Analyse

Die christliche "ZEIT" – Wie eine Wochenzeitung zur Kanzel wird

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Langjährige Leser wissen es längst: DIE ZEIT ist nicht nur eine politisch-liberale Wochenzeitung, sie ist auch ein Blatt mit deutlicher christlicher Schlagseite. Das zeigt sich nicht nur im Ressort "Glauben und Zweifeln", sondern zieht sich vom Feuilleton bis zum Wissensteil quer durch die Ausgabe. Manche Texte triefen so sehr vor Gottesnähe, dass man das Gefühl hat, den Wachtturm oder Chrismon abonniert zu haben.

Wer DIE ZEIT liest, entkommt der christlichen Botschaft selten. In politischen Kommentaren wird sogar davor gewarnt, ein echter Laizismus würde "das gesellschaftliche Gefüge Deutschlands grundlegend verändern – und das nicht zum Besseren". Das wirkt nicht wie eine individuelle Meinung, sondern wie eine publizistische Grundhaltung.

Dass diese Wahrnehmung kein subjektiver Eindruck ist, zeigt die akribisch geführte Seite "Die fromme ZEIT", die seit 2013 dokumentiert, wie häufig die Wochenzeitung kirchen- und religionsfreundliche Positionen vertritt. Die Betreiber fragen provokativ: "Ist das noch DIE ZEIT von Gerd Bucerius und Marion Gräfin Dönhoff?"

Die Übernahme von Christ & Welt: Ein Wendepunkt

Ein wegweisender Moment dieser Entwicklung war 2010 die Übernahme des katholischen Wochenblatts Rheinischer Merkur. Christ und Welt. Seitdem liegt der ZEIT wöchentlich eine sechsseitige Beilage bei – redaktionell unabhängig, aber inhaltlich ganz im traditionellen Religionskosmos verankert. Kaufen kann man die Sonderausgabe nicht im Einzelhandel; sie richtet sich an Abonnenten, die sie bewusst zusätzlich buchen. "Perspektiven auf die großen Glaubensfragen" lautet das Versprechen.

Doch auch jenseits dieser Beilage ist DIE ZEIT religiös grundiert. Das Ressort "Glauben & Zweifeln" ist dabei eine Mogelpackung: Gezweifelt wird dort kaum – jedenfalls nicht an religiöser Macht oder kirchlichen Privilegien. Zweifel bedeutet hier meist die Sorge um den Zustand der eigenen Kirche. Wenn Andreas Englisch einen Artikel über den Papst schreibt, dann steht in der Autorenangabe: "Seine Papstbücher sind Bestseller." Klar. Papstkritiker kommen bei "Glauben & Zweifeln" nicht zu Wort. Korrekterweise müsste das Ressort daher "Kein Zweifel am Glauben" heißen. Die Ressortchefin Evelyn Finger erhielt für ihre Hofberichterstattung von der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Münster einen Ehrendoktortitel.

Kleine Ausflüge über den Tellerrand – aber immer zurück zum Glauben

Gelegentlich wagt DIE ZEIT einen Blick über das Christentum hinaus – etwa auf jüdische Identität oder religiöse Minderheiten im Nahen Osten. Doch selbst dabei bleibt die Brille christlich gefärbt. Auch Philosophen zweifeln, aber das hat keinen Platz auf der Seite "Glauben & Zweifeln".

Selbst im Wissens-Ressort tauchen Texte auf, die weniger Erkenntnis als Bekenntnis liefern. Ein besonders irritierendes Beispiel bot die Pfingstausgabe 2025: Auf einer Titelseite leuchtete ein Ausschnitt eines Heiligenbildes und daneben die Frage: "Soll ich trotzdem glauben?" Die Autorin spricht mit ihrem gläubigen Vater "über die Frage, ob man zugleich der Vernunft und Gott folgen kann". Warum der Artikel im Wissens-Teil der ZEIT erschienen ist, bleibt rätselhaft, wahrscheinlich aber, weil die Autorin Astrophysikerin ist. Im Gespräch mit ihrem Vater offenbart sie sich schnell als gläubige Katholikin und findet es sinnvoll, "die biblischen Texte so zu interpretieren, dass sie auch in unserer Zeit funktionieren. Sich zu fragen, welche Inhalte wir wörtlich nehmen müssen und was auf die mythische Denkweise zurückzuführen sein mag." Zum Abschluss fasste Autorin Sibylle Anderl ihre Glaubensüberzeugungen angesichts des bevorstehenden Pfingstfestes zusammen: "Der Heilige Geist kommt auf die Jünger ab, und auf einmal beginnen sie in verschiedenen Sprachen zu sprechen und zu predigen. So können Menschen aus aller Welt die zentrale Botschaft des Neuen Testaments verstehen: dass Christen dafür verantwortlich sind, das menschliche Zusammenleben gerecht zu machen." Willkommen im anspruchsvollen Ressort "Wissen" der ZEIT!

