Die Folgen verdrängter Kindheitsdramen

5. Eine amerikanische Studie hat nun nachgewiesen, dass geschlagene Kinder einen niedrigeren Intelligenzquotienten aufweisen. Ebenso hat die neuere Hirnforschung nachgewiesen, dass durch Gewalteinwirkung in den ersten drei Lebensjahren die Gehirnareale, die für Empathie zuständig sind, geschädigt werden. Sie schreiben schon seit 30 Jahren in Ihren Büchern, dass das Schlagen von Kindern - entgegen der gesellschaftlichen Meinung, dass „ein Klaps noch niemandem geschadet habe“ – extrem schädlich ist. Wie kamen Sie schon damals zu dieser Erkenntnis?

Ich habe 20 Jahre lang als Psychoanalytikerin ohne Freud’sche Scheuklappen meinen Patienten zugehört und habe mit Verblüffung feststellen müssen, dass sie ALLE misshandelte Kinder gewesen waren, aber diese Tatsache leugneten und ihre Eltern vor jedem Vorwurf in Schutz nahmen. Dieser Mechanismus hat mich damals sehr beschäftigt, ich las für meine weiteren Forschungen viele Lebensläufe berühmter Menschen und fand fast ohne Ausnahme überall das gleiche Muster: Die vollständige Verleugnung des eigenen in der Kindheit erfahrenen schweren Leidens, sowohl bei Massenmördern, Diktatoren, als auch bei Künstlern, Schriftstellern und Philosophen. Das zeigte ich später in meinen Büchern „Der gemiedene Schlüssel“ und „Die Revolte des Körpers.“

6. In Ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ (Suhrkamp 1980) haben Sie die Gräueltaten von Adolf Hitler in Bezug auf seine Kindheit untersucht. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?

An Hitlers Biographie habe ich wohl zum ersten Mal die unheimliche Gefährlichkeit der Verleugnung einer extrem grausamen Kindheit entdeckt. Das lässt sich nicht so kurz erklären, man muss die Beweisführung schon im Buch nachlesen.

7. Sie haben auch die Werke berühmter Schriftsteller wie Schiller, Nietzsche, Proust, Rimbaud, Kafka u .a. zu deren Kindheitserlebnissen in Beziehung gesetzt und festgestellt, dass die Literatur eine verschlüsselte Darstellung der verdrängten Kindheitsdramen darstellte. Das ist eine neue und ungewohnte Sicht auf Kunst. Sehen Sie diese Zusammenhänge auch bei anderen Künstlern und Kunstformen?

Ja, ich sehe sie in allen mir bisher zugänglichen Biographien. Weil es ganz logisch ist: Kinder lernen sehr früh alles, was die Eltern ihnen vormachen. Wenn sie also Gewalt erleben, lernen sie diese. Da es ihnen verboten ist, das Gelernte zu zeigen, mögen sie zunächst als besonders brave Kinder mit Gehorsam brillieren, wie der Ausschwitzkommandant Rudolf Höss es selber bezeugt. Erst später zeigen sie die Brutalität, die sie bei ihren Eltern gelernt haben. Aber dies scheint noch ein verbotenes Wissen zu sein, denn bisher hat niemand noch meine Forschungen aufgenommen. Bei den Amokläufern beteuern ALLE, dass sie die Motive der Täter ABSOLUT nicht verstehen, und deren Kindheit wird in der Presse kaum jemals erwähnt. Die Eltern werden in allen Fällen geschont. Wie sollen denn Leser verstehen, wie Gewalt gelernt wird, wenn niemand ihnen hilft?

8. Sie sind auch selbst Malerin und haben in Ihren Bildern, die in Ihrem Buch „Bilder meines Lebens“ (Suhrkamp 2006) sowie auf Ihrer Internetseite veröffentlicht sind, Erlebnisse Ihrer Kindheit verarbeitet. Wie ging die Kunstwelt mit dieser unverschlüsselten Form von Kindheitsbewältigung um?

Niemand ist bisher darauf eingegangen. Man lobte nur meine künstlerische Leistung. Als gäbe es eine Verschwörung, dass man über die Kindheit nicht sprechen darf. Dahinter vermute ich die Angst des Kindes, die in jedem von uns lebt, die Angst vor der Strafe der Eltern, wenn wir uns erlauben würden, deren Taten in Frage zu stellen.

9. Erwachsenen, die als Kinder misshandelt wurden, wird meist geraten, ihren Misshandlern zu vergeben. Die Religionen lehren das, sowie die meisten psychotherapeutischen Ansätze. Diesem Ansatz widersprechen Sie in Ihren Büchern. Warum?

Wie ich schon sagte: Der Körper versteht nichts von Religion und Moral. Wenn wir seine Erfahrungen der Grausamkeiten ignorieren, bezahlen wir unseren Selbstverrat mit Krankheiten oder lassen unsere Kinder ihn bezahlen, oder tun beides. Das Vergeben heilt nicht die Wunden, diese können nur durch das Zulassen der schmerzhaften Wahrheit ausgeheilt werden, nicht aber durch den Selbstbetrug. Um zu heilen, müssen die Wunden aufgedeckt werden und nicht verborgen bleiben. Viele Priester gebrauchen fremde Kinder für ihre sexuellen Wünsche, WEIL sie es niemals wahrhaben wollen, dass auch sie in der Kindheit so missbraucht wurden. Sie vergeben jeden Morgen global ihren Sündigern und wissen nicht, dass sie vom Zwang getrieben werden, das einst Erfahrene zu wiederholen und zu verleugnen. Würden sie sich mit der Geschichte der eigenen Kindheit konfrontieren und in einer aufdeckenden Therapie mit Zorn auf das ihnen Zugefügte protestieren, müssten sie nicht zwanghaft das Leben ihrer Ministranten gefährden. Dieses Konzept der Therapie beschreibe ich in meinen beiden letzten Büchern, vor allem in „Dein gerettetes Leben“.