Ruhe ist keine Bürgerpflicht

Gibt es einen allgemeinen Angriff auf die Versammlungsfreiheit? Oder: G8-Protest und die Schwierigkeiten rechtsstaatlich

zu demonstrieren.

 

HAMBURG. Die Fraktion der GAL (Grün-Alternative-Liste) hatte gestern (Montagabend) in den Bürgersaal des Hamburger Rathauses eingeladen, um über aktuelle Probleme der Versammlungsfreiheit zu sprechen.

Als Referenten waren anwesend: Dr. Jürgen Kühling (Bundesverfassungsrichter a.D. und Mitglied der Humanistischen Union), Britta Eder (Anwältin, Vorstand Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.) und André Bunkowsky (Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Hamburg). Die Moderation hatten die Abgeordneten der GAL-Bürgerschaftsfraktion Antje Möller (Innenpolitik) und Dr. Till Steffen (Justizpolitik).

Hintergrund für die Veranstaltung: Die Vorkommnisse in Hamburg und Rostock bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm haben eine sehr grundsätzliche Diskussion um die Demonstrationsfreiheit und ihre Grenzen angefacht.

Vor diesem Hintergrund spielt das massive und repressive Auftreten der Hamburger Polizei anlässlich der Demonstration gegen den ASEM-Gipfel am Pfingstmontag eine besondere Rolle. In Teilen der öffentlichen Diskussion wird das Auftreten als besonders gelungener Einsatz dargestellt, der gewalttätige Ausschreitungen verhindert hätte. Im Gegensatz dazu sei die bei der Demonstration in Rostock zunächst gewählte Strategie der Deeskalation gescheitert.

In diesen polizeitaktischen Analysen bleibt das Demonstrationsrecht auf der Strecke. Der polizeiliche Umgang mit Demonstrationen und Protestierenden wird von situativen Einsatzlagen abhängig gemacht, die sich juristischer und parlamentarischer Kontrolle weitgehend entziehen. So werden im Vorfeld der Demonstrationen von der Polizei Sicherheitskonzepte geplant, die sich primär an dem Sicherheitsgedanken orientieren und dem Aspekt, dass es sich um die Verwirklichung elementarer Bürgerrechte handelt nicht gerecht werden. Analog dieser Linie kommt es dann auch während der Demonstrationen zu - teilweise ungerechtfertigten - einschränkenden polizeilichen Maßnahmen. Zunehmend erleben wir eine Überdehnung der ohnehin schon weit gefassten Polizeirechte des verschärften Hamburger Polizeigesetzes. Die jeweils nachträglich erlangten gerichtlichen Entscheidungen können dies nicht mehr korrigieren.

Möller/GAL: Dieses Thema gehört in die politische Diskussion und deshalb ist das Rathaus dafür der richtige Ort. Die Frage ist, ob sich in der Gesellschaft die Möglichkeit verändert, sich politisch zu artikulieren? Insbesondere hinsichtlich des Versammlungsrechtes und des vor zwei Jahren (zur Fußball-Weltmeisterschaft) neuen Polizeigesetz in Hamburg.

Steffen/GAL: Sind die Grundrechte also in guter Verfassung? Zweifel sind angebracht. Nicht nur aufgrund der aktuellen Pläne von Bundesinnenminister Schäuble, sondern auch aufgrund der bereits in den vergangenen Wochen erfolgten Einschränkung der Grundrechte. Frage an das Podium: Gibt es bei der Vorbereitung der Polizeieinsätze genügend Kenntnisse bei den PolizistInnen über Grundrechte?

Bunkowsky/GdP: Die Schulungen der Polizisten haben im internationalen Vergleich einen hohen Standard und dazu gehören auch die Kenntnisse der Grundrechte der Bürger. Zudem gibt es abgestufte Differenzierungen, so dass die Ausbildung für den Höheren Dienst insgesamt 9 Jahre dauert. Allerdings ist die praktische Umsetzung der Kenntnisse immer auch abhängig von der Persönlichkeit des Polizisten.

Möller/GAL: Wie ist die Ansprechbarkeit der Polizei vor Ort?

Eder: Wir arbeiten als „Anwälte vor Ort" und in dieser Hinsicht ist der G-8-Gipfel nicht untypisch. Die Problematik des anwaltlichen „Notdienstes" ist bei allen Demonstrationen stets die gleiche: Der Zugang zu den Mandanten wird sehr erschwert bis hin zur Verweigerung - mit der Aufforderung von Polizisten: „Verschwinde hier oder ich hau dir eins in die Fresse!" Die Polizeileitung ist häufig ansprechbar, die einzelnen Polizisten jedoch nicht. Sie erklären und begründen nichts von ihrem Verhalten und auf Fragen bekommt man nur die Antwort: „Habe den Befehl!". Dieses Verhalten und Unverständnis führt nicht zu einer möglichen Deeskalation.

Möller/GAL: Sind das eher atmosphärische oder eher rechtliche Probleme?

Kühling: Es gibt eine gute Nachricht, dass die formale Rechtslage in Ordnung ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht explizit den Grundrechten zugeordnet. Was unter anderem heißt, dass eine Demonstration in Sicht- und Hörweite statt zu finden hat und nicht irgendwo anders stattfinden darf. Zu den Grundrechten gehört auch, dass die Polizei die Aufgabe hat, auch dieses Demonstrationsrecht zu schützen. Die schlechte Nachricht ist. dass es erhebliche Defizite im Gesetzesvollzug vor Ort gibt.

Steffen/GAL: Gibt es generelle Einschränkungen speziell bei politischen Demonstrationen?

