WIEN. (fdbö/hpd) Im 39. Jahrgang hat die FreidenkerIn nicht nur einen neuen Chefredakteur sondern auch ein vierfarbiges Äußeres bekommen. Die Zeitschrift des Freidenkerbundes Österreich zeigt dabei im Äußeren wie bei den Beiträgen ein aktuelles und interessantes Auftreten.
„FreidenkerIn“ – Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung -, ist die Vierteljahreszeitschrift des Freidenkerbundes Österreichs. Der Inhalt des aktuellen Heftes hat einen beachtlichen Schwung, der mit der Reportage „Fundis auf der Straße“ beginnt und sich mit der Demonstration der Abtreibungsgegner beschäftigt. Der Kampf für Frauenrechte wird zum Kampf um die Straße: „Klerikales Rollkommando“. Thematisch damit verknüpft folgt darauf ein Interview mit Christian Fiala über Fristenregelung und radikale Abtreibungsgegner: „So muss Krieg aussehen“. Im kurzen Rückblick auf den Juli wird dann über die Atheisten-Kampagne in Wien als „Gottloser Wind“ berichtet, im längeren Rückblick beschäftigt sich der Essay „Caritas in Veritate – Liebe im Jenseits“ mit der letzten päpstlichen Sozialenzyklika und zeigt dann in einem Hintergrundsartikel von Anton Szanya über „Die Ursprünge der katholischen Soziallehre“ den konservativen Grundtenor dieser Soziallehre: „Die Antimoderne als Sozialprogramm“.
Im Interview berichtet Christoph Baumgarten über die Pläne für die „FreidenkerIn“ und Entwicklungen im Freidenkerverein. In einem Beitrag zum Darwin-Jahr wird deutlich, „Die Stadt Wien ist nicht übermäßig an Würdigung Darwins interessiert“. Ein weiterer beeindruckender Essay geht der Frage nach: „Müssen Begräbnisse religiös sein?“
Viktor Englisch schreibt in einer Reportage über „Das Schweigen von Hadersdorf“ zur Vergessenskultur in Österreich, die den am Kriegsende durch die SS in Hadersdorf 61 Ermordeten keine Ehre erweisen will.
Ein Schwerpunkt sind Aspekte des Religionsunterrichts. Anne Erika Paseka meint „Lass es gut sein, lieber Gott“ und beschreibt den Religionsunterricht als Gehirnwäsche. In einem Essay über Bürgerrechte, hier das Recht der Religionsfreiheit, beschreibt Christoph Baumgarten die „Lilienfelder Praxis“ - Wenn Rechte verwehrt werden.
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Kooperation
In der vereinbarten Kooperation zwischen der Redaktion der „FreidenkerIn“ und dem Humanistischen Pressedienst hatte es bereits aus aktuellem Anlass eine Vorabveröffentlichung auf hpd.de über die Demonstration der Gegner der Fristenregelung gegeben und das Interview mit Christian Fiala.
Nachfolgend nun der Essay von Christoph Baumgarten, der aus seiner eigenen Lebenserfahrung schildert, wie er sich mit 17 Jahren aus dem schulischen Religionsunterricht abmelden wollte.
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Lilienfelder Praxis
Bürgerrechte werden in der Provinz nicht immer ganz ernst genommen. Auf sie zu bestehen, wird schnell als aufmüpfig empfunden. Wer Gott hinterfragt, sowieso. Im niederösterreichischen Mief ist es etwa vor nicht allzu langer Zeit vorgekommen, dass an manchen Schulen gesetzlich nicht gedeckte Hürden errichtet wurden, um Schüler abzuhalten, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Oft verbunden mit Repressalien und sozialem Druck. Ein Beispiel sind die Erfahrungen von Christoph Baumgarten.
So bleich wegen einer kleinen Frage habe ich noch nie eine Sekretärin werden sehen. „Wo muss ich unterschreiben, um mich vom Religionsunterricht abzumelden?“, hatte ich die Frau gefragt. Nachdem ihr Gesicht schlagartig eine ungesunde Färbung angenommen hatte, sprang sie hektisch von ihrem Sitz auf und stürmte ins Büro des Direktors. Der wirkte kaum weniger konsterniert, als er durch die Verbindungstür ins Sekretariat kam. Um den Habitus einer Autorität bemüht, fragte mich dieser Walter Biberle: „Was willst du?“ „Ich will mich vom Religionsunterricht abmelden“. „So geht das aber nicht.“ „Ich weiß, mündlich geht das nicht. Also, haben Sie entsprechende Formulare? Oder reicht es, wenn ich Ihnen einen handschriftlichen Zettel mit meiner Unterschrift gebe?“ „Nein, das müssen wir ganz anders machen. Du bringst mir erstens eine schriftliche Begründung mit Unterschrift Deiner Eltern. Und zweitens musst Du das in einem persönlichen Gespräch mit mir begründen“. Ein klar illegaler Schritt. Auch im Frühherbst 1997 durfte sich in den Tagen nach Schulbeginn jeder Schüler der mindestens 14 war per eigener Unterschrift, weitgehend formlos, abmelden. Ich war 17. Begründungen für diesen Schritt waren sowieso strengstens verboten.
