Mythos Thule

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The mythical island of Thule on the Carta Marina
The mythical island of Thule

Thule, der sagenumwobene Ort im hohen Norden geistert heute durch zahllose Romane, Filme, Computerspiele. Weithin bekannt ist auch die Thule-Gesellschaft, ein völkischer Geheimorden der 1920er und frühen -30er-Jahre, der Legenden zufolge bis in die Zeit nationalsozialistischer Herrschaft und danach Einfluss besessen haben soll. Die Mythen um Thule sind erheblich älter und gehen bis in die Antike zurück.

Pytheas aus Massilia (Marseille), ein griechischer Entdecker, unternahm im 4. Jahrhundert eine Reise in den Norden, die er in seinem Buch "Über das Weltmeer" beschrieb. Darin findet sich auch die erste Erwähnung einer Insel namens Thule, die er sechs Tagesreisen nördlich von Britannien entdeckt haben will. Er schilderte die Insel als von Eis und Schnee umgeben, mit langen Sommertagen und Winternächten.

Pytheas gab an, dass der nördlichste Punkt der bekannten Welt sei, wo extreme klimatische Verhältnisse herrschten. Das Meer um Thule wird als teilweise gefroren beschrieben. Durch astronomische Beobachtungen erhielt Pytheas die Bestätigung, dass er sich im hohen Norden befand. Auch erwähnte er, dass Thule bewohnt war und das Klima Landbau ermöglichte, so sollen die Einwohner Getreide angebaut und in Speicherhäusern gedroschen haben. Obwohl nicht explizit erwähnt, lässt die Beschreibung als Insel auf eine Küstenlinie schließen.

Der griechische Geograph Strabo übernimmt, zitiert und kommentiert den Bericht des Pytheas in seinem Werk "Geographia". Auch Plinius der Ältere nimmt in seiner "Naturalis Historia" Bezug darauf. Der byzantinische Historiker Prokop von Caesarea beschreibt in seinem Buch "Der Gotenkrieg" Thule als "eine sehr große Insel, über zehnmal größer als Britannien; es liegt von dort aus noch weiter im Norden".

Diese antiken Texte trugen maßgeblich zur Entstehung und Verbreitung des Thule-Mythos bei. Sie beschreiben Thule als eine ferne, nördliche Insel am Rande der bekannten Welt, oft verbunden mit Vorstellungen von Eis, langen Tagen im Sommer und langen Nächten im Winter. Allerdings variieren die Beschreibungen und die angenommene geographische Lage.

Wo genau Thule gelegen hat, bleibt umstritten, wobei verschiedene Theorien es mit Orten wie den Shetland- oder den Färöerinseln, Island, Grönland, Norwegen oder der norwegischen Insel Smøla in Verbindung bringen.

Der Mythos

Die Ungewissheit über die exakte Position hat zur mythischen Aura von Thule beigetragen. So wurde es im Laufe der Zeit zu einem Symbol für das Ende der bekannten Welt, für einen Hort von Weisheit und Wissen sowie einer Art nördliches Pendant zu Atlantis, Camelot oder Avalon.

Obschon Thule in der nordischen Mythologie keine direkte oder zentrale Bedeutung hatte, wurde es im Laufe der Zeit oft mit dem mythischen Norden assoziiert. Da Island oft mit Thule gleichgesetzt wurde und Ursprungsort bedeutender Texte der nordischen Mythologie (Eddas) war, wurden diese in Buchausgaben manchmal als "Mythen von Thule" oder ähnlich bezeichnet.

Auch in der kontinentalgermanischen Mythologie spielte Thule keine spezifische Rolle. Die Verbindung zur germanischen Kultur entstand erst später durch Interpretationen und kulturelle Adaptionen. Der Thule-Mythos wurde allmählich, besonders in esoterischen oder okkulten Kreisen, mit verschiedenen nordischen und germanischen Vorstellungen verwoben, was zu seiner komplexen und vielschichtigen Bedeutung in der modernen Rezeption beigetragen hat.

Insbesondere durch die verschiedenen literarischen Adaptionen und Erwähnungen des Stoffes blieb die Erinnerung an Thule lebendig. Als Erstes ist hier natürlich das bekannte Gedicht "Es war ein König in Thule" aus dem "Faust I" von Johann Wolfgang Goethe zu nennen, das auch oftmals vertont wurde. Die Version von Friedrich Silcher dürfte hiervon sicherlich die bekannteste sein.