Bunkowsky/GdP: Das lässt sich so nicht sagen. Auch die Gewerkschaft der Polizei wurde bei einer eigenen Demonstration nicht in die Nähe des Polizeipräsidiums gelassen und von den eigenen Kollegen drangsaliert. Insgesamt neigt die Polizei im Einsatz zu Überreaktionen und sieht sich im Dilemma, gegenüber einer möglichen Gewaltbereitschaft zu Gegenmaßnahmen gezwungen zu sein.

Eder: Grundsätzlich wird der Bürger aus Sicht der Polizei als Störer und als potentielle Gefahr erlebt. Jeder von uns gilt als Störer. Andere Länder verfahren anders. In Frankreich wollen die Demonstranten etwas, die Polizei, der Staat will es nicht. Es kommt zu einer harten Konfrontation. In Deutschland wird das Verhalten der Polizei als „unpolitisch" dargestellt und jeder Verstoß gegen kleinkarierte Auflagen, z.B. die erlaubte Größe von Transparenten, wird mit Bußgeldern, Strafbescheiden etc. geahndet.

Kühling: Die Rechtslage ist gut, sie wird jedoch häufig genug nicht eingehalten und das Problem sind die stetigen Rechtswidrigkeiten durch Polizeibeamte, wie Fesselungen, Abtransporte, Einsperrungen aufgrund von Anweisungen und Befehlen. Dieses Verhalten wäre zu klären.

Publikumsfragen nach Auswahl und Ausbildung der Polizisten; Ist der Hamburger „Wanderkessel" nicht die Aufhebung der Demonstrationsfreiheit? Werden die einfachen Polizisten nicht selber auch instrumentalisiert?

Bunkowsky/GdP: Generell gilt die Ausbildung der Polizei als gut. Die Auswahl ist vorhanden. Von 1.800 Bewerbern werden nur 30 eingestellt. Die „Einkesselung" in Hamburg war politisch gewollt und gedeckt.

Eder: Es bestehen erhebliche Mängel an effektivem Rechtsschutz. Die Entscheidungen sind nicht zeitnah und so entsteht ein Kreislauf aus Polizeiverstößen, rechtlicher Klärung, erneuten Polizeiverstöße, erneuter rechtlicher Klärung etc. Es gibt vor Ort keinen „richterlichen Eildienst" und anwesende Richter sind nicht zu erreichen bzw. sind bei Beginn der Demonstration nach Hause gegangen.

Kühling: Der vorhandene Rechtsschutz führt jedoch nicht zum Einlenken der Polizei. Abhilfe könnte es durch Zahlung von Entschädigungen durch die Polizei geben, das wäre das Anlegen eines „goldenen Zügels":

Publikum: Die Menschen fühlen sich von Politik und Polizei nicht mehr ernst genommen; Immer wieder geht die Aggressivität von Polizisten aus; Das Vermummungsverbot gilt für Demonstranten - warum nicht auch für Polizisten? Die Schutzmasken unter den Helmen verhindern eine Identifizierung; Fehlende Kennzeichnung der Polizisten; Die Gewalt der Polizei braucht häufig nicht eine Gewalt seitens der Demonstranten.

Bunkowsky/GdP: Die Politik der letzten Jahre hat seit Innensenator Schill die Gewaltbereitschaft von Polizisten systematisch erhöht. Insofern ist sie politisch gewollt.

Kühling: Die Sicherheitskonzepte der Polizei sind häufig defizitär. Wünschenswert wären Konzepte, die zwischen allen Beteiligten abgestimmt wurden.

Eder: Derartige Kooperationen sind nicht erwünscht und es ist auch keine Redebereitschaft vorhanden - weder von der Polizei zu den Demonstranten, noch von den Richtern zu den Anwälten. Die Anwaltschaft des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins wird zudem als Teil der Störung betrachtet.

Möller/GAL: Kann es ein gemeinsames Konzept geben?

Bunkowsky/GdP: Die rechtlichen Vorgaben einer Abstimmung werden eingehalten und häufig auch realisiert. Die Kennzeichnung - mit Namensschildern - wird im normalen Einsatz akzeptiert und realisiert. Im geschlossenen Einsatz - mit Dienstnummern - wird sie nicht realisiert, da Kollegen auch gegen gezielte Angriffe geschützt werden müssen.

Publikum: Proteste, da die Anonymität der Polizisten ihrer Gewaltbereitschaft Vorschub leistet. Worin liegt die Ursache, wenn Polizisten Demonstranten primär als Straftäter sehen?

Bunkowsky/GdP: Das ist generell ein Problem der Einsatzleitung und Polizeiführung vor Ort.

Eder: Es gibt immer wieder Polizeieinheiten, die gezielt eingesetzt werden („Beweissicherung") und die vermummt, ohne jegliches äußere Kennzeichen, nicht mehr identifizierbar sind und auch nicht dem Einsatzleiter vor Ort unterstellt sind. Die Freiheitsrechte müssen dagegen immer wieder öffentlich anerkannt werden.

Kühling: Die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizisten muss kommen, um ihre persönliche Verantwortlichkeit zu verdeutlichen und einklagen zu können. Die bisherigen Urteile der Gerichte greifen nicht und der Zustand der Freiheitsrechte in Deutschland ist Besorgnis erregend.

Fazit: Es ist ein hoch emotionales Thema und zur Abwehr der weiteren Gefährdung der Grundrechte muss immer wieder und immer mehr Öffentlichkeit hergestellt werden.
Eine der konkreten Maßnahmen vor Ort wäre die Sicherstellung von Rechtsschutz durch Anwälte und Richter, die polizeiliche Entscheidungen wie Aufenthaltsverbote, Ingewahrsamnehmungen, etc. zeitnah überprüfen und dadurch umgehend korrigieren können und müssen.

CF.