Missbrauch an der katholischen Privatschule Notre-Dame de Bétharram:

Ein Skandal mit System

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Notre-Dame de Bétharram, ganz im Süden Frankreichs gelegen
Notre-Dame de Bétharram

Frankreich ist erschüttert von neuen Enthüllungen über sexuellen Missbrauch an katholischen Privatschulen – diesmal betrifft es die traditionsreiche Eliteschule Notre-Dame de Bétharram in Pau. Was sich dort offenbar über Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinweg unbemerkt – oder schlimmer noch: stillschweigend geduldet – abspielte, wirft ein grelles Licht auf ein strukturelles Versagen, das weit über Einzelfälle hinausgeht.

Notre-Dame de Bétharram ist ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe kirchlicher und privater Internate, in denen Kinder statt Bildung Demütigung und statt Schutz Gewalt erfahren mussten. In Deutschland stehen Einrichtungen wie das Kloster Ettal, das Canisius-Kolleg in Berlin und die Odenwaldschule für ein Erziehungsmodell, das autoritäre Strukturen unter dem Deckmantel pädagogischer Ansprüche rechtfertigt und dabei übergriffige Machtverhältnisse verschleiert.

Ein parlamentarischer Untersuchungsbericht legt nahe, dass an der 1837 gegründeten Schule ganz im Süden Frankreichs über Jahre hinweg Schüler psychisch und physisch misshandelt wurden – durch Schläge, sexualisierte Gewalt, systematische Einschüchterung und öffentliche Demütigung. Ehemalige Schüler sprechen von einem "Klima der Angst und Unterwerfung". Manche berichten von gebrochenen Nasen, andere von Kindern, die im Winter halbnackt draußen übernachten mussten – als Strafe.

Besonders schwer wiegt der Verdacht, dass Verantwortliche Hinweise ignoriert oder gar aktiv unterdrückt haben könnten – mutmaßlich, um den Ruf der Institution zu wahren. Die Affäre ist auch politisch hochbrisant: Der amtierende Premierminister François Bayrou, ein prominenter Vertreter des katholischen Zentrismus, war früher Bildungsminister und ist seit 2014 auch Bürgermeister von Pau. Die Bayrous sind erzkatholisch, seine Frau Élisabeth unterrichtete in Bétharram den Katechismus – das gibt dem Skandal eine besondere zusätzliche Note. Doch damit nicht genug: Während Bayrous Amtszeit als Minister wurde der damalige Direktor der Schule, Pater Pierre Silviet-Carricart, wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt. Das Verfahren wurde gegen den Willen des Untersuchungsrichters eingestellt und der beschuldigte Priester nach Rom versetzt, wo er sich im Jahr 2000 das Leben nahm.

Es ist kein Zufall, dass gerade an katholischen Schulen und Internaten immer wieder solche Skandale auftreten. Das Problem ist nicht allein individuelles Fehlverhalten, sondern ein toxisches System von Macht, Kontrolle und fehlender Transparenz. Die pädagogische Autorität wird hier oft nicht von Professionalität getragen, sondern von geistlichem Status – eine gefährliche Konstellation, wenn es an Aufsicht und Rechenschaftspflicht fehlt.

Dass der Skandal in Notre-Dame de Bétharram jetzt überhaupt öffentlich diskutiert wird, ist einzig dem Mut ehemaliger Schüler und der Ausdauer investigativer Journalisten zu verdanken – nicht etwa dem katholischen Träger oder der Institution selbst. Das macht die Situation umso beschämender. Die Aufarbeitung kirchlicher Missbrauchsskandale kommt in Frankreich, wie in vielen anderen Ländern, nur schleppend voran. Kommissionen werden gegründet, Berichte geschrieben – doch an der Struktur ändert sich wenig. Rund ein Fünftel aller französischen Kinder besucht katholische Privatschulen, die werden zwar zum großen Teil vom Staat finanziert, die Behörden nehmen aber ihre Kontrollpflicht nicht wahr. Die katholische Kirche ist auch im laizistischen Frankreich eine mächtige Organisation.

Die Affäre Bétharram ist keine Ausnahme – sie ist die Spitze des Eisbergs. Auch an anderen katholischen Einrichtungen erheben mehr und mehr ehemalige Schüler Vorwürfe. Was es jetzt braucht, ist keine diplomatische Beschwichtigung, sondern ein politischer und gesellschaftlicher Aufschrei. Transparente Kontrollmechanismen, unabhängige Aufsichtsinstanzen, strafrechtliche Verfolgung und echte institutionelle Reformen sind überfällig. Vor allem aber: eine Kultur des Hinschauens statt des Vertuschens. Konsequenzen blieben bisher aus: Romain Clercq, der seit 2011 Leiter der Einrichtung in Pau mit derzeit etwa 500 Schülern war, "wird mit einer neuen Aufgabe betraut", erklärte Jean-Marie Ruspil, Regionalvikar der Kongregation der Patres von Bétharram vor wenigen Wochen. "Diese Änderung steht meines Wissens in keinem Zusammenhang mit den Enthüllungen", fügte Ruspil hinzu. Inzwischen wurde Clercq zum Leiter des Collège-Lycée Saint-Joseph im benachbarten Oloron-Sainte-Marie ernannt – Vertuschen statt Aufarbeiten bleibt nach wie vor die Devise.

Solange die Träger und Verantwortlichen von Schulen wie Notre-Dame de Bétharram nicht umfänglich zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt die angeblich christliche Botschaft, für die sie stehen, ein leeres Versprechen. Und der Schutz der Kinder – das eigentlich Unverhandelbare – bleibt fahrlässig dem Zufall überlassen. Trotz zahlreicher Vorfälle und Skandale, wie die um den Obdachlosenpriester Abbé Pierre, ermitteln die französischen Behörden in solchen Fällen nur zaghaft. Die Dunkelziffer ist groß: Die Zahl der Opfer sexueller Belästigung durch Priester in Frankreich wurde auf Basis der Daten von 1950 bis 2020 von einer Kommission auf 216.000 Kinder geschätzt.

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