TÜBINGEN. (hpd) Als der Doppeldecker der deutschen Ausgabe der international sehr beachteten „Atheist Bus Campaign“ in Tübingen Station machte und dem Fronleichnamstag in der Stadt eine ganz spezielle Note verlieh, waren auch dort engagierte Helfer im Hintergrund aktiv.
In Tübingen übernahmen das Mitglieder des weit über die Universitätsstadt hinaus bekannten Kreises mit dem Namen „Stammtisch Unser Huhn“. Der etwas seltsam klingende Name, verbunden mit dem durchaus negativ belasteten Begriff „Stammtisch“ führt beim uneingeweihten Leser leicht zu falschen Assoziationen. Dass diese Gedankenverknüpfungen nicht den Tatsachen entsprechen, sollen die folgenden Ausführungen belegen.
Der Stammtisch, den – wie sollte es anders sein – ein Huhn ziert, steht nach einer Odyssee durch verschiedene Lokalitäten Tübingens heute in der Parkgaststätte, die sich zwischen Haupt- und Busbahnhof befindet. Betreiber der Gastwirtschaft, ist der von den Stammtischschwestern und -brüdern zum Oberwirt erhobene, Ahmet. Die Deutsch – Türkische Eintracht wird dem Gast durch die großen, nebeneinander oder besser miteinander an der Wand hängende Landesfahnen kundgetan.
Allein die Wahl der Lokalität spricht dafür, dass diese Zusammenkünfte keine Trinkorgien sind, die früher oder später in stumpfsinnigen, ausländerfeindlichen oder ähnlich gearteten Ergüssen enden. Nein – der „Stammtisch Unser Huhn“ versteht sich als politischer Stammtisch mit stark ausgeprägter Neigung zum Literarischen. J.W. Jonas bezeichnet diese Gemeinschaft auch als „Eine orthopädische Anstalt für arme Menschenseelen“.
Seelisch-Orthopädische Anstalt...
Apropos Seelen! Der oberste Hirte der katholischen Seelen, Unser Papst Benedikt? geruhte in diesem Lokal gelegentlich einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu genießen, als er noch Professor Ratzinger war und von 1966 bis 1969 am Lehrstuhl für katholische Dogmatik lehrte. Die Stadt Tübingen jedoch will das Gebäude abreißen, um den Europaplatz völlig neu zu gestalten. Man bedenke! Die Stadtoberen von Tübingen wollen ein Bauwerk abreißen, welches Spuren des Papstes deutscher Abstammung enthält? Obwohl Tübingen eher evangelisch ausgerichtet ist, macht einen das stutzig. Während andernorts jeder Pflasterstein, den Ratzingers Schuhe irgendwann einmal getreten haben, zum Wallfahrtsort avanciert, will man in Tübingen die Erinnerung an das Vorleben des jetzigen Papstes mit der Abrissbirne auslöschen.
Kurios genug! Aber nun sind es gerade die Mitglieder des Stammtisches, die diese Erinnerung wach halten wollen, also Menschen, die mit der Kirche im Sinne der Dogmatik eher nichts zu tun haben. Und wie die „Hühner“ nun einmal sind, haben die eine Aktion gestartet und die Kneipe für eine kurze Zeit in „Papstgaststätte“ umgetauft.
Doch bis heute sind die Pläne für den Abriss nicht vom Tisch und das macht sich auch am Zustand des Gebäudes bemerkbar. Die Toiletten sind in einem bedauerlichen Zustand und auch sonst wird dem Betreiber das Leben auf die eine oder andere Art schwer gemacht. Diese Methode klingt irgendwie wie das Gebaren von rein finanzorientierten Immobilienhaien, die den Abriss erzwingen wollen, indem sie die Substanz so lange verwahrlosen lassen, bis irgendein Amt die Weiternutzung aus hygienischen oder Sicherheitsgründen untersagt.
Dabei sind es nicht nur die Spuren eines Herrn Ratzingers, die sich in Tübingen finden lassen. Der Stammtisch Unser Huhn gründete sich, so heißt es, aus Teilnehmern an einem Seminar bei Walter Jens, dem bekannten Tübinger Philologen und Rhetoriker. Prof. Dr. Rössler, beachteter Chaosforscher ist Mitglied beim Stammtisch. Oliver Maria Schmitt gab zunächst die literarische Schrift „Unser Huhn“ heraus, ehe er zur „Titanic“ ging und ihr Chefredakteur wurde. Auch er besucht, wenn es möglich ist, die Treffen, die immer dienstags 20:00 Uhr stattfinden.
Es geht bei der ganzen Problematik nicht nur um die Parkgaststätte, es geht um eine Tübinger Institution, es geht um den „Stammtisch Unser Huhn“, dessen Mitglieder der sich der ausufernden Verflachung des Denkens in unserer Gesellschaft gegenüberstellen. Der Stammtisch ist übrigens als einziger seiner Art Mitglied der Hölderlin – Gesellschaft.
Stellt sich die Frage, warum gelingt es in einer Universitätsstadt mit weltweiter Bekanntheit nicht, die Anregungen des Stammtisches aufzugreifen und einen Platz wie die Park- oder Papstgaststätte in ein Zentrum der Kultur, des politischen Streites, der Literatur und der Satire umzuwandeln. Tübingen wird heute von einem grünen Oberbürgermeister geführt. Sollte man da nicht etwas mehr erwarten können.
Kunst und Kultur, den politischen Streit mittels rhetorischer Schlachten und verbalen Attacken nicht ausklingen zu lassen, ist wichtig für unsere Gesellschaft und allemal besser, als Molotow – Cocktails gegen Polizeischilde zu werfen.
Bleibt abzuwarten, ob sich etwas tut in Tübingen. Ein Pflänzchen Hoffnung besteht immerhin.
Thomas Häntsch