen ins Wunderland, sondern mit den Flugzeugen ins Ferienparadies. Oder was wir dafür halten.

Diese Errungenschaften, denen wir ein Leben in Luxus, Saus und Braus verdanken, lassen unsere Ansprüche ins Unendliche wachsen. Unsere Anspruchshaltung ist oft grenzenlos. Deshalb wollen wir immer öfter die irdischen Grenzen sprengen. Doch dies ist eine Kunst, die wir noch nicht beherrschen. Der unausweichliche Tod macht es uns bewusst.

Unser Erfindergeist hat einen Ausweg aus dem Dilemma gesucht. Und – vermeintlich – gefunden. Das Zauberwort: Esoterik. Mit diesem sonderbaren Ast am Baum der Spiritualität sind Wunder plötzlich wieder möglich. Die Elfen, Kobolde und Einhörner steigen erneut aus der Märchenwelt auf und feiern Urständ wie zu Zeiten der Kindheit. Nun kramen wir als Erwachsene den Zauberstab wieder hervor – und regredieren geistig zu Kindern, die den geheimen Pfad zur Märchenwelt entdeckt haben wollen.

Die Esoterik hat viele Disziplinen, Rituale und Methoden hervorgezaubert, die uns ins Fantasieschloss entführen sollen. Eine davon trägt die schönen Namen "Visualisieren", "Manifestieren" und "Bestellung beim Universum".

Wie funktioniert eine solche Bestellung?

Die Esoterik-Homepage "highenergymind.com" gibt konkrete Handlungsanweisungen. "Alles, was ich mir wünsche, ist bereits auf dem Weg zu mir. Ich vertraue darauf, dass das Universum meine Wünsche erfüllt. Ich weiß, dass alles möglich ist und meine Wünsche in Erfüllung gehen."

Aktuell grassieren auf TikTok, Instagram und anderen Sozialen Medien die Anleitungen zum Visualisieren, zum Senden von Wünschen ans Universum.

Die Homepage "wunderweib.de" schreibt im Titel: "So sendest du deinen Wunsch ans Universum" und fügt an: "Visualisiere dein Ziel täglich so detailliert wie möglich. (…) Deine Gedanken helfen dann dabei, deine Wünsche ans Universum zu senden."

Da stellen sich Fragen. Was verstehen die Verfechter des Manifestierens von Wünschen unter dem Universum? Wo befindet es sich, wie ist es beschaffen? Wer erfüllt die Wünsche? Antworten sucht man bei den Verkündern des Universums vergeblich.

Es sind nicht nur ahnungslose Teenies, die dem Wunderglauben verfallen. Auch viele gebildete und erfolgreiche Leute glauben an die magische Kraft des Universums. Kürzlich haben sich vier prominente Frauen – rund 75 Prozent der Esoterikfans sind Frauen – als Universum-Gläubige geoutet. In der "Sternstunde Philosophie" des Schweizer Fernsehens und in der SonntagsZeitung.

Melanie Winiger manifestiert, indem sie ihren Wunsch auf einen Zettel schreibt und ihn danach in die Feuerschale wirft. So tat sie es auch mit ihrem Wunsch nach einem neuen Freund, wie sie dem Fernsehpublikum verriet. Sie beschrieb ihn detailreich. Und siehe da, am gleichen Tag führte das Universum die beiden zusammen. Auch ihr Freund habe sie manifestiert. Ein Wunderglaube der höheren Art. Da sind Kinder, die an fliegende Drachen glauben, wahre Realisten.

Brigitte Voss, Miss Schweiz 1981, nennt sich Seelenführerin oder Seelenflüsterin, wie die SonntagsZeitung schreibt. Ihre spirituelle oder esoterische Selbstfindung begann nach dem tödlichen Verkehrsunfall ihres Partners Steve im Jahr 2010. Sie fiel in ein Loch, fand aber bald die Energie tief in sich, sich daraus zu befreien.

"Wir alle haben in uns drin die Kraft, zu verzeihen, zu manifestieren. Das ist die eigene Schöpferkraft", sagte sie. Sie befasste sich intensiv mit Spiritualität und "tauchte in die tiefen Frequenzen ein, wo man Lichtwesen begegnet". Steve habe sie aus dem Jenseits in die Medialität geschubst. Das sei ihr Seelenplan. Er soll einem Tessiner Medium den Auftrag gegeben haben, Voss auf den spirituellen Weg zu führen.

Sie wurde Meditationslehrerin und macht heute Seelenreadings. Vor einer Sitzung verbinde sie sich über ihr höheres Selbst mit der Seele der Kundin.

Auch Bianca Sissing, Miss Schweiz 2003, hatte Erfolg mit dem Ritual. Sie manifestierte als Yogalehrerin einen gediegenen Raum mit Kronleuchter in einem Jugendstil-Haus. Und siehe da: Das Universum war ihr wohlgesinnt und vermittelte ihr das exklusive Yogazentrum.

Tamy Glauser, Model und Atemtherapeutin, spürte schon früh diese speziellen Energien in ihren Händen. Sie betreibt die umstrittene Heilmethode des Reiki und legt nun kranken Personen ihre Hände auf. Sie ist an Schamanismus interessiert und arbeitet als Atemtherapeutin. Sie sei besonders berührt, wenn ihre Klientinnen erzählen würden, sie hätten ein Trauma auflösen können, erzählt sie. Eine gewagte Behauptung.

Schöne und erfolgreiche Frauen scheinen besonders anfällig für die angeblichen esoterischen Wunder zu sein. Denn auch Tanja Gutmann, Miss Schweiz 1997, arbeitet als Mentalcoach und Hypnosetherapeutin. Ein Hirntumor löste bei ihr Todesängste aus. Diese überwand sie mit besonderen Anstrengungen und Kräften. Ihre Erfahrung gibt sie nun als Coach weiter.

Spielform des positiven Denkens

Das Manifestieren und Visualisieren ist eine Spielform des positiven Denkens. Einer der Pioniere dieses esoterischen Zweiges ist der Amerikaner Joseph Murphy. Es reiche, vor dem Einschlafen auf sein Bankkonto zu meditieren, worauf dieses mit Bestimmtheit rasch anwachsen werde, schrieb er in einem seiner vielen Bücher. Sein Fazit: "Reichtum ist eine gute Gewohnheit, Armut dagegen eine schlechte – das ist der ganze Unterschied zwischen Reichtum und Armut."

Er setzte noch einen drauf und erklärte die Armut für eine geistige Krankheit. Er verstieg sich auch zur Behauptung, dass nur existiere, was wir denken und in unser Bewusstsein aufnehmen würden. Wer den Tod konsequent ausklammere, werde nicht sterben. Dieses Kunststück gelang Murphy nicht, segnete er doch das Zeitliche wie ein gewöhnlicher Mensch.

Dieses Ritual ist ein Ego-Projekt für Wohlstandsmenschen. Der eigene Bauchnabel wird zum Zentrum der Welt oder eben des Universums. Würde es funktionieren, wäre unser Planet ein Paradies auf Erden.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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