Vielleicht lag es daran, dass ich der Neue war. Das war mein erstes Jahr am BG/BRG Lilienfeld. Genau genommen mein zweiter Tag. Vielleicht lag es daran, dass die AHS [Allgemeinbildende Höhere Schule] ein ehemaliges Stiftsgymnasium war. Bis heute ist die (damals schon) Bundesschule im Zisterzienser-Stift untergebracht. Mönche, die über den Innenhof der Schule huschen, sind keine Seltenheit. Wer durchs Schultor geht, blickt unweigerlich auf die Stiftskirche. Die österreichische Version der Trennung von Staat und Kirche. Die Regierung zahlt der Kirche die Miete.
Mein Mitschüler und späterer Freund Hans hatte mich vorbereitet, dass hier die Abmeldung vom Religionsunterricht, höflich formuliert, nicht so gern gesehen würde. „Du wirst Probleme bekommen“, prognostizierte er in einem Telefonat wenige Tage vor Schulbeginn. Meine Mutter machte das hellhörig. „Nein, das solltest du nicht tun“, warnte sie mich. „Denk nach. Nur weil du glaubst, dass es keinen Religionsunterricht geben soll, solltest du dir nicht gleich Feinde machen“. Die Diskussion war hart, auch ihr Druck auf mich groß. Sie war weitgehend in Leoben aufgewachsen. Trotz sozialdemokratischer Vorherrschaft – als sie jung war, war der Pfarrer dort eine Respektsperson. Und als getauftes Kind ausgetretener Eltern hatte sie es vermutlich auch nicht leicht. Und jetzt hier, der neue Wohnort, in dem sie weitgehend isoliert war. Auch wenn sie sich kaum je ein Blatt vor den Mund genommen hat, wenn sie etwas als ungerecht empfand (und das traf auch auf eventuelle Repressalien wegen meiner Abmeldung zu) – von ihr als unnötig empfundene Feindschaften wollten sie sich nicht zulegen. Noch dazu, wo es sich um den Religionsunterricht handelte, den sie, aus welchen Gründen auch immer, damals als wichtig betrachtete. Bei jedem anderen Fach hätte ich mir um ihre Unterstützung keine Sorgen machen müssen.
Irgendwann erreichten wir einen Kompromiss. Wenn ich meinen Religionslehrer persönlich informieren würde, stünde sie hinter mir, wenn es hart auf hart ginge. Ihre Vorstellung von Höflichkeit, die ich dem armen Mann schulden würde. Nicht die Lösung, die mir vorgeschwebt war. Aber wenn eine im familiären Kontext belanglose Gewissensentscheidung zu einem Dauerkonflikt auszuarten droht, stimmt man lieber einem faulen Kompromiss zu. Mein Vater sagte, was er in solchen Situationen immer sagte. Nichts. Auch wenn sein Schweigen eher als Zustimmung zu meiner Haltung zu deuten war. Die Autorität meiner Mutter in solchen Fragen hätte er nicht quasi öffentlich in Frage gestellt.
Das persönliche Gespräch mit dem „Religionslehrer“, einem Mönch, war die erste und einzige Gelegenheit in meinem Leben, in der ich den Wohntrakt eines Klosters betreten habe. Architektonisch sind die Gänge im Stift Lilienfeld nicht uninteressant. Spannender als das kleine Zimmer, im Jargon Zelle genannt, das dunkel war. Im Mittelalter baute man keine großen Fenster. Vollgeräumt mit Büchern, und nicht nur katholischen Inhalts. Es war ein eigenartig interessantes Gespräch. Der gute Mann, übrigens ausnehmend freundlich, wusste nicht genau, warum meine Situation eines klärenden Gesprächs bedurft hätte. Ich wäre ohnehin nicht sein Schüler geworden, womit sich die Rechtfertigung aus seiner Sicht erübrigt hatte. Mir ging es ähnlich. Es wurde eine angenehme Plauderei über, wie man sagt, Gott und die Welt. Für einen Mönch erwies er sich als erstaunlich weltläufig.
