Die Debatte um die Sterbehilfe in Frankreich

Zwischen Autonomie und Solidarität

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Französische Botschaft in Berlin-Mitte
Französische Botschaft in Berlin-Mitte

Frankreich wagt sich an die Legalisierung der Sterbehilfe, beschränkt diese aber sehr stark. Nur Erwachsene mit unheilbaren Krankheiten im fortgeschrittenen oder finalen Stadium sollen Zugang zum assistierten Suizid erhalten. Ein Vortrag des Vorsitzenden des französischen Nationalen Ethikrates zeigt Besorgnisse und große Vorsicht.

Vergangene Woche hielt Professor Jean-François Delfraissy, Präsident des französischen Nationalen Ethikrates (CCNE), in der französischen Botschaft in Berlin einen Vortrag über den Stand der Debatte zur Sterbehilfe in Frankreich. Unter dem Titel "Lebensende: Zwischen Autonomie und Solidarität" beleuchtete er die ethischen Herausforderungen und forderte einen ausgewogenen Umgang zwischen individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Verantwortung.

Beim Versuch eines Kompromisses zwischen Autonomie und Solidarität droht die Freiheit auf der Strecke zu bleiben

Delfraissy vertrat die Meinung, dass die Debatte um das Lebensende nicht allein auf das Recht der individuellen Autonomie reduziert werden dürfe. Zwar sei das Recht auf Selbstbestimmung ein zentraler Wert, doch es müsse stets im Kontext gesellschaftlicher Solidarität betrachtet werden. Eine verantwortungsbewusste Gesellschaft habe gerade gegenüber ihren verletzlichsten Mitgliedern eine ethische Verpflichtung, den Umgang mit Sterbehilfe sorgfältig zu gestalten.

Vorrang der Palliativ-Versorgung

Der Schwerpunkt seines Vortrags lag auf der Bedeutung einer hochwertigen Palliativ-Versorgung. Er warnte, Sterbehilfe dürfe nicht als Ersatz für eine unzureichende Palliativmedizin dienen. Die medizinische Steuerung des Sterbens habe heute stark zugenommen: Während früher im familiären Umfeld gestorben wurde, sterben heute etwa 50 Prozent der Franzosen im Krankenhaus, aber nur rund 40 Prozent davon auf spezialisierten Palliativstationen. Viele Bürgerinnen und Bürger wünschen sich mehr Unterstützung für das Sterben zu Hause oder in vertrauter Umgebung.

Der lange Weg bis zur Legalisierung der Sterbehilfe

Der französische Ethikrat-Präsident zeichnete die Entwicklung der Gesetzgebung in Frankreich nach – vom Claeys-Leonetti-Gesetz von 2016, das Patientenrechte am Lebensende stärken sollte, bis zu den aktuellen Gesetzesinitiativen. Das Gesetz von 2016 verbietet bis heute aktive Sterbehilfe, erlaubt aber eine tiefe und kontinuierliche Sedierung bis zum Tod für unheilbar kranke Menschen mit großem Leiden. Der Ethikrat sehe sich dabei als "Tempelwächter" so Delfraissy und habe in seinen Stellungnahmen 2021/2022 die Debatte über eine mögliche Sterbehilfe unter ethisch klaren Bedingungen eröffnet. Er warnte vor einer rein parlamentarischen Entscheidung ohne gesellschaftliche Teilhabe und verwies auf den Bürgerkonvent von 2023, der mit Beteiligung von 184 Teilnehmenden stattfand.

Die Ergebnisse dieses Konvents zeigten eine Mehrheit (76 Prozent) für die Zulassung aktiver Sterbehilfe unter klaren Bedingungen, beschränkt auf Erwachsene mit unheilbaren Krankheiten. Die Zustimmung für ärztlich assistierten Suizid lag zwischen 72 und 80 Prozent, abhängig von unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Zugleich sprachen sich über 80 Prozent für eine zügige Gesetzgebung bis 2025 aus.

Delfraissy betonte jedoch, dass Selbstbestimmung nur ein Teil der ethischen Debatte sein dürfe. Es bedürfe einer kollektiven Vision, die insbesondere vulnerable Gruppen schütze. Die Solidarität sei das verbindende Prinzip zwischen Autonomie und Fürsorge. Ärzte sollten Patienten begleiten – sei es palliativ oder bei der letzten Entscheidung – und Sterbehilfe nur als letztes, eng begrenztes Angebot für ausdrücklich selbstbestimmte, unheilbar kranke Erwachsene ermöglicht werden.

Zustimmung und Kritik aus dem Publikum

In der anschließenden Publikumsdiskussion wurden vielfältige Aspekte angesprochen. Mehrere Teilnehmer wiesen darauf hin, dass aktive Sterbehilfe keine Entscheidung allein der Ärzte sein könne, sondern von der Gesellschaft getragen werden müsse. Ein Teilnehmer, der Kläger gegen das Verbot der Suizidhilfe in Deutschland war, wies auf den Unterschied zwischen assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe hin, wobei beim assistierten Suizid in Deutschland nicht zwingend eine Erkrankung vorliegen müsse. Er befürwortete dies als ein Beispiel für eine liberale Rechtslage. Jean-François Delfraissy plädierte jedoch für klare Vorgaben, etwa mehrfache ärztliche Bestätigung, zweimalige Bekräftigung des Sterbewunsches und Ausschluss psychiatrischer Leiden, um einen "Dammbruch" zu vermeiden.

