Ob in Fantasy-Literatur, Sonnenwendfeiern oder völkisch aufgeladenen Debatten – die Schatten des Germanenmythos sind heute präsenter als vielen bewusst ist. Angesichts der zunehmenden Vereinnahmung historischer Symbole durch rechte Bewegungen stellt sich die Frage: Wie konnte ein romantisch-verklärtes Bild antiker Stämme zur ideologischen Waffe des Nationalsozialismus werden – und warum wirkt es bis heute fort?
Der Mythos der Germanen hat im ideologischen Konstrukt des Nationalsozialismus eine zentrale Rolle gespielt. Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte sich in der deutschen Nationalbewegung ein romantisch verklärtes Bild der Germanen als Urväter einer vermeintlich reinen und heroischen deutschen "Rasse". Diese Konstruktion wurde im 20. Jahrhundert systematisch von den Nationalsozialisten aufgegriffen, um ihre rassistische und expansionistische Ideologie pseudowissenschaftlich zu untermauern. Der vorliegende Artikel untersucht die Entstehung und Instrumentalisierung des Germanenmythos durch das NS-Regime, seine Funktion innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung sowie die ideologischen, politischen und kulturellen Nachwirkungen, die bis heute in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten beobachtet werden können.
Historische Ursprünge des Germanenmythos
Die Ursprünge des Germanenmythos lassen sich bis in die Zeit der Romantik und des deutschen Idealismus zurückverfolgen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Wiederentdeckung der "Germania" des römischen Historikers Tacitus im 16. Jahrhundert. In diesem Werk zeichnete Tacitus das Bild einer tugendhaften, kriegerischen und moralisch überlegenen Urbevölkerung, die in scharfem Gegensatz zur als dekadent empfundenen römischen Gesellschaft stehe. Diese Darstellung fand im 19. Jahrhundert wachsende Beachtung und wurde zunehmend zum Projektionsraum für nationale Selbstvergewisserung. Wie Patrick J. Geary betont, wurde die "Idee einer urwüchsigen, einheitlichen germanischen Rasse nicht aus der Vergangenheit entdeckt, sondern von der Gegenwart erfunden" (Geary 2002, S. 15).
Mit dem Erstarken des Nationalismus im 18. und 19. Jahrhundert avancierte der Germane zur zentralen Identifikationsfigur eines deutschen Ursprungsmythos. Der Mangel an politischer Einheit im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" begünstigte die Suche nach einem gemeinsamen Ursprung, der alle deutschsprachigen Regionen symbolisch vereinen konnte. Heinrich von Treitschke etwa erklärte: "Die Deutschen sind ein Volk von Kriegern, und ihre Größe begann mit dem Siege Arminius' über Varus" (zit. nach Wippermann 1981, S. 42). Die Varusschlacht wurde zu einem Mythos nationaler Befreiung verklärt, obwohl ihre historische Bedeutung umstritten ist.
Im Geiste des deutschen Idealismus betonte Johann Gottlieb Fichte in seinen "Reden an die deutsche Nation" die spirituelle Überlegenheit der deutschen Sprache und Kultur, die er mit den Germanen in Verbindung brachte: "Nur das deutsche Volk besitzt die ursprüngliche Kraft der Sprache und der Idee" (Fichte, zit. nach Assmann 1992, S. 77). Die Germanen erschienen hier nicht nur als Vorfahren im biologischen, sondern vor allem im geistigen Sinne. Diese Vorstellung wurde von der Romantik aufgegriffen, die eine starke Affinität zu archaischen Bildern und heroischen Ursprüngen entwickelte. Richard Wagners Opernzyklen wie "Der Ring des Nibelungen" trugen wesentlich zur ästhetischen Codierung des Germanenmythos bei, wobei er selbst die germanischen Stoffe als Ausdruck einer "ursprünglich reinen nordischen Seele" verstand (vgl. Sieg 2002, S. 58).
Auch die zeitgenössische Archäologie wurde zunehmend ideologisch überformt. Ausgrabungen wie jene am hessischen Glauberg oder bei Haithabu (Schleswig-Holstein) wurden unter völkischen Prämissen interpretiert, wobei man versuchte, eine durchgehende Kontinuitätslinie zwischen prähistorischen Funden und dem deutschen Nationalcharakter zu ziehen. Wie Christian Bartolome darlegt, "diente die Archäologie im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik zunehmend als Mittel zur Legitimation einer völkischen Geschichtserzählung" (Bartolome 2002, S. 29).
Die sogenannte völkische Bewegung griff diese Deutungen auf und verband sie mit rassistischen und antisemitischen Narrativen. Die Germanen wurden nicht nur als historische Subjekte, sondern als biologische Urträger einer überlegenen Rasse imaginiert. Wolfgang Wippermann betont, dass der Germanenmythos bereits im 19. Jahrhundert "die Brücke zwischen romantischem Nationalismus und rassischer Selektion" schlug (Wippermann 1981, S. 103).
