Willensfreiheit 3: Das Marionettentheater

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In den Händen des Marionettenspielers?

(hpd) Ich, Persönlichkeit, Willensfreiheit – von der Aufklärung konstruierte Fantasiegebilde, die es "laut der modernen Hirnforschung" gar nicht gibt. Dürfen wir den Mörder unserer Tochter überhaupt noch unsympathisch finden, wenn die Willensfreiheit nicht existiert?

Dürfen wir uns noch für eigene Fehler entschuldigen oder die Kinder für gute Noten loben? Können wir Entscheidungen bewusst treffen oder werden sie für uns getroffen?

 

Andreas Müller geht in diesem Artikel den Fragen über die Willensfreiheit nach, die unser alltägliches Leben am meisten betreffen und räumt mit falsch interpretierten Studien auf.

Hinweis: Michael Schmidt-Salomon wird auf diese Artikelreihe antworten.

 

Neurotrash

Nach dem letzten Teil dieser Reihe wurde kritisiert, dass meine Ausführungen sehr schwer zu verstehen seien. Das stimmt auch, liegt aber am Thema. Die Debatte um die Willensfreiheit ist eine Zaubershow mit schlechten Tricks und passenderweise lautet meine Hauptaussage, dass die Willensfreiheit unwichtig ist und es sich kaum lohnt, viele Worte darüber zu verlieren. Immerhin habe ich mehr als zehn Seiten gebraucht, um das festzustellen.

Vielleicht wurde die Willensfreiheit extra dazu erfunden, damit man sie nicht verstehen kann. Wie die Dreifaltigkeit oder wie alles, was Postmodernisten sagen. Bibliotheken sind gefüllt mit monumentalen Werken über die Frage, ob Eva einen Bauchnabel hatte und man hat ausführlich darüber spekuliert, wie Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist eine Person sein könnten. Vor nicht allzu langer Zeit galt es als ungemein tiefgründig, die Trinität mit den drei Aggregatzuständen von Wasser zu vergleichen. Diese Debatte wird nun über die Willensfreiheit geführt. An die Stelle allegorischer Glasmalerei ist die Aufnahme bunter Gehirnbilder getreten und anstelle von Seelenrettung geht es nun um die komplette Auflösung des Menschen mit allen seinen Einzelteilen, selbst jenen, die wirklich existieren. Die aufklärerische Dekonstruktionswut ist fertig mit Gott, Seele und allem Übernatürlichen, jetzt nimmt sie sich die Realität zur Brust.


Vom Unterbewussten zum Unbewussten

Warum Freud Unrecht hatteWie groß ist die Macht des Unbewussten? Gewiss eine interessante Frage, obgleich sie, wie man ergänzen sollte, nichts mit der Willensfreiheit zu tun hat. Man könnte genauso einen freien Willen haben und ihn unbewusst ausleben. Warum sollte man nicht unbewusst wollen können, was man will? Das ergäbe ebenso viel oder wenig Sinn, wie das bewusste Wollen ohne Ursache. Trotzdem sprechen Inkompatibilisten wie Thomas Clark und Michael Schmidt-Salomon dem Unbewussten tendenziell einen größeren Einfluss zu als Kompatibilisten.

Leider muss ich nun etwas sehr Offensichtliches feststellen, aber es gibt Leute, die es bezweifeln: Wir treffen Entscheidungen, die wir bewusst treffen, bewusst – wenn wir eine bewusste Entscheidung treffen, bemerken wir das schließlich. Eben das ist ja Bewusstsein! Wenn ich über ein philosophisches Problem nachdenke, dann denke ich bewusst über ein philosophisches Problem nach. Wir wissen ganz genau, was wir bewusst alles tun und denken, eben weil wir es bewusst tun und denken.

