(hpd) „In keinem Land der Welt“, so Alexis de Tocqueville bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, „behält die christliche Religion mehr Einfluss
auf die Seelen der Menschen als in Amerika.“ Dies bekam der Philosoph Sam Harris nach der Veröffentlichung seines Buchs „The End of Faith“ 2005 (dt.: „Das Ende des Glaubens“, 2007) zu spüren. Er hatte darin einen argumentativen Generalangriff gegen Begründung und Moral des Christentums und der Religion vorgenommen. Nachdem das Buch zu einem Bestseller wurde und weite Verbreitung fand, erhielt Harris feindselige und hasserfüllte Briefe von Christen, die in ihren Mitteilungen häufig mit Bibelzitaten ihre moralische Anmaßung und persönliche Intoleranz dokumentierten. Diese Schreiben motivierten den Autor 2007 zu einer Antwort im Sinne einer kleinen Streitschrift mit dem Titel „Letter to a Christian Nation“. Mittlerweile liegt auch eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Brief an ein christliches Land. Eine Abrechnung mit dem religiösen Fundamentalismus“ vor.
Harris spricht im Text die Christen in den USA direkt an und fragt kritisch nach der Rechtfertigung ihres Anspruchs auf eine bessere Moral. Exemplarisch verweist er auf die zahlreichen inhumanen Textstellen in der Bibel, ohne die ganz anderen Inhalte zu leugnen. Der Autor macht dabei aber deutlich, dass sich diese bereits in Philosophien und Religionen vor dem Christentum fanden und dieser Glaube darauf keinen genuinen Anspruch erheben kann. Dafür konnten Christen aufgrund von Bibelauslegungen, die den damaligen Theologen angemessen erschienen, jahrhundertelang im Namen ihres Gottes andere Menschen unterdrücken und verfolgen. Auch die Sklaverei lasse sich mit Verweis auf eine Reihe von Stellen im Neuen Testament legitimieren. Ebenso wenig wie demnach das Christentum zu einem moralischen Verhalten geführt habe könne der Atheismus für unmenschliche Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Immerhin sei den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts ebenfalls ein nahezu religiöser Dogmatismus eigen gewesen.
Harris’ „Brief an ein christliches Land“ ist mehr eine essayistische Streitschrift und weniger eine wissenschaftliche Analyse. Inhaltlich springt der Autor nicht selten hin und her, verbal polemisiert und überspitzt er gern. Dies macht die Lektüre aber auch abwechslungsreich und spannend. Sein Text bringt den Kennern der Materie nicht unbedingt neue Argumente. Gleichwohl findet man bei Harris interessante und reflexionswürdige Aussagen wie etwa: „Atheismus ist nichts anderes als das Geräusch, das vernünftige Menschen angesichts ungerechtfertigter religiöser Glaubenspostulate von sich geben.“ (S. 75) oder: „Religion ist die einzige Art von Denken, die das Gruppenspezifische dem Gruppenfremden gegenüberstellt und die die Unterschiede zwischen den Menschen im Lichte eines ewigen Lohnes versus einer ewigen Strafe betrachtet“ (S. 106). Übrigens ist der für die deutsche Übersetzung gewählte Untertitel inhaltlich unzutreffend: Es geht nicht nur um eine „Abrechnung mit dem religiösen Fundamentalismus“, sondern mit Religion überhaupt.
Armin Pfahl-Traughber
Sam Harris, Brief an ein christliches Land. Eine Abrechnung mit dem religiösen Fundamentalismus. Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Yvonne Badal, München 2008 (C. Bertelsmann-Verlag), 125 S., 9,95 €. ISBN-13: 978-3570009970