Auch im seinerzeit sehr bekannten Historienroman "Ein Kampf um Rom" von Felix Dahn (1876) wird Thule als Heimstatt der letzten Goten erwähnt, wohin diese sich zurückziehen, nachdem ihr König Teja gefallen und sie Italien verlassen müssen. Das – ebenfalls mehrfach vertonte – Gedicht "Gebt Raum, ihr Völker, unsrem Schritt" beschreibt Thule wie folgt: "Das soll der Treue Insel sein, dort gilt noch Eid und Ehre, dort senken wir den König ein, im Sarg der Eschenspeere". Besonders die Vertonung von Robert Götz und Wilhelm Cleff erfreute sich in der Jugendbewegung großer Beliebtheit und so wurde das Gedicht ein gerne gesungenes Fahrtenlied.

Umdeutung und Missbrauch des Mythos

Der Thule-Mythos wurde im niedergehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik insbesondere durch reaktionäre und völkische Kreise missbraucht. So ging aus dem antisemitischen "Germanenorden" im August 1918 die "Thule-Gesellschaft – Orden für deutsche Art" hervor, der von Rudolf von Sebottendorf gegründet wurde. Die Gesellschaft war in München ansässig und hatte im südbayerischen Raum die meisten Mitglieder. Am stärksten war sie im Winter 1918/19 mit etwa 1.500 Mitgliedern. Ihr Versammlungsort war das Münchner Luxushotel "Vier Jahreszeiten".

Das Emblem der Thule-Gesellschaft 1919, Foto: Anonymous, public domain 
Das Emblem der Thule-Gesellschaft 1919, Foto: Anonymous, public domain 

Ihr Emblem war ein Hakenkreuz im Strahlenkranz hinter einem blanken Schwert und ihre Mottos lauteten "Halte dein Blut rein!" und "Bedenke, dass du ein Deutscher bist!". Die Mitglieder waren überwiegen Akademiker, Aristokraten und Geschäftsleute, die sich untereinander mit "Heil und Sieg!" grüßten – darunter auch spätere ranghohe Nationalsozialisten, wie etwa Rudolf Heß, Alfred Rosenberg oder Hans Frank, nachmaliger Generalgouverneur der besetzten Teile Polens. Anderslautenden Behauptungen zum Trotz war Adolf Hitler selbst nie Mitglied der Gesellschaft. Die Zeitung Münchner Beobachter wurde von Rudolf von Sebottendorf aufgekauft und für die Zwecke der Thule-Gesellschaft benutzt. Später wurde daraus der Völkische Beobachter.

Die Thule-Gesellschaft war streng völkisch-antisemitisch orientiert und bekämpfte die Novemberrevolution und die Münchner Räterepublik, die sie als Ausdruck einer "jüdischen Weltverschwörung" sah. Zu diesem Zweck gründete sie den "Kampfbund Thule" als militärischen Arm, der sich im Dezember 1918 an den Vorbereitungen eines Staatsstreiches beteiligte, der in letzter Minute verhindert werden konnte. Angestrebt wurde übrigens nicht die Wiederherstellung der Monarchie, sondern eine Diktatur auf rassischer Grundlage. Der Kampfbund war 1919 auch mit Waffengewalt an der Beseitigung der beiden Räterepubliken in Bayern beteiligt. Thule-Gesellschaft und Kampfbund Thule unterhielten ein umfangreiches Spitzelwesen, durch das sie Nachrichten über die Lage in München sammelten und n die militärischen Stellungen außerhalb der Stadt übermittelten. Im April 1919 ging aus dem Kampfbund Thule das Freikorps Oberland hervor.

Breite Bekanntheit erlangte die Thule-Gesellschaft, nachdem ihre Geschäftsstelle im Hotel "Vier Jahreszeiten" am 26. April 1919 von der Militärpolizei der Räterepublik gestürmt wurde. Dabei wurden etwa 20 Personen festgenommen, von denen sieben am 30. April 1919 im Luitpold-Gymnasium in München erschossen wurden. Selbst die internationale Presse berichtete hierüber.

Dem Vorsitzenden Sebottendorf wurden intern Vorwürfe gemacht, da während der auf die Erstürmung folgende Durchsuchung auch die Mitgliederliste von der Militärpolizei konfisziert wurde, was die Mitglieder gefährdete. Sebottendorf legte daraufhin sein Amt nieder und trat aus der Thule-Gesellschaft aus. Diesem Umstand und dem Bedeutungsverlust nach Ende der Münchner Räterepublik ist der recht schnelle Zerfall der Gesellschaft nach 1919 geschuldet; 1925 hatte sie weniger als 20 Mitglieder und wurde aufgelöst. Die Löschung aus dem Vereinsregister erfolgte 1932.