So war der Germanenmythos keineswegs ein Produkt des Nationalsozialismus allein, sondern Ausdruck einer langen ideologischen Entwicklung, in der sich Wissenschaft, Kultur und Politik gegenseitig bestätigten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war das Bild des Germanen als Archetyp des Deutschen so tief in der kollektiven Vorstellungswelt verankert, dass es den Nationalsozialisten leicht fiel, darauf zurückzugreifen und es für ihre Zwecke zu radikalisieren.
Der Germanenmythos im Nationalsozialismus
Die Nationalsozialisten griffen auf die im 19. Jahrhundert entwickelten völkisch-nationalistischen Vorstellungen vom Germanentum zurück und radikalisierten diese im Sinne einer rassistischen Weltanschauung. Der Germanenmythos wurde zur ideologischen Grundlage für die Konstruktion einer angeblich homogenen, "arischen" Rasse, die in direkter genealogischer und kultureller Linie auf die alten Germanen zurückgeführt wurde. Adolf Hitler erklärte in "Mein Kampf", dass die "Erhaltung des eigenen Blutes rein und unvermengt" die "heiligste Pflicht" sei (Hitler 1933, S. 324). Diese Vorstellung implizierte eine exklusive Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft auf der Grundlage rassischer Kriterien, die auf die Germanen als ursprüngliche Träger dieser Reinheit projiziert wurden.
Heinrich Himmler, einer der ideologischen Hauptarchitekten des NS-Regimes, verstand die Germanen nicht nur als biologische Ahnen, sondern auch als Träger eines spirituellen Erbes. Die SS stilisierte sich selbst als moderne Ritterschaft germanischer Prägung. In einem Rundschreiben erklärte Himmler: "Wir müssen wieder lernen, wie unsere Vorfahren zu leben, zu denken und zu kämpfen" (zit. nach Kater 1974, S. 88). Daraus resultierte ein quasireligiöser Kult, in dem Rituale, Symbole und vermeintliche germanische Tugenden eine zentrale Rolle spielten. Die Wewelsburg in Westfalen diente als ideologisches und kultisches Zentrum der SS und wurde als "Ordenstätte" für eine neue germanisch-arische Elite inszeniert.
Das SS-eigene Forschungsinstitut "Ahnenerbe" wurde mit dem Ziel gegründet, die Thesen über eine überlegene arische Urkultur durch historische, anthropologische und archäologische Forschungen zu belegen. In Wirklichkeit jedoch wurden viele dieser Untersuchungen entweder pseudowissenschaftlich verfälscht oder rein propagandistisch motiviert. Michael H. Kater weist darauf hin, dass das "Ahnenerbe" "weniger wissenschaftlich forschte, als vielmehr die bereits beschlossenen ideologischen Thesen bestätigte" (Kater 1974, S. 56).
Zentral war die Verbindung zur Blut-und-Boden-Ideologie, die einen natürlichen Zusammenhang zwischen Volkskörper und Lebensraum behauptete. Der Germanenmythos diente der Rechtfertigung der Eroberung osteuropäischer Gebiete im Sinne eines "germanischen Kolonialismus". In diesem Zusammenhang stellte Alfred Rosenberg in seinem Hauptwerk "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" die These auf, dass der "nordische Mensch" zur Führung berufen sei: "Er hat den Willen zur Gestaltung, zur Ordnung, zur Organisation" (Rosenberg 1930, S. 118). Diese Vorstellung rechtfertigte sowohl den Vernichtungskrieg gegen die "slawischen Untermenschen" als auch die Shoah.
In der Erziehungspolitik und besonders in der Hitlerjugend wurde der Germanenmythos genutzt, um ein Ideal des opferbereiten, naturverbundenen und kampfbereiten Jugendlichen zu formen. Schulbücher, Lagerfeuer-Rituale und Feste wie die Sommersonnenwende griffen auf germanisch-romantisierende Narrative zurück, um emotionale Bindungen an die Volksgemeinschaft zu erzeugen. Katrin Sieg analysiert diese Praktiken als "Performances der Zugehörigkeit", die "ethnische Reinheit nicht nur behaupteten, sondern auch inszenierten" (Sieg 2002, S. 64).
So wurde der Germanenmythos im Nationalsozialismus zu einem zentralen ideologischen Instrument: Er diente der rassischen Ausgrenzung, der geopolitischen Expansion, der inneren Formung einer loyalen Volksgemeinschaft und der Legitimation von Gewalt. Die historische Konstruktion wurde zur politisch-kulturellen Wirklichkeit geformt – mit verheerenden Konsequenzen.
Nachwirkungen nach 1945
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die ideologische Nutzung des Germanenmythos zwar offiziell delegitimiert, doch seine kulturellen Spuren verschwanden nicht vollständig. Insbesondere in der frühen Bundesrepublik und der DDR wurden wissenschaftliche und populärkulturelle Narrative häufig weiterhin von Vorstellungen geprägt, die auf die völkische und nationalsozialistische Germanenrezeption zurückgingen – teils unreflektiert, teils bewusst umgedeutet. So konstatiert Wolfgang Wippermann, dass "die alten Bilder in neuer Verkleidung fortlebten" (Wippermann 1981, S. 115).
