Das SS-Ahnenerbe und der lange Atem der Pseudowissenschaft

Im Schatten der Runen

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Runen
Runen

Von außen glich es einem akademischen Zirkel. Ein wenig altdeutsch, ein wenig abenteuerlustig. Männer in Tweedjacken, mit Notizbüchern und Maßbändern in Händen, auf Reisen in den Himalaya, in norwegische Fjorde oder auf den Balkan. Doch hinter der Fassade verbarg sich ein ideologisches Projekt, dessen Ziel nicht die Wahrheit war, sondern die Legitimierung von Herrschaft. Es nannte sich Forschungs- und Lehrgemeinschaft Das Ahnenerbe e.V. – und es war eines der gefährlichsten Instrumente im pseudowissenschaftlichen Arsenal des Nationalsozialismus. Der Blick auf seine Geschichte zeigt die Gefahren, wenn Wissenschaft sich einer Ideologie andient.

Gegründet 1935 unter dem direkten Einfluss von Heinrich Himmler, verstand sich Das Ahnenerbe als akademischer Arm der SS – oder genauer: als deren intellektuelles Wunschbild. Es sollte die historische, biologische und kulturelle Überlegenheit der sogenannten "arischen Rasse" beweisen – nicht als These, sondern als vermeintliche Gewissheit. Was dafür fehlte, wurde notfalls erfunden.

Die Vergangenheit als Projektionsfläche

Heinrich Himmler war kein gewöhnlicher Politiker. Der Reichsführer SS sah sich als spiritueller Architekt eines neuen Reiches, in dem Blut und Boden, Runen und Rituale den Platz von Aufklärung und Menschenrechten einnehmen sollten. Ihn faszinierte das Mythische, das Esoterische – alles, was sich mit dem Nimbus des "ewigen Germanentums" aufladen ließ. Ihm schwebte eine neue Weltordnung vor, in der das Christentum verschwunden und durch eine Art "germanischen Naturkultus" ersetzt worden war.

Das Ahnenerbe war sein Werkzeug zur Formung dieser ideologischen Realität. Es sollte der Geschichte einen neuen Sinn geben – rückwärtsgewandt, aber zukunftsorientiert. "Die Geschichte muss umgeschrieben werden", so Himmler, "die Germanen müssen als Kulturvolk der ersten Stunde erscheinen."

Was folgte, war eine beispiellose Politisierung der Wissenschaft.

Expeditionen ins Absurde

Das Ahnenerbe organisierte Expeditionen, die den Eindruck wissenschaftlicher Feldforschung vermittelten, in Wahrheit aber der ideologischen Legendenbildung dienten. Eine der berüchtigtsten war die Tibet-Mission 1938, geleitet vom Zoologen Ernst Schäfer. Offiziell eine naturkundliche Reise, war das wahre Ziel weitaus dubioser: Man wollte Hinweise auf eine arische Urheimat im Himalaya finden – Belege, dass der Ursprung der "nordischen Rasse" dort zu verorten sei, wo heute Buddhisten Gebetsfahnen hissen.

Mit Pflanzenproben, Fotografien und den Daten von vermessenen Schädeln kehrten die Forscher zurück – und interpretierten alles im Sinne des eigenen Weltbilds. Aus phänotypischen Ähnlichkeiten wurde "Verwandtschaft", aus lokalen Mythen wurden germanische Ur-Erzählungen.

Auch in Europa war Das Ahnenerbe aktiv: in Norwegen und Island auf der Suche nach den Spuren von "Wikingerblut", auf dem Balkan und im Kaukasus beim Versuch, Germanisierung historisch zu legitimieren. In Frankreich wurde die frühgeschichtliche Besiedlung so umgedeutet, dass Germanen – natürlich – die eigentlichen Kulturträger gewesen seien.

Es war eine "Wissenschaft", die sich rückhaltlos den Vorgaben der Macht unterwarf.

Die Maske fällt

Was nach außen wie historisierende Spinnerei wirkte, nahm hinter den Kulissen schnell eine unheimliche Wendung. Denn Das Ahnenerbe war nicht nur ein Institut für Runenkunde und Vorzeitromantik. Es war Teil des SS-Apparats – eingebettet in den "Persönlichen Stab Himmler" und unter der operativen Leitung von SS-Standartenführer Wolfram Sievers, einem Organisator mit erstaunlicher Skrupellosigkeit.

