Die Beendigung des Schweigens über die Missbrauchsverbrechen der katholischen Kirche und der Kampf für Entschädigungszahlungen an die Opfer standen im Mittelpunkt einer zweitägigen Konferenz in Frankreich. Betroffene und internationale Freidenkerorganisationen tagten in Grenoble und Lyon.
Die beiden urbanen Zentren im Südosten Frankreichs, Grenoble und Lyon, waren am 10. und 11. Oktober Tagungsorte im Rahmen des 9. Kongresses der Internationalen Vereinigung der Freidenker (IAFT: International Association of Free Thought = AILP: Association Internationale de la Libre Pensée).
Im Mittelpunkt der Tagung stand die Forderung nach Gerechtigkeit für die Missbrauchsopfer der katholischen Kirche sowie nach angemessenen Entschädigungszahlungen. Ein weiteres Ziel der Konferenz war die Stärkung der internationalen Vernetzung zwischen den Freidenkerorganisationen und den Betroffenenverbänden als Ausdruck der Solidarität mit den Opfern des Klerus weltweit.
Ursprünglich war Lyon als Veranstaltungsort vorgesehen. Als Bischofssitz und ehemalige Wirkungsstätte von Kardinal Philippe Barbarin, der wegen Vertuschung von Missbrauchsvorwürfen zunächst verurteilt und später freigesprochen wurde, galt die Stadt laut einem der Organisatoren als besonders symbolträchtig. Lyon repräsentiere wie kaum eine andere französische Stadt den nach wie vor ungebrochenen Einfluss der katholischen Kirche in Frankreich.
So gestaltete sich die Suche nach einem geeigneten Tagungsort im Vorfeld als herausfordernd, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die katholische Kirche in Lyon zu den größten Grund- und Immobilienbesitzern der Stadt zählt. Letztlich wich die Fédération Nationale de la Libre Pensée (FNLP) auf Grenoble aus – eine Entscheidung, die sich als glückliche Fügung erwies:
Grenoble, historisch einer der Sicherheitsplätze für die Hugenotten während der französischen Religionskriege, spielte auch eine zentrale Rolle in der Vorgeschichte der Französischen Revolution. Widerständigkeit scheint tief in der DNA der Stadt verwurzelt zu sein – keine schlechte Wahl für die Freidenkerverbände!

Die international besetzte Veranstaltung fand schließlich im Rathaus von Grenoble statt. Von großem Nutzen für die rund 90 Teilnehmer aus aller Welt war an beiden Tagen die Simultanübersetzung in die Konferenzsprachen Französisch, Englisch und Spanisch.
Dem im Rahmen der Eröffnung verlesenen Grußwort des Bürgermeisters der Stadt folgten an beiden Tagen sowohl Beiträge der vor Ort anwesenden als auch der online zugeschalteten internationalen Verbände, begleitet von Berichten der Missbrauchsopfer.
Die Schwestern des "guten Hirten"
Die 78-jährige Éveline Le Bris, Sprecherin der Betroffenengruppe der Schwestern des Guten Hirten/Filles du Bon Pasteur, berichtete – als wäre es gestern gewesen – von unzähligen Übergriffen und Misshandlungen, die sie während ihrer Zeit im "Bon Pasteur" erlebte. Zwischen 1963 und 1966 war sie Insassin der Einrichtung in Angers und Le Mans (rund 40 solcher Häuser gab es seinerzeit), nachdem sie als Elfjährige Opfer einer Vergewaltigung geworden war.

Die Mädchen wurden dort zu harter, unbezahlter Arbeit gezwungen oder erhielten lediglich ein minimales Entgelt. Demütigungen und brutale Strafen wie Einzelhaft gehörten zum Alltag, ebenso wie der Einsatz von Medikamenten, um die jungen Mädchen und Frauen ruhig zu stellen. Für viele war dies eine ausweglose Situation, in der sie, von der Außenwelt und ihren Familien nahezu vollständig isoliert, keinerlei Unterstützung erhielten. Heute können weltweit nur noch etwa 300 überlebende Frauen Zeugnis von den Gräueltaten ablegen, die hinter den Mauern dieser Einrichtungen begangen wurden. Viele von ihnen haben ihr Leben lang geschwiegen, so Éveline Le Bris, aus Scham oder weil sie das Erlebte verdrängt haben.
Sie habe den Kampf aufgenommen und denke nicht daran zu ruhen. Noch im März 2025 sagte Éveline vor der Parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Gewalt in schulischen bzw. erzieherischen Einrichtungen öffentlich aus.
La Belle Étoile
Gérard Ponson aus Grenoble berichtete über seine Zeit im katholischen Erziehungsheim "La Belle Etoile" ("Schöner Stern"). Wenn er dieses Zentrum mit einem einzigen Gefühl beschreiben müsste, so Ponson, wäre es "Leiden".

