Dass Schule heute, mit ihrem Unwillen „Vorbildlichkeit darzustellen“, dem „Gesetz des Lernens durch Nachahmung“ dennoch nicht entkommen kann, liegt auf der Hand. Dies erlaubt für das System Schule für die absehbare Zukunft keine günstige Prognose: die Schule riskiert es, aus der genannten Unwilligkeit – oder Unfähigkeit? – zur Vorbildlichkeit „das Vorbild zu machen, das sich in der nächsten Generation wiederholt“ (S. 684).
Dennoch: Wir scheinen, am oft zitierten „Ende der Geschichte“, trotz aller ungelösten Teilprobleme, in eine neue Ära eingetreten zu sein. Das „Eiserne Zeitalter“, in dem das Leben der Menschen durchgängig durch Knappheit aller Ressourcen und soziale Entfremdung gekennzeichnet war, scheint (zumindest für einen Teil der Menschheit) vorbei. Die fünf Hauptnöte der alten Zeit: der Hunger, die schwere körperliche Arbeit und Überlastung, die Sexualnot, Herrschaft und Feindschaft (Unterdrückung und Krieg), das Sterbenmüssen scheinen, wenn nicht behoben, so doch relativiert. Was den letztgenannten Punkt betrifft, so zielen
„die guten Argumente der heutigen Bewegungen für würdevolles Sterben … darauf, das Bündnis zwischen einer reaktionären Religion und einer progressiven Apparatemedizin aufzulösen… Statt dessen soll die Errungenschaft der asketischen Kulturen, die Einbettung des Todes in ein geteiltes Können, auch den Nicht-Asketen erschlossen werden“. (S. 666)
Damit, d.h. mit dem Eintritt in ein „silbernes Zeitalter“ scheint es möglich, mit Hilfe der Technik und gesteigertem Lernen, also mit „innerweltlichen Antworten“, den existentiellen Zwängen zu begegnen und über die Auslieferung des Menschen an eine elende Realität hinauszukommen. Dies sind die Chancen.
Auf der anderen Seite vollzieht sich das, was Sloterdijk die näher rückende „Desintegrationskatastrophe“ nennt. Die „blinde Überausbeutung endlicher Ressourcen“, bedingt durch die Produktions- und Konsumverhältnisse in den Wohlstandsregionen und Entwicklungszonen der Erde, treibt unweigerlich „auf einen zeitlich nicht festgelegten, jedoch nicht endlos aufschiebbaren Crash-Punkt“ zu (S. 707f.). Gibt es ein Entrinnen? Gibt es ein vernünftiges Motiv, dem von Hans Jonas formulierten und von Sloterdijk zitierten ökologischen Imperativ Folge zu leisten? Er lautet:
„Handle so, dass die Wirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde“. (S. 708)
Die Hoffnung kann nur in dem liegen, was man „Ko-Immunismus“ (S. 713) nennen könnte. Wie jeder biologische Organismus Immunitätsstrukturen ausbilden muss, um sein Überleben in einer rücksichtslosen Umwelt möglich zu machen, so könnte sich die Weltgesellschaft überbiologische und überindividuelle Immunitätsstrukturen aneignen. Eine solche Struktur „globaler immunitärer Vernunft“ heißt „Zivilisation“ (S. