Willensfreiheit 3: Das Marionettentheater

 

Abwegige Interpretationen

Libet-Experiment http://internetservices.readingeagle.com/blog/tullio/archives/6_2_Libet's_Experiment.jpg

 

Die Versuchspersonen hatten sich bereits dazu entschieden, die Handbewegung auszuführen, bevor das Experiment überhaupt begonnen hatte. Schließlich sagte man ihnen vorher, was sie während des Experimentes tun sollten. Die Testsubjekte entschieden sich dazu, den Anweisungen der Forscher zu folgen, als sie sich dazu entschlossen, am Experiment teilzunehmen. Die bewusste Entscheidung kam also in jedem Fall vor der Ausführung! Man ließ ihnen nicht einmal Handlungsalternativen, also hatten sie keinen Grund, etwas anderes zu tun, als das, was sie taten.

Das Ergebnis des Libet-Experiments lautet also: Wenn sich Menschen dazu entscheiden, 40 Mal nacheinander eine simple Handbewegung auszuführen und es kommt nichts dazwischen, dann führen sie 40 Mal nacheinander eine simple Handbewegung aus. Eine famose Erkenntnis. Sehen wir uns an, wie sie von Inkompatibilisten wie Alex Rosenberg verstanden wird:

"Es gibt eine Tatsache, von Libet entdeckt, dass Handlungen schon von DEINEM GEHIRN determiniert wurden, bevor DU bewusst entscheidest, sie zu tun!" [Meine Hervorhebungen].

Der naturalistische Philosoph Richard Carrier übersetzt diesen Satz wie folgt: "Es gibt eine Tatsache, von Libet entdeckt, dass Handlungen schon von DEINEM GEHIRN determiniert wurden, bevor DEIN GEHIRN bewusst entschieden hat, sie zu tun!" Er erklärt, warum dieser Satz Unsinn ist: " 'Du' bist das synaptische Muster von Erinnerungen, Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen, Gewohnheiten und Veranlagungen, Wünschen und Emotionen und so weiter, aus welchen sich dein Gehirn zusammensetzt." Wie kann unser Gehirn etwas entscheiden, von dem wir nichts wissen, wenn wir unser Gehirn sind?

Entscheiden "wir" etwas unbewusst, bevor "wir" es bewusst entscheiden?

Im Jahre 2008 wurde eine neue Studie veröffentlicht, die eine ganz andere Interpretation als die der Inkompatibilisten nahelegt. Mit den eigenen Worten der Forscher:

"Wenn eine Anweisung Raum gibt für zwei Alternativen, wie bei unserem Experiment, dann kann eine Entscheidung für eine der beiden Alternativen auch noch nach Einsetzen des Bereitschaftspotenzials getroffen werden. Es gibt also, wie es scheint, Gründe zu bezweifeln, dass Libets Ergebnisse als Belege gegen die Willensfreiheit interpretiert werden können."

Es ist wohl eher so, dass dieses Nachfolge-Experiment die Deutung des Libet-Experimentes widerlegt hat, laut dem unsere Entscheidungen unbewusst getroffen werden (von wem?), bevor uns diese Entscheidungen bewusst werden. Wir können bewusste Entscheidungen treffen und auf deren Grundlage handeln.

Wir atmen, wir fahren Fahrrad, wir Schwimmen, wir gehen die Treppen hinauf zum Büro, und all dies, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken würden. Und wozu sollten wir das auch tun? Das wäre reine Energieverschwendung. Wir benötigen unser Bewusstsein für wichtigere Aufgaben, wie dem Versuch, den penetranten Ohrwurm vom Morgenradio aus unserem Bewusstsein zu entfernen. Allerdings können wir uns jederzeit bewusst machen, dass wir unbewusst die Treppen hinaufgehen. Oder ist ihnen etwa nicht klar, dass sie jeden Tag die Treppen hinaufgehen, ohne darüber großartig nachzudenken? Jedenfalls insofern Sie jeden Tag Treppen hinaufgehen. Auch über das Atmen denken wir in der Regel nicht nach, können wir aber. Zum Beispiel bei Atemübungen während des Gesangsunterrichts.

 

Den Menschen hinter uns lassen

Ein Roboter mit WillensfreiheitEs steht zu befürchten, dass wir mit unseren Steinzeitgehirnen die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen können. Die Einkommensunterschiede werden immer größer, die Menschen drehen durch. Wir wollen nicht einmal dem Klimawandel Einhalt gebieten, oder gar aufhören, Tiere zu essen. Religionen werden radikaler, das Fernsehprogramm immer schlechter. Was für viele Menschen ein Grund zur Verzweiflung wäre, darin sehen Transhumanisten auch eine Chance. Ihr Ziel ist es, mit Hilfe der modernen Technologie in die menschliche Natur einzugreifen und sie zu verbessern. Der Mensch müsse seine eigene Evolution selbst in die Hand nehmen.

Der Transhumanismus hat einflussreiche Unterstützer wie Stephen Hawking. Michael Schmidt-Salomon lehnt diese Ideen vehement ab. Stattdessen versucht er uns mit philosophischen Mitteln zu überzeugen und den Ideenkampf zu gewinnen. Irgendwann sind wir vielleicht alle aufgeklärt und frei von Religion, Krieg und Tierverspachtelung. Bei Star Trek hat es ja auch geklappt. Ich selbst habe dazu keine eindeutige Meinung. Aber wenn sich die Menschheit weiterhin so beträgt, werde ich der erste sein, der sich ein Elektronengehirn einpflanzen lässt. Vielleicht kann ich mein Handy benutzen, um damit online zu gehen. Hoffentlich bleibt die Antivirensoftware am Ball.

Auf jeden Fall sollten wir nicht auch das Gute am Menschen wegphilosophieren oder wegbauen. Der Philosoph Tibor Machan kritisiert ebenfalls die ausufernden Schlussfolgerungen der Willens-Unfreiheits-Fraktion. So schreibt er in einem Artikel namens "Without Free Will" ("ohne Willensfreiheit") über die Inkompatibilisten:

"Niemand ist schuld an irgendetwas, behaupten sie, weil niemand etwas hätte anders tun können, als er oder sie es getan hat. Das ist nur eine Folge der Willens-Unfreiheit im menschlichen Leben. Was sind ein paar andere?

Bedauern ist draußen, Stolz auch. Entschuldigungen sind zwecklos, weil es niemand hätte besser tun können, als er oder sie es getan hat. Gewiss kann niemandem etwas vorgeworfen werden. Ebenso kann niemand für etwas gelobt werden. Wie es keinen Sinn ergibt, das Wetter dafür verantwortlich zu machen, unangenehm oder sogar schrecklich zu sein, so kann nichts von den schrecklichen Dingen, die Menschen tun, ihnen zur Last gelegt werden und ebenso kann niemand gelobt werden, weil alles einfach geschehen ist, wie es geschehen musste. Das bedeutet auch, dass Leitartikel, die irgendwem gratulieren oder jemand anderen schelten, alle Unsinn sind, Kauderwelsch, wenn es keinen freien Willen gibt. Vergessen Sie auch Bewunderung, denn keine Tat ist eine Funktion individuellen guten Urteilens und Aufwands. Es ist wie mit schönen Blumen, die einfach wachsen, wie auch sie das tun müssen.

Künstler müssen ihre Kunst machen, Mörderer ihre Morde, keine Alternative irgendeiner Art ist möglich, wie der Weg, den ein Fluss entlang fließt, er diesen entlang fließen muss."

Schmidt-Salomon schreibt dazu: "Wenn man die Fiktion der freien Willensentscheidung aufhebt und die Ermordung einer Person mit natürlichen Determinanten erklärt (etwa mit neuronalen Aktivitäten im Gehirn des Täters zum Zeitpunkt der Tat), so erhält dieser Mord gewissermaßen den Status einer Naturkausalität. Der Schmerz über den Verlust der geliebten Person wird dadurch zwar nicht geringer, doch immerhin wird verhindert, dass dieser Schmerz zusätzlich noch verstärkt wird durch das Gift der moralischen Empörung" (S. 275).