(hpd) Der Historiker Götz Aly versucht in seinem Buch das Aufkommen des Antisemitismus und seine Entwicklung bis zum Holocaust als Folge des Sozialneids der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Juden zu deuten. So sehr diese Einschätzung das Aufkommen von Missgunst und Ressentiments erklären kann, so wenig kann sie allein oder primär den Weg hin zum Massenmord an den Juden erklären.
Warum entstand in Deutschland ein so stark ausgeprägter Antisemitismus, der in einem Massenmord an den Juden gipfelte? Diese Frage wird seit 1945 in Öffentlichkeit und Wissenschaft kontrovers diskutiert. Einen weiteren Deutungsansatz legt jetzt der Historiker Götz Aly in seinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass“ vor. Darin kritisiert er zunächst die dominierende Sicht auf den Holocaust, welche die Täter nicht als normale Deutsche, sondern als „außerirdische Exekutoren“ (S. 8) darstelle. Man könne aber, so Alys Argumentation, ein solches Verbrechen nicht nur mit dem Hinweis auf die menschenverachtende NS-Führung erklären, hätte doch die deutsche Gesellschaft die Entwicklung dort hin zu großen Teilen mitgetragen. Ziel seines Buches sei es, „einige Sichtblenden weg zu schieben, die den Blick auf die Vorgeschichte derart verengen, dass der Nationalsozialismus zum Fremdkörper, zum im Grunde unbegreiflichen Fehltritt im Gang deutscher Geschichte wird“ (S. 9).
Um dieser Auffassung eine andere Sicht entgegen zu stellen, rekonstruiert der Autor noch einmal die Geschichte des Antisemitismus von 1800 bis 1933, also die Ära der halbherzigen Emanzipation der Juden von oben, des aufkommenden Nationalismus mit Ausgrenzungstendenzen, des breiten antisemitischen Sozialneids in den Wirtschaftskrisen, der forcierten Herausbildung einer rassistischen Judenfeindschaft, der virulenten Ressentiments in den Krisenphasen der ersten Republik und des nationalsozialistischen Antisemitismus als Konsequenz der Volksgemeinschaftsideologie. Dabei konzentriert Aly den Blick auf die Wahrnehmung von Juden durch ihre Feinde: „Wer den Antisemitismus in der deutschen Mehrheitsbevölkerung verstehen will, muss auch über die Gewandtheit und den Bildungswillen, die Geistesgegenwart und den schnellen sozialen Aufstieg so auffällig vieler Juden sprechen. Erst dann wird der Kontrast zur insgesamt trägen deutschen Mehrheitsbevölkerung, werden die Ansatzpunkte des Antisemitismus sichtbar“ (S. 20).
Der Autor geht demnach bei der Deutung dieser Entwicklung davon aus, dass der soziale Aufstieg von Juden durch Bildungsstreben und Wagemut innerhalb der Mehrheitsgesellschaft Missgunst und Neid ausgelöst hätten, welche im Lichte von Freiheitsangst und Gleichheitsidealen eben in Antisemitismus umgeschlagen seien. Dafür sprechen in der Tat eine Fülle von historischen Beispielen, die sich durch Alys Buch ziehen. Merkwürdigerweise geht der Autor nur kursorisch auf die Entwicklung des „Agrarantisemitismus“ im Wilhelminischen Kaiserreich ein, konnte man dabei doch den direkten Kontext von Judenfeindschaft und Sozialneid in aller Offenheit beobachten. Dafür weicht die Darstellung hier und da vom eigentlichen Schwerpunktthema ab, liefert aber so auch wichtige Informationen zu mittlerweile vergessenen Details. Dies gilt etwa für die Ausführungen über die judenfeindlichen Tendenzen bei den Revolutionären von 1848 oder für den antisemitischen Zukunftsroman „Stadt ohne Juden“ von 1922.
Erneut legt Aly mit „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ eine Arbeit vor, welche durch eine Erkenntnis fördernde und innovative Herangehensweise beeindruckt. Erneut kann Aly damit letztendlich aber nicht überzeugen, weil er wiederum einen Gesichtspunkt zum zentralen Erklärungsmuster verabsolutiert. Seine Hervorhebung des Faktors „Neid“ kann erklären, warum es Feindschaft und Vorurteile gab. Dadurch lässt sich aber gerade nicht die „Frage aller Fragen“ (S. 7) nach den Gründen für den Massenmord an den Juden beantworten. Die geschilderten Aversionen und Ressentiments gab es auch in anderen Ländern, wo es aber eben nicht zu einem Holocaust kam. Hier bedarf es sicherlich einer differenzierteren und komplexeren Argumentation. Darüber hinaus neigt Aly hier wie in einer früheren Darstellung dazu, eine Abneigung gegenüber den Risiken des freien Marktes und eine Vorliebe für den schützenden Sozialstaat in einen Kontext zu Antisemitismus und Nationalsozialismus zu bringen. Eine solche Sicht ist zumindest in dieser Pauschalität nicht haltbar.
Armin Pfahl-Traughber
Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass, Frankfurt/M. 2011 (S. Fischer-Verlag), 352 S., 22,95 €