Das Gespenst des Fundamentalismus

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Demonstranten / Foto: la-croix.com

PARIS. (hpd) Die Pariser Massenproteste gegen die Homo-Ehe zeigen eines deutlich: Der religiöse Fundamentalismus lebt und er ist gefährlich. Frankreichs Soziologen und Philosophen sind ratlos: Hundertausende drängen sich in den Strassen von Paris, um gegen die Rechte einer diskriminierten Minderheit zu protestieren.

Sie marschieren nicht etwa für eigene Rechte und Vorteile, sondern für abstruse und anachronistische Ideale, die den Erkenntnissen der Naturwissenschaften widersprechen und sich ideologisch auf die Bibel und kirchliche Dogmen berufen. Die Demonstrierenden wollen den Homosexuellen das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe nicht zugestehen. Christen protestieren gemeinsam mit Rechtsradikalen. Der Front National und Sarkozys UMP wittern Morgenluft. Auch die katholische Kirche unterstützt den Protest. Muslime, Juden und Evangelikale schliessen sich an.

Auf dem Nährboden des christlichen Fundamentalismus zeichnet sich ein neuer Kulturkampf ab, dessen historische Wurzeln im erbitterten, antimodernistischen Widerstand der katholischen Kirche gegen Wissenschaft, Demokratie und Menschenrechte im 19. Jahrhundert liegen. Erster, blutiger Höhepunkt dieses Kulturkampfes in der Schweiz war der Sonderbundskrieg im Jahr 1847. Weitere Brandherde loderten weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Papst Franziskus freut sich über die Demonstrationen

Es herrscht ein Klima der verbalen Gewalt. Die Anführerin der französischen Bewegung gegen die Homo-Ehe rief aus: "Hollande will Blut, er wird es bekommen!" Eine ehemalige Ministerin der Sarkozy-Regierung warnte vor der Demontage der "christlich-abendländischen Kultur" durch die Überschwemmung mit Schwulen und Lesben. Die Stimmung ist angeheizt. Die homophoben Attacken nehmen zu. Ein Linksaktivist wird von Neo-Nazis umgebracht.

Die Bewegung erhielt letzte Woche Unterstützung aus dem Vatikan. Papst Franziskus zeigte sich erfreut "über die Tatsache, dass die französische Gesellschaft ein gewisses Bild vom Menschen und seiner Würde wiederentdeckt", das "von der Kirche und anderen" vertreten werde. Gleichzeitig gab Franziskus bekannt, dass im Vatikan eine "schwule Lobby" unter Priestern existiere.

Von Russland bis Kroatien, von Italien bis zur Türkei

Die Brandherde gegen die Homosexuellen vervielfachen sich: In den Ländern des Ostblocks kommt es immer wieder zu Übergriffen auf Homosexuelle. In Russland warfen orthodoxe Priester Steine und Exkremente auf schwule Männer und die russische Duma verabschiedete am 11. Juni ein Gesetz, das "homosexuelle Propaganda" unter Strafe stellt. Weitere "Erfolge" feiern die christlichen Bussprediger in vielen anderen Ländern, beispielsweise Kroatien, Italien und Brasilien. Überall wird die homophobe Haltung fundamentalistisch begründet, also mit der Bibel oder der Tradition.

Unter Kulturkampf läuft auch das Scharmützel zwischen dem Zürcher Regierungsrat Martin Graf und dem Churer Bischof Vitus Huonder. Als Graf der katholischen Kirche verfassungswidrige Verhältnisse und "geschützte Werkstätten" vorwarf, verlangte Huonder umgehend eine Entschuldigung gegenüber Rom. Wann fordern Chur und Rom den Gang nach Canossa?

Der Kulturkampf der Tradition gegen die Moderne zeigt sich auch in der muslimisch geprägten Türkei, wo der Konflikt auf dem Taksim-Platz in Istanbul eskalierte, nota bene im Stadtteil, der in Europa liegt.

"Rom ist der Versuchung des Fundamentalismus erlegen"

Im vergangenen März hat Hermann Häring, emeritierter Professor für Wissenschaftstheorie und Theologie, das Buch "Versuchung Fundamentalismus" veröffentlicht, in dem er eine brisante Analyse des katholischen Fundamentalismus liefert. Laut Häring ist "Rom unter Benedikt XVI. der Versuchung des Fundamentalismus erlegen". Bereits in einem früheren Vortrag erklärte Häring, der Fundamentalismus sei christlichen Ursprungs und "historisch wie inhaltlich ein modernes Phänomen". Die Bezeichnung sei vor gut hundert Jahren in den Südstaaten der USA aufgekommen, wo der christliche Glaube auf die folgenden Fundamente gesetzt worden sei: "Irrtumslosigkeit der Bibel, die Gottheit Jesu, Jungfrauengeburt und Wunder, der Erlösungstod Jesu für unsere Sünden, schliesslich die leibliche Auferstehung und Wiederkehr Jesu Christi".