Das offizielle Gespräch war härter. Direktor Biberle zu sagen, ich müsste keineswegs meine Abmeldung in irgendeiner Form begründen, und eine Unterschrift meiner Eltern bräuchte ich genauso wenig, erwies sich als sinnlos. Ich mochte auf das Schulunterrichtsgesetz und meine Rechte als Schüler pochen, was ich wollte. Die Antwort war höchstens: „Hier irrst Du. Bei uns wird das anders gemacht.“ Wer auch immer das „Wir“ war, bei dem es anders gemacht wurde. Niederösterreich? Vorstellbar, aber unwahrscheinlich. Flächendeckend traut man sich sowas nicht einmal in Pröllistan. [„Pröllistan“ wird das Bundesland Niederösterreich genannt, dessen Landesfarben gelb-blau sind, wo ein Landshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) seit Jahren mit absoluter Mehrheit regiert, welcher auch Onkel des Vizekanzlers und Finanzministers ist.] Zumal es in den großen Städten, fast alle rot dominiert, liberale Schulen gibt. Lilienfeld? Schon eher. „Wenn die Welt untergeht, geh nach Lilienfeld. Dort sind sie zwanzig Jahre hinten“, pflegte mein Chemielehrer zu sagen. In punkto Religionsunterricht waren es eher 60.
Eine Wand hätte nicht fester stehen können als Biberles Standpunkt. Mag er sich hundertmal irren. Hätte ich den Paragrafen auswendig zitieren können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Das Reden ohne gehört zu werden, erschöpfte mich irgendwann. Die Lilienfelder Praxis der Rechtsauslegung (Rechte haben nur die, die das Sagen haben) erwies sich bei all ihrer offensichtlichen Illegalität als erfolgreich.
Ein Telefonat am selben Nachmittag gab mir nicht eben das Gefühl, dass man der Sache beim Landesschulrat in St. Pölten eine tiefere Bedeutung zumaß. Wegen etwas, was die Beamten als Lappalie empfanden, würden sie vermutlich nicht gegen einen Direktor vorgehen. Soll der aufmüpfige Schüler machen, was ihm gesagt wird, so schlimm ist das eh nicht. Soll nicht so empfindlich sein, wir haben andere Sorgen. Auch von Schülerseite her war wenig Unterstützung zu erwarten. Die Aktion Kritischer SchülerInnen zog erst Jahre nach diesem Ereignis in Lilienfeld merkbar ein, in Gestalt meines jetzigen Sektionsvorsitzenden Niki Kowall und meiner Schwester. Von der Schülerunion war in solchen Angelegenheiten keine Unterstützung zu erwarten und ebenfalls nichts zu bemerken. Die einzige Form der organisierten Schülerschaft war der Mittelschüler Kartellverband [MKV, Mittelschüler-Kartell-Verband der katholischen, farbentragenden Studentenkorporationen Österreichs], eine Art CV [CartellVerband, Dachverband von katholischen, nichtschlagenden, farbentragenden Studentenverbindungen] für Schüler. Alles andere als ein natürlicher Verbündeter in Sachen Grundrechte. Beim Religionsunterricht schon gar nicht. Zumal Biberle dort als „Alter Herr“ geführt wurde.
Ich habe mich geschämt, den offenen Rechtsbruch Biberles quasi zu legitimieren. Vom einseitigen Diskutieren erschöpft, brachte ich die Unterschrift meiner Eltern bei – unter einer zugegebenermaßen etwas zynisch gehaltenen Begründung. Ich gehe davon aus, dass sie Biberle nicht verstanden hat. Subtilitäten waren seine Sache nicht. Er war nicht wegen seiner Intelligenz oder seines Humors wegen AHS-Direktor geworden. Er galt als Verehrer des ehemaligen Landeshauptmanns Siegfried Ludwig von der ÖVP, nicht unbedingt als Vertreter eines Hangs zur Demokratisierung bekannt. Ludwigs Porträt hing als Zeichnung in Biberles Büro, bis er pensioniert wurde.

Christoph Baumgarten Auch meine Mitschüler verstanden weder meinen Schritt noch meine Überlegungen. Von etwa 40 Schülern in der siebten Klasse war ich der einzige, der den Religionsunterricht nicht besuchte. Auch die prononciert Linken, damals allesamt ostentativ rebellisch, wären nicht auf die Idee gekommen, sich abzumelden. „Das gehört halt dazu“, hörte ich nur. „Ist eh nicht so schlimm, wir machen dort eh nix“.