In der bundesrepublikanischen Archäologie und Geschichtsdarstellung wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit lange vermieden, sich kritisch mit der ideologischen Instrumentalisierung germanischer Geschichte auseinanderzusetzen. Erst in den 1970er Jahren setzte ein differenzierterer Umgang ein, etwa mit der Ausstellung "Die Franken" (1980) oder durch die Arbeiten von Reinhard Wenskus zur ethnogenetischen Perspektive. Der von ihm geprägte Begriff der "gentilitätstheoretischen Konstruktion" unterstrich, dass Völker wie die Germanen keine natürlichen Entitäten, sondern soziale und politische Konstrukte waren (vgl. Wenskus 1961).
In der DDR hingegen wurde die Germanenrezeption stärker durch marxistisch-materialistische Paradigmen gelenkt. Während der Germanenbegriff weitgehend entpolitisiert wurde, versuchte man, deren Geschichte im Sinne einer Klassenkampf- und Fortschrittserzählung zu integrieren. Doch auch hier blieb eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit der NS-Germanenrezeption lange aus.
In der Populärkultur erlebte der Germanenmythos unterdessen verschiedene Wiederbelebungen. In Fantasy-Literatur, Rollenspielen und Fernsehproduktionen wurden Figuren wie der "edle Wilde" oder der "nordische Krieger" wieder aufgegriffen, häufig ohne Reflexion über ihre ideologischen Ursprünge. Solche Darstellungen verfestigten stereotype Bilder, die anschlussfähig für rechte Identitätspolitiken blieben. Hans Höffler weist darauf hin, dass "das Bild des heroischen Germanen heute vor allem in kulturellen Randmilieus tradiert wird, dort aber mit erstaunlicher Wirkungsmacht" (Höffler 2010, S. 274).
Besonders bedenklich ist die Rückkehr des Germanenmythos in rechtsextremen und neonazistischen Milieus seit den 1990er Jahren. Gruppen wie die Artgemeinschaft oder die Germanische Glaubens-Gemeinschaft berufen sich explizit auf eine vermeintlich authentische germanische Religion und Weltanschauung. Ihre Praktiken – von Sonnenwendfeiern über Runensymbolik bis hin zu pseudohistorischen Vorträgen – reaktivieren NS-Ideologeme in neuem Gewand. Jan Assmann spricht in diesem Zusammenhang von "Erinnerungsgemeinschaften", die durch selektives Gedächtnis mythische Deutungsmuster für gegenwärtige politische Zwecke reaktivieren (Assmann 1992, S. 134).
Auch die Neue Rechte greift in intellektualisierter Form auf germanisch inspirierte Narrative zurück. In Zeitschriften wie Sezession oder Verlagen wie Antaios wird ein kultureller Germanenkult gepflegt, der ethnopluralistische und völkische Weltbilder mit Rückgriffen auf vormoderne Identitäten legitimieren soll. Dabei geht es weniger um historische Genauigkeit als um die symbolische Aufladung eines imaginierten kulturellen Ursprungs.
Die Herausforderung für die Gegenwart besteht somit nicht nur in der wissenschaftlichen Aufarbeitung, sondern auch in der politischen Bildung. Der Germanenmythos zeigt, wie historische Konstruktionen zur Legitimierung von Ausgrenzung und Gewalt instrumentalisiert werden können – und dass ihre Wirkung auch in liberalen Demokratien nicht unterschätzt werden darf. Wie Patrick J. Geary betont, sei es "notwendig, die Entstehung von Völkerbildern zu dekonstruieren, um ihre missbräuchliche Verwendung in der Gegenwart zu verhindern" (Geary 2002, S. 10).
Literatur
- Assmann, Jan: Kulturelles Gedächtnis und Erinnerung. München, Beck, 1992.
- Barnes, Geraldine: Viking America: The First Millennium. Cambridge, D.S. Brewer, 2001.
- Bartolome, Christian: Germanische Altertumskunde und Nationalsozialismus. Berlin, Akademie Verlag, 2002.
- Geary, Patrick J.: Die Erfindung der Völker. Barbarian Identity in the Early Middle Ages. Frankfurt am Main, Campus Verlag, 2002.
- Hitler, Adolf: Mein Kampf. München, Zentralverlag der NSDAP, 1933.
- Höffler, Hans: Die Konstruktion der Germanen. Ideologie, Wissenschaft und Politik 1800–1945. Tübingen, Mohr Siebeck, 2010.
- Kater, Michael H.: Das "Ahnenerbe" der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, 1974.
- Müller, Jan-Werner: Another Country: German Intellectuals, Unification and National Identity. Yale University Press, 2000.
- Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München, Hoheneichen Verlag, 1930.
- Sieg, Katrin: Ethnic Drag: Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany. University of Michigan Press, 2002.
- Trommler, Frank: Germany in the Age of Total War. London, Croom Helm, 1982.
- Wippermann, Wolfgang: Fälschung, Dichtung und Wahrheit: zur Geschichte des völkischen Germanen-Mythos. Frankfurt am Main, Peter Lang, 1981.
- Wenskus, Reinhard: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes. Köln, Böhlau, 1961.