Neben archäologischen und ethnographischen Aktivitäten entwickelte sich Das Ahnenerbe zunehmend zur Schaltstelle medizinischer Gräueltaten. Die von SS-Arzt August Hirt geleitete Abteilung für Medizin führte ab 1942 Experimente an KZ-Häftlingen durch, die heute zu den abscheulichsten Verbrechen der NS-Zeit zählen: Unterkühlungsversuche, Höhenstudien, chemische Belastungstests – alle mit tödlichem Ausgang für die Opfer.

Besonders entsetzlich: die sogenannte "Jüdische Schädelsammlung". Hirt ließ im Konzentrationslager Auschwitz Häftlinge nach rassenideologischen Kriterien auswählen, nach Straßburg deportieren und dort ermorden. Ihre Leichname wurden konserviert und anatomisch katalogisiert. Das Ziel: ein "wissenschaftliches Archiv" jüdischer Schädel – als Anschauungsmaterial für kommende Generationen, als perfider "Beweis" für eine behauptete "minderwertige Rasse".

Das Kultische und das Politische

Das Ahnenerbe war keine Insel im nationalsozialistischen Machtgefüge – es war Brücke und Brandherd zugleich. Es verband die kulturelle Selbsterfindung des Regimes mit konkreten politischen Ambitionen: So dienten Ausgrabungen nicht nur der Geschichtsklitterung, sondern auch territorialen Ansprüchen. Die angebliche "Germanenvergangenheit" des Elsass etwa sollte die Annexion rechtfertigen, die Rekonstruktion "germanischer Kultplätze" auf dem Balkan die geplante Germanisierung Südosteuropas vorbereiten.

Auch in der symbolischen Welt des Nationalsozialismus wirkte Das Ahnenerbe mit: Runen wurden zu Emblemen der SS, die "Lebens-" und "Todesrunen" prägten Gräber und Rituale, Thingplätze und Sonnenwendfeiern entstanden nach Empfehlungen der Ahnenerbe-"Kultforscher". Die Wewelsburg, Himmlers Lieblingsort, wurde in Anlehnung an okkult-germanische Konzepte umgebaut – als spirituelles Zentrum einer künftigen SS-Aristokratie.

Es war ein gefährliches Spiel mit Mythen, das letztlich Realität schuf: Wer den Kult organisiert, gestaltet auch das Denken.

Das Ende – und ein langes Nachleben

Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches endete auch die Karriere des Ahnenerbes – zumindest offiziell. In den Nürnberger Ärzteprozessen wurde Wolfram Sievers zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet. August Hirt entzog sich seiner Verantwortung durch Suizid. Andere, wie Ernst Schäfer, gaben sich ahnungslos und entkamen juristischer Verfolgung.

Die meisten Ergebnisse des Ahnenerbes erwiesen sich bald als wertlos – methodisch unhaltbar, ideologisch durchtränkt. Dennoch verschwanden sie nicht gänzlich. In rechtsextremen, esoterischen und verschwörungstheoretischen Kreisen leben viele der Mythen bis heute fort. Die Idee einer arischen Hochtechnologie, die Legende vom atlantischen Urvolk oder die Suche nach germanischer Magie – all das hat seinen Ursprung in den Publikationen und Fantasien des Ahnenerbes.

Dass sich solche Ideen halten konnten, ist kein Zufall. Denn Pseudowissenschaft ist nicht harmlos. Sie bietet einfache Antworten auf komplexe Fragen, klare Feindbilder und eine scheinbare Ordnung in einer chaotischen Welt. Das macht sie attraktiv – und gefährlich.

Eine Lektion für die Gegenwart

Das SS-Ahnenerbe war nicht bloß ein Seitenstrang nationalsozialistischer Herrschaft, sondern ein integraler Bestandteil. Es demonstriert auf erschreckende Weise, wie Wissenschaft korrumpiert werden kann – wenn sie sich der Macht andient, wenn sie zur Waffe im Dienst der Ideologie wird.

Die Geschichte dieser Organisation ist daher nicht nur historisches Lehrstück, sondern auch Mahnung: vor der Instrumentalisierung von Forschung, vor der Verlockung vermeintlich objektiver Wahrheiten im Dienst der Lüge. Sie erinnert uns daran, dass Wissenschaft immer auch eine ethische Verantwortung trägt – und dass ihre Glaubwürdigkeit nur dort Bestand hat, wo sie sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, nicht der Macht.

Denn wo Runen zur Rechtfertigung von Rassismus dienen, wo archäologische Grabungen politische Eroberungen stützen sollen, da ist die Wissenschaft nicht mehr frei. Sondern verloren.

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