Natürlich konnte Biberle auch beim persönlichen Begründungsgespräch, für das mir die Sekretärin einen Termin geben musste, keinerlei Argumente vorbringen. Das wollte er auch nicht. Meine Überlegungen waren ihm egal. Zu sehr genoss er die Macht, die er über einen Andersdenkenden hatte. Zum Rapport bestellen, wenn er aufmuckt. Ein beliebtes niederösterreichisches Konzept. Eine Machtprobe, die er glaubte gewonnen zu haben.
Er hatte sich einen Feind geschaffen. Ich ließ in meinen letzten beiden Schuljahren keine Gelegenheit aus, ihn lächerlich zu machen. Den Konflikt ließ ich nicht einschlafen. Was mir eher keine Freunde einbrachte und mehr Vor- als Nachteile hatte. Aber ich kann ungerechtes Verhalten nicht ausstehen. Ob es mich betrifft oder andere.
Im Jahr darauf wollte er das gleiche Spiel noch einmal spielen. Diesmal kannte ich es und blieb so stur wie er. Ich legte ihm eine formlose Erklärung mit meiner eigenen Unterschrift vor. Protest legte er keinen mehr ein. Er verließ sich auf seine Macht als Direktor, mit der er so manchen Schülerwillen gebrochen hatte. Mein Chemielehrer warnte mich: „Ich hab gehört, du sollst bei der Matura durchfliegen. Pass auf“. Kurz vor der Matura versuchte man es eleganter, wie man meinte. „Du wirst wahrscheinlich nicht antreten können“, wurde mir gesagt. „Wieso? Ich werd` einen guten Erfolg haben im letzten Zeugnis“. „Du hast zu viele unentschuldigte Stunden“. „Bitte was?“ „Du warst kein einziges Mal in Religion“. „Wie auch, ich bin abgemeldet“. „Wir haben aber keine Abmeldung gefunden“. Alternative: Entweder Prüfung in Religion oder Matura erst im Herbst. Im schlimmsten Fall Wiederholung der achten Klasse. Ein verlorenes Semester an der Uni. Vielleicht ein ganzes Jahr. „Ach so? Ich weiß, dass ich mich abgemeldet habe. Wenn Ihr das Papier verschmissen habt – Eure Schlamperei ist nicht mein Problem“. „Es gibt keine Abmeldung mit der Unterschrift Deiner Eltern“. „Also, ich würde es nicht auf eine Klage ankommen lassen. Da ist der Landesschulrat noch das Geringste, wovor Ihr Euch fürchten müsst. Entweder Schlamperei oder Absicht, damit ich nicht antreten kann. Warum, wissen alle hier.“
Eine Drohung, die wirkte. Danach war nie wieder die Rede von angeblichen Fehlstunden. Und (nachweisliche) Versuche einiger Lehrer, mich bei der Matura durchfliegen zu lassen, scheiterten kläglich. Der ungeliebte Aufmüpfige kam locker durch – auch dank Entscheidungen der Kommission, die die Note einer schriftlichen Arbeit, sagen wir, radikal ausbesserte. In einem bis dahin an dieser Schule nicht gekannten Maße. Zwei MKV'ler, brav allesamt und die vergangenen zwei Jahre mit einer gewissen Narrenfreiheit ausgestattet, mussten es ein zweites Mal versuchen.
Eine späte Genugtuung, zugegebenermaßen. Dass der werte Direktor Biberle später, als ich auf ORF NÖ [Österreichischer Rundfunk, Niederösterreich] als Reporter dauernd zu hören war, mich bei Ausflügen auf Berghütten angeblich als seine Entdeckung darzustellen versuchte, passt irgendwie zu diesem Charakter. In Dimensionen der niederösterreichischen Provinz wurde jetzt ich als Autorität gehandelt. (Wobei ich mich nie so fühlte). Und als solche hatte auf einmal ich das Recht, auf meinen Rechten zu beharren. Da übersieht auch ein überzeugter Katholik und Machtmensch gerne, dass er die neue „Autorität“ wegen seiner Prinzipien schikaniert hatte. Der gestern verfolgte Atheismus wird bei dieser Machtkonstellation zum vernachlässigbaren charakterlichen Mangel. Wär`so viel spieß- und kleinbürgerliche Armseligkeit nicht so lästig und gehässig, man könnte über sie lachen. Aber vielleicht gewinnt der noch vorhandene Zorn, den ich beim Schreiben spüre, die Oberhand über meinen Sarkasmus. Sonst würd` ich jetzt aus vollem Hals lachen, bis mir die Tränen kommen.
Christoph Baumgarten