Andere umstrittene Themen seien später hinzugekommen, so "die Weltschöpfung im Sinne des Genesisberichts, damit verbunden die Ablehnung des Darwinismus, die historische Existenz einer Sintflut, ferner ethische Grundsätze, darunter die Verurteilung der Homosexualität sowie ein strenges Abtreibungsverbot". Laut Häring zeigt sich der Fundamentalismus durch "ein autoritäres Verhalten, die Diskriminierung von Andersdenkenden und deren leichtfertigen Ausschluss aus der Glaubensgemeinschaft, Besserwisserei und Intoleranz bis hin zur Gewalt und der Bedrohung von Leib und Leben."

Besserwisserei als Basis für mögliche Gewaltexzesse

In einem Interview mit Radio SRF 2 sagte Häring, der römisch-katholische Fundamentalismus behaupte aufgrund des Unfehlbarkeitsdogmas: "Es gibt eine Wahrheit und gläubig ist im Grunde nur, wer sich treu dem Lehramt unterordnet." Der christliche Fundamentalismus habe "viel mit Gewalt zu tun", auch wenn sich diese "nicht von Anfang an als Gewalt" zeigen müsse. Die "Besserwisserei" sei die Basis dafür, "dass in späteren Wellen wachsender Verhärtungen so etwas wie Gewaltexzesse passieren können". Der Vatikan kämpfe gegen die "Diktatur des Relativismus" und gegen den "Pluralismus". Intoleranz und politische Gewalt seien die Folge.

Savonarola und das Fegefeuer der Eitelkeiten

Wie schnell Intoleranz und Fundamentalismus in eine Schreckensherrschaft umschlagen können, zeigt die Geschichte von Florenz. Von 1494 bis 1498 regierte dort der Dominikanermönch und Bussprediger Girolamo Savonarola. Innert weniger Monate gelang es ihm, aus dem lebensfrohen und für die damalige Zeit offenen und toleranten Florenz einen asketischen Gottesstaat des Terrors und der Angst zu machen. Seine Hass-Reden gegen die Renaissance, den Humanismus und die Ideale der Antike verpackte er geschickt in Tiraden gegen die Sittenlosigkeit seiner Zeit, insbesondere gegen die Lasterhaftigkeit im Vatikan.

Es war die Glanzzeit von Leonardo da Vinci, Michelangelo und Botticelli. Am 7. Februar 1497 loderte auf der Piazza della Signoria in Florenz ein riesiger Scheiterhaufen. Unter dem Diktat Savonarolas warfen die Menschen alle ihre Kostbarkeiten ins "Fegefeuer der Eitelkeiten". Auch Botticelli übergab seine eigenen Bilder den Flammen. Seine zuvor farbenprächtigen, lebensfrohen Gemälde erstarrten in dunklen Szenen aus Schrecken, Tod und Höllenfeuer.

1498 wurde Savonarola gehängt und verbrannt. Im evangelischen Kalender figuriert Savonarola als Märtyrer und Papst Johannes-Paul II. leitete 1998 ein Verfahren zur Seligsprechung ein. Savonarolas Körper verbrannte, sein Geist lebt offenbar weiter.

Immunisierung gegen religiösen Fundamentalismus

Wie die Reaktion von Papst Franziskus zeigt, freut sich der Vatikan über die neu aufflackernden Brandherde des Kulturkampfes. Der fundamentalistische Kurs von Benedikt XVI. könnte sich mittel- und langfristig als erfolgversprechend herausstellen und Franziskus wird sich hüten, davon abzuweichen. In Rom weiss man ganz genau, dass die Menschen evolutionär mit dem religiösen Virus infiziert sind und dass die leeren Kirchenbänke nicht das Ende der Geschichte sind.

Kulturkämpferische Massenbewegungen können zusammen mit sozialen Krisen leicht in Gewalt und Chaos ausarten und den Boden für diktatorische Kräfte bereiten. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Renaissance der Aufklärung, welche die Menschen in Europa an den Leitspruch der Aufklärung "Sapere aude" (Wage es, vernünftig zu sein) erinnert. Der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) hat diesen Leitspruch, der ursprünglich vom römischen Dichter Horaz (65 – 8. v. Chr.) stammt, an den Anfang seiner Schrift "Was ist Aufklärung" (1784) gesetzt.

Sapere aude!

Zur Immunisierung gegen religiösen Fundamentalismus sei hier an die Einleitung der Kantschen Aufklärungsschrift erinnert, welche am Anfang der europäischen Wende zu Demokratie und Rechtsstaat stand:

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

Kurt Marti

Übernahme von infosperber.ch mit freundlicher Genehmigung des Autors.