Inspiriert auch von seiner Geschichte entstand 2023 der Dokumentarfilm "Les oubliés de la Belle Étoile", in dem eine Reihe von Überlebenden nach vielen Jahren die "Omertà" durchbricht und über das erlebte Grauen berichtet. Die Jungen mussten im tiefen Winter mit kurzen Hosen herumlaufen, hatten keine festen Schuhe und sogar ein Armbruch wurde bei ihm über Wochen hinweg nicht korrekt behandelt, erinnert sich Ponson. Die Angst und der Schrecken waren so allgegenwärtig, dass sich viele der Jungen nachts einnässten und anschließend gezwungen wurden, mit den durchnässten Kleidern um den Hals zu schlafen. Auch heute noch, so Ponson, leide er an den physischen und psychischen Folgen dieser Zeit.
Zwangssterilisationen und Adoptionsbusiness in Belgien
Françoise aus Belgien berichtete von dem Schicksal zahlloser junger, unverheirateter Mütter in Belgien, die über Jahrzehnte hinweg stigmatisiert und in katholischen Einrichtungen weggesperrt wurden.
Viele schwangere Frauen reisten aus dem Süden des Landes in den Norden – nach Flandern – oder nach Frankreich, wo sie aufgrund einer anderen Gesetzeslage anonym, meist in katholischen Krankenhäusern, ihre Kinder zur Welt bringen konnten. Diese Frauen wurden häufig zwangssterilisiert, während ihre Neugeborenen von der Kirche und anderen beteiligten Akteuren in die Adoption gegeben und zurück nach Belgien verkauft wurden – ein lukratives Geschäft.
Allein in Flandern sollen Tausende von Kindern betroffen gewesen sein. Im Jahre 2014 kam der Skandal ans Licht, wobei ein Bischof behauptete, die damaligen Adoptionen seien alle freiwillig erfolgt, so die Rednerin. Der belgische Staat war nach Angaben der Referentin dabei Komplize der Kirche, während die Opfer dieser Praktiken noch immer um die Anerkennung ihres Leids kämpfen.
Bis heute gab es keine Anklage gegen die Kirche in Belgien. Zwar bekundete der Papst 2024 sein Bedauern über diese Ereignisse, doch eine Entschuldigung oder Entschädigung für das erlittene Leid blieb aus. Auch der belgische Staat unternimmt in Bezug auf Entschädigungszahlungen nichts, so die Referentin. "Es ist nicht die Aufgabe des belgischen Steuerzahlers, für diese Verbrechen aufzukommen", so Françoise, die entschlossen die Beschlagnahmung kirchlicher Güter zur Entschädigung forderte. Unter Applaus der Anwesenden betonte sie, dass es Aufgabe des Staates sei, seine Bürger zu schützen und nicht die Kirche.
Ein Fall von Exorzismus
Mit Cathérine Giraud aus Grenoble war eine Betroffene von kirchlicher Übergriffigkeit in Form eines Exorzismus als Rednerin vor Ort. Sie schilderte mit beklemmender Detailgenauigkeit ihren Leidensweg von einer "spirituell Suchenden" zu einer angeblich "vom Satan Besessenen".