Zwar versuchte Rudolf von Sebottendorf 1933 noch eine Neugründung, diese scheiterte allerdings. Anfang 1934 wurde er kurzzeitig inhaftiert und in die Türkei abgeschoben, deren Staatsbürgerschaft er besaß. Sein Buch "Bevor Hitler kam", in dem er seine eigene Rolle, aber auch die Rolle der Thule-Gesellschaft in der völkischen Bewegung und vor allem bei der Gründung der NSDAP maßlos übertrieb, wurde verboten.

Verschwörungstheorien und Mythen

Nach 1945 bildeten sich zahlreiche Mythen und Erzählungen rund um die Thule-Gesellschaft. Befeuert wurden sie durch das Buch "Le matin des magiciens" von Louis Pauwels und Jacques Bergier 1960, deutsche Ausgabe 1962 unter dem Titel "Aufbruch ins dritte Jahrtausend". Darin wird die Thule-Gesellschaft als "magischer Mittelpunkt der NS-Bewegung" dargestellt. 1964 folgte dann "Bevor Hitler kam" von Dietrich Bronder (nicht zu verwechseln mit dem Buch Sebottendorfs aus dem Jahr 1933). Seine Behauptung ist, dass es eine Verbindung zwischen der Thule-Gesellschaft und geheimen Klosterorden in Tibet geben würde.

Der frühere SS-Oberscharführer Wilhelm Landig, der mit seinem Wiener Zirkel viel zur Bildung von Mythen und Verschwörungstheorien rund um den Nationalsozialismus verantwortete, veröffentlichte eine Thule-Trilogie in Romanform. Dies waren 1971 "Götzen gegen Thule" (1971), "Wolfszeit um Thule" (1980) und "Rebellen für Thule – Das Erbe von Atlantis" (1991) . Thule ist hier der Name des angeblichen Nazi-Stützpunktes in der Antarktis, von dem aus SS-Männer gegen Freimaurer, Juden und korrupte NSDAP-Mitglieder kämpften. Dabei setzen sie Flugscheiben oder Vergeltungswaffen ein.

1972 folgte dann die okkultistische Schrift "The Spear of Destiny" von Trevor Ravenscroft (deutsche Ausgabe: "Die heilige Lanze" 1974) worin unter anderem von Menschenopfern an Juden und Kommunisten erzählt wird. Dazu kommen noch andere okkulte Rituale, die angeblich von den Mitgliedern der Thule-Gesellschaft durchgeführt wurden.

Thule in der Populärkultur

In der gegenwärtigen Populärkultur kennt man die Thule-Gesellschaft hauptsächlich als geheime Führungsriege des Nationalsozialismus, die mit okkulten Praktiken versucht, den Ausgang des Zweiten Weltkrieges in ihrem Sinne zu beeinflussen. Teilweise wird auch beschrieben, wie die Thule-Gesellschaft den Zweiten Weltkrieg übersteht und Einfluss auf die Welt der Nachkriegszeit nimmt. Bekannt sind Romane, Comics, Filme, Fernsehserien, oder Video- oder Rollenspiele. Es gibt auch einige Musikgruppen der verschiedensten Genres, die "Thule" im Namen führen, bzw. deren Lieder so benannten.

Übrigens ist Thule auch der Name eines der heute größten Hersteller von Transportsystemen und Outdoorbedarf. Dabei dürften jedoch eher die ursprüngliche Bezeichnung für eine abgelegene nördliche Insel und der Name des Gründers Erik Thulin ausschlaggebend gewesen sein.

Literatur:

Goodrick-Clarke, Nicholas: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Wiesbaden: Marix-Verl., 2004. ISBN 3-937715-48-7.

Heller, Friedrich P./Maegerle, Anton: Thule: Vom völkischen Okkultismus bis zur neuen Rechten. Stuttgart: Schmetterling, 2007. ISBN 978-3-896570-92-5.

Pomplun, Jan Philipp: Thule-Gesellschaft. In: Handbuch des Antisemitismus. Band 5. Berlin: DeGruyter, 2012. S. 596-599. ISBN 978-3-11-027878-1.

Rose, Detlev: Die Thule-Gesellschaft: Legende – Mythos – Wirklichkeit. Tübingen: Grabert, 2008. ISBN 978-3-87847-242-1

Strube, Julian: Die Erfindung des esoterischen Nationalsozialismus im Zeichen der Schwarzen Sonne. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 20/2012, H. 2, S. 223-268.

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