Ein weiterer Diskutant bezeichnete Suizidhilfe als Grundrecht und fragte, warum Frankreich sich damit so schwertue. Delfraissy konterte mit der Notwendigkeit eines strengen Rahmens, da eine hohe Befürwortung in der Bevölkerung keine ethische Legitimation darstelle.

"Eine hohe Befürwortung in der Bevölkerung ist keine ethische Legitimation."
Jean-François Delfraissy

Ein anderer Teilnehmer hinterfragte die von Delfraissy aufgezeigte Spannung zwischen Autonomie und Solidarität. Der Widerspruch bestehe doch eher zwischen Autonomie und Lebensschutz. Der französische Ethikrat-Präsident betonte die Komplexität des Themas und das erfordere eine große Bescheidenheit.

Von der Vertreterin einer Seniorenorganisation kam der Appell, Palliativ-Versorgung für alle zugänglich zu machen und ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem niemand sich zum Suizid gedrängt fühlt. Delfraissy wies darauf hin, dass die Gesellschaft sich verändert habe: Früher lebten Generationen zusammen, heute herrsche oft eine "egoistische Konsumgesellschaft". Dennoch müsse jeder Mensch das Recht auf seine Entscheidung haben. Die Rolle der Ärzte als Vertrauenspersonen am Lebensende wurde als sensibel betrachtet, Entscheidungen müssten mit größter Vorsicht getroffen werden.

Eine Frage betraf den Einfluss des Ethikrates, die Delfraissy aufgrund der vorsichtigen Haltung des Senats, der weiter über das Sterbehilfegesetz beraten wird, für derzeit nicht notwendig hielt. Jedoch werde wohl der Senat gesellschaftlichem Druck ausgesetzt sein.

Ein Vertreter des deutschen Ethikrates sprach über Suizidprävention und die Definition von Freiverantwortlichkeit. Delfraissy unterstrich, dass es darum gehe, Menschen beim Leben zu unterstützen und zugleich ihre Autonomie zu achten. Mehrfach warnte er vor einer zu weitreichenden Legalisierung und betonte die Notwendigkeit "juristischer Bescheidenheit".

Die Diskussion thematisierte auch Ungleichheiten beim Zugang zur Sterbehilfe, etwa wegen der hohen Kosten für Reisen in die Schweiz, was sich nur wenige Franzosen leisten könnten. Ein Zuhörer hob hervor, dass das Grundgesetz "Würde" nicht definiere, sondern dass dies der individuellen Beurteilung zu überlassen sei.

"Das Grundgesetz definiert Würde nicht, sondern überlässt es der individuellen Beurteilung des Individuums."
Ein Zuhörer

Zum Abschluss rief Jean-François Delfraissy zu einer offenen, respektvollen Debatte auf: "Wir müssen lernen, uns wirklich zuzuhören – vor allem die Politik muss wissen, was auf dem Spiel steht." Zwischen den Polen von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung liegt seiner Einschätzung nach die Suche nach einem menschlichen, tragfähigen Umgang mit dem Lebensende. Sein Appell: Die Gesetzgebung dürfe nicht allein aus Machtkalkül entstehen – sie müsse getragen sein von einem echten Verständnis für das, was Sterben heute bedeutet. Er betonte, dass Entscheidungen über Leben und Tod nicht hinter verschlossenen Türen getroffen werden sollten, sondern das Ergebnis eines demokratischen Diskurses sein müsste, der die Vielfalt der Meinungen und Erfahrungen respektiert.

Hintergrund und Einschätzung

Der Vortrag von Delfraissy legte ebenso wie der aktuelle Gesetzentwurf in Frankreich einen starken Fokus auf Solidarität und vertrat sehr enge Grenzen für die Sterbehilfe. Dabei blendet man die Autonomie und das Recht der Bürger auf freie Entscheidung am Lebensende weitgehend aus. Diese einseitige Betonung auf Schutz und Einschränkung lässt die individuellen Wünsche vieler Menschen unberücksichtigt. In der Praxis bedeutet dies, dass viele Franzosen auch mit dem vorgeschlagenen Gesetz weiterhin gezwungen sein würden, ins Ausland – etwa in die Schweiz oder nach Belgien – zu reisen, um dort ihren Sterbewunsch verwirklichen zu können. Damit bleibt die Debatte um das Lebensende weit entfernt von einer echten Wahlfreiheit für alle Betroffenen.

Seit diesem Mai werden in Frankreich zwei Gesetze parallel debattiert: eines zur Sterbehilfe, eines zur Palliativ-Versorgung. Gestern wurde, wie Le Figaro berichtet, in der Nationalversammlung nach einer kontroversen Debatte über den Entwurf zur Sterbehilfe abgestimmt. Besonders heftig wurde vorher über den bemerkenswerten Artikel 17 des Gesetzentwurfs debattiert, in dem die Behinderung des Zugangs zu Sterbehilfe unter Strafe gestellt wird. Der Gesetzentwurf zur Einführung einer aktiven Sterbehilfe wurde mit großer Mehrheit von 305 Abgeordneten befürwortet, 199 stimmten dagegen.

Nun ist der Senat am Zug, der konservativer als die Nationalversammlung ausgerichtet ist. Es kann also noch zu Veränderungen und weiteren Einschränkungen kommen. Und falls keine Einigung erzielt wird? Dann steht, so Delfraissy, auch ein Referendum im Raum. Eine Entscheidung wird frühestens Ende 2025, vielleicht auch erst Anfang 2027, erwartet. Delfraissy erweckte in seinem Vortrag den Eindruck, dass er es nicht bedauern würde, wenn es zu keinem Gesetz käme.

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