Von Juni 2018 bis Juli 2020 durchlebte sie einen Albtraum, der sie bis hin zu einem Suizidversuch trieb. Als Lehrerin, Mutter von vier Kindern und Katholikin hatte Cathérine 2018 nach mehr Spiritualität gesucht. Sie geriet unter den Einfluss von Pater Emmanuel Dumont, Exorzist der Diözese Lyon, und einer Heilerin, die angeblich die Präsenz des Satans verspüren konnte.
"Er kam zu dem Ergebnis, dass ich satanischen rituellen Missbrauch und Vergewaltigungen erlitten hatte. Seiner Meinung nach hätte ich sogar als kleines Mädchen an Kindermorden teilgenommen. Ich war so überzeugt davon, die Inkarnation des Bösen zu sein, dass ich daran dachte, zu verschwinden. Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen."
Es bedurfte zweieinhalb Jahre der Psychotherapie bis Cathérine erkannte, dass nicht sie das Problem war. In dieser Zeit hatte sie sich mit anderen Betroffenen über soziale Medien vernetzt und begann, das ganze Ausmaß der Übergriffe zu begreifen. Ihre Hilferufe an die Diözese Lyon blieben zunächst ohne Antwort – zumal der verantwortliche Exorzistenpriester Emmanuel Dumont mittlerweile nach Paris versetzt worden war, ohne dass die Diözese Details zu den Vorwürfen gegen ihn nannte.
Außer einer geringfügigen, nicht geforderten Beteiligung an den Kosten ihrer Psychotherapie hat es bis heute keine Entschädigungszahlungen durch die Kirche gegeben.
Angereist als einer der internationalen Referenten war auch Keith Porteous Wood, IAFT-Sprecher und Schlüsselfigur bei der Berichterstattung an die UN über Kindesmissbrauch in religiösen Organisationen, insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeit der UK National Secular Society.
In einer länderspezifischen Analyse der Verwerfungen präsentierte Wood Zahlen und Fakten zu Fällen von Clerical Child Sexual Abuse (CCSA) in Irland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Österreich, Spanien, Portugal, den USA und Australien:
- Frankreich: Aus den Untersuchungsergebnissen einer kirchlichen Kommission ergibt sich eine Zahl von rund 330.000 Missbrauchsopfern seit 1950, davon im Rahmen des "Barbarin-Komplex" allein 3.000.
- Spanien: Hier habe eine unabhängige Kommission rund 200.000 Fälle seit 1940 ermitteln können.
- USA: Rund 40 Diözesen und religiöse Orden haben wegen Fällen von CCSA Insolvenz anmelden müssen aufgrund von Schadensersatzforderungen der Opfer in Höhe von rund 5 Milliarden US-Dollar.
Kurzreferate über die Situation des innerkirchlichen Missbrauchs in den Ländern Südamerikas und Spanien wechselten sich ab mit weiteren Beiträgen unterschiedlicher Repräsentanten der FNLP und der Vorstellung ausländischer Partnerorganisationen der IAFT.
Dem Wunsch nach weiterer Vernetzung innerhalb der Partnerorganisationen sowie mit den Betroffenen und Betroffenengruppen wurde in zahlreichen Beiträgen Ausdruck verliehen.
Der zweite Tag wurde in Lyon beschlossen im Rahmen einer öffentlichen Podiumsdiskussion im städtischen Palais de la Mutualité, organisiert von Betroffenenverbänden in Lyon sowie Freidenkern der Rhône-Region unter ihrem Präsidenten Pierre Girod.

Auch Matthias Katsch, Gründer und Sprecher von Eckiger Tisch e.V., des wohl wichtigsten Betroffenenverbands in Deutschland, saß an diesem Abend zusammen mit Vertretern der FNLP und Überlebenden des französischen Missbrauchskomplexes auf dem Podium.
Da Frankreich im internationalen Netzwerk der Betroffenenverbände bislang nur begrenzte Sichtbarkeit aufweise (was wohl auf sprachliche Barrieren zurückzuführen sei), so Matthias Katsch, war die Präsenz des Eckigen Tisches in Grenoble und Lyon mit Blick auf die internationale Vernetzung umso bedeutungsvoller.
Der Erzbischof von Lyon, M. Olivier de Germay, war der Einladung der Organisatoren in den sehr gut besuchten Palais de la Mutualité erwartungsgemäß nicht nachgekommen.
Eine gelungene Tagung
Ein Wermutstropfen bleibt zurück: Zahlreiche Redner der FNLP und anderer IAFT-Mitgliedsverbände sprachen im Rahmen ihrer Vorträge kritisch den "Genozid in Gaza" an.
Der gegen Israel gerichtete Vorwurf des Völkermords ist jedoch umstritten und so erweist sich schon die Verwendung des Begriffs als problematisch. An dieser Stelle hätte eine differenzierte Kontextualisierung gut getan: Weder wurde der Auslöser des Konflikts benannt, noch die breite Unterstützung der Hamas durch die Bevölkerung Gazas angesprochen. Auch die Tatsache, dass die Hamas zivile Objekte als Verstecke oder Kommandozentralen sowie Zivilisten als menschliche Schutzschilde einsetzte, wurde nicht erwähnt.

Offenbar wurde eine bezeichnende Leerstelle: Während man sich in Grenoble als laizistische Freidenker zur Trennung von Staat und Religion bekannte, wurde die im Islamismus untrennbare Einheit beider Pole nicht thematisiert. Kritik an den afghanischen Taliban zum Beispiel fand zwar statt, ausgeblendet blieb jedoch an dieser Stelle der religiöse Fundamentalismus und Antisemitismus der Hamas und ihrer Anhänger.
Dass es sich hierbei nicht ausschließlich um ein Phänomen innerhalb der französischen Linken handelt, zeigen auch die teils gewalttätigen Ausschreitungen in Deutschland auf sogenannten Pro-Palästina-Demonstrationen, die nicht selten von einem antisemitischen Unterton begleitet werden.