Der missionarische Ton im ZEITmagazin

Selbst das ZEITmagazin bleibt von theologischen Tönen nicht verschont. So gab es unlängst ein langes Interview mit dem amerikanischen Kolumnisten Ross Douthat, geführt vom Co-Chefredakteur Sascha Chaimowicz. Schon der Titel "Gott existiert logischerweise" setzte den Tenor. Mit wenig unkritischen Fragen bot Chaimowicz dem konservativen Autor ein seitenlanges Forum für zweifelhafte Aussagen wie diese: "Ich glaube, dass Trump eindeutig von der Vorsehung berührt ist oder zumindest ein Instrument eines mysteriösen weltgeschichtlichen Zweckes ist." Douthat ist überzeugt davon, dass man sich Glauben durch Vernunft erarbeiten kann, während Atheisten "etwas sehr Grundsätzliches missverstehen".

Ein anderes Mal gönnte das Ressort "Leben" einem Autor üppige anderthalb Seiten, damit er ausführlich schildern konnte, wie er als Protestant die sieben Pilgerkirchen Roms an einem Tag abgeklappert hat – ein spiritueller Marathon zwischen Bußpsalmen und Beichtstühlen. Warum diese Mischung aus Selbstkasteiung und frommem Sightseeing journalistisch relevant sein soll, erschließt sich allerdings nur, wenn man den Glauben bereits im Gepäck hat. Für alle anderen bleibt es ein kurioses Fitnessprogramm mit Weihraucharoma.

Engagement ja – aber immer mit christlichem Fokus

DIE ZEIT berichtet regelmäßig über verfolgte Minderheiten wie die Alawiten. Anerkennenswert – doch stets aus der Perspektive eines westlich-christlichen Wertehorizonts. Atheismus bleibt in der ZEIT weitgehend unsichtbar. Wenn der Papst die Türkei besucht, liest man ausführlich über das Schicksal der dortigen Minderheit der Christen – ihr Bevölkerungsanteil beträgt 0,5 Prozent – aber nichts über die Probleme der rund acht Prozent Konfessionsfreien.

Selbst beim Thema NS-Widerstand folgt die Auswahl einem vertrauten Muster: Dietrich Bonhoeffer ist dauerpräsent, Georg Elser kommt kaum vor. Was nicht christlich gerahmt ist, verschwindet zuverlässig aus dem Blickfeld. Dass dieses Weltbild gepflegt wird, zeigte sich auch im Dezember 2025, als eine ganze Seite dem Thema "Trost" gewidmet war. Unter der Überschrift "Es ist Advent, die Zeit der Erwartung. Wir haben für Sie Worte der Hoffnung gesucht – und Seelsorger erzählen, was sie tröstet" versammelte die ZEIT eine Reihe pastoral eingefärbter Beiträge – ein Stimmungsbild, das weniger nach pluraler Öffentlichkeit klang als nach innerkirchlicher Andacht auf gehobenem Wachtturm-Niveau.

Es gibt in der ZEIT die Rubrik "Streit" – doch warum findet dort nie ein echtes, weltanschauliches Streitgespräch statt? Ein Theologe gegen eine säkulare Philosophin, ein Bischof gegen eine Vertreterin des Humanistischen Verbands? Eine offene Gesellschaft lebt vom Konflikt der Ideen. DIE ZEIT aber kultiviert ein Milieu, in dem religiöse Deutung lebenslang Bestandsschutz genießt.

DIE ZEIT als Pfarrhaus der liberalen Mittelschicht

DIE ZEIT versteht sich als liberale Stimme der Republik. Doch ihr Umgang mit Religion zeigt eine erstaunliche Einseitigkeit. Die Welt erscheint durch eine christlich geschliffene Brille – mal dezent getönt, mal offen gefärbt. Zweifel ist erlaubt, solange er den Glauben stärkt. Kritik an kirchlicher Macht, an jahrhundertealten Privilegien oder an der hartnäckigen Verflechtung deutscher Politik mit religiöser Symbolik? Selten, und wenn, dann in homöopathischer Dosis.

So verwandelt sich eine Zeitung, die einst für intellektuelle Weite stand, Schritt für Schritt in das Pfarrhaus der liberalen Mittelschicht – ein wohlig temperiertes Glaubensmilieu inklusive. Und genau dadurch bremst sie ausgerechnet jene Fortschrittlichkeit aus, auf die sich DIE ZEIT selbst am liebsten beruft.

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