Für Sigmund Freud war das "Unterbewusste" eine enorm einflussreiche Angelegenheit und es befasste sich vornehmlich mit unseren Geschlechtsorganen und dem, was wir mit ihnen besser nicht tun sollten, vor allem, wenn wir Frauen waren. Im Christentum gibt es Schuldkomplexe als Strafe für sündige Gedanken und in der Psychoanalyse gibt es dafür – nun, ebenfalls Schuldkomplexe (in der Tat stammt der Begriff "Komplex" in seiner aktuellen Bedeutung aus der Psychoanalyse). In seinem 700-Seiten-Wälzer "Why Freud Was Wrong" stellt Richard Webster sogar fest, dass die Psychoanalyse nichts anderes war als "eine getarnte Fortführung der judeo-christlichen Tradition" (S. 5).

Bei einer derart festen kulturellen Verankerung würde doch niemand auf ein ordentliches Unterbewusstsein verzichten wollen, das uns zur Unzucht verleitet. Auf S. 133 in Jenseits von Gut und Böse heißt es, dass weniger als 0,1% unserer Gehirnaktivitäten ins Bewusstsein vordringe. Sicherlich wird die Berechnung des visuellen, akustischen, taktilen, etc. Inputs im Gehirn unbewusst verrechnet und dann der relevante Teil unserer Sinnesempfindungen und unseres Wissens an das bewusste Selbst weitergeleitet. Aber das ist nur die neurowissenschaftliche Beschreibung eines Vorgangs, den wir alle kennen. Eine Beschreibung ändert nichts am beschriebenen Vorgang. Fragen Mir egal, was Freud sagtSie sich einmal selbst: Wollen Sie, dass Ihnen bewusst wird, was alles in ihrem Verdauungsapparat vor sich geht?

Der Mediziner und Neuroskeptiker Raymond Tallis stellt in seinem Artikel "Neurotrash" fest: "Während es zutrifft, dass bestimmte Entscheidungsprozesse, von denen wir bislang annahmen, dass sie bewusst hervorgebracht wurden, automatisch ablaufen, bedeutet das nicht, dass alle oder die meisten Dinge, die wir tun, unbewusst sind. Stellen Sie sich vor, dass irgendeine alltägliche Aktivität – die Kinder von der Schule abholen, einen Bericht schreiben, eine Party vorbereiten – unbewusst durchgeführt würde."

 

Libet nicht

Das berüchtigte Libet-Experiment soll Benjamin Libet zufolge bewiesen haben, dass unbewusste Gehirnprozesse unsere Entscheidungen treffen. Doch hat das Experiment nichts dergleichen bewiesen und auch Folgeexperimente haben nichts dergleichen bewiesen (obwohl das, leider meist ohne Quellenangabe, immer wieder behauptet wird, zum Beispiel auf S. 112 in Jenseits von Gut und Böse). Ganz im Gegenteil. Tatsächlich kranken die Folgestudien entweder an den selben Problemen wie die Libet-Studie, oder, wie sich noch zeigen wird, sie widerlegen die Libet-Studie sogar!

Das Libet-Experiment lief so ab, dass Versuchspersonen mehrmals nacheinander eine simple Handbewegung ausführen sollten. Dabei wurde das motorische Bereitschaftspotenzial gemessen, das rund eine Sekunde vor der Bewegung einsetzt und es wurde gemessen, wann der Willensakt für die Handbewegung den Versuchspersonen bewusst wurde. Überraschung: Zwischen Bereitschaftspotenzial und bewusstem Willensakt lagen 350 Millisekunden, also wurde den Versuchspersonen die Bewegung erst bewusst, nachdem sie diese ausgeführt hatten. Und nun soll die Willensfreiheit widerlegt sein.

Libet gab sich damit nicht zufrieden: Er sagte den Versuchspersonen in einem Folge-Experiment, dass sie die Bewegung abbrechen sollen, kurz bevor sie ausgeführt wird. Dies gelang noch 100 Millisekunden vor der geplanten Ausführung. Kann unser Bewusstsein also unserem Nicht-Bewusstsein widersprechen? Tatsächlich stellt sich die Frage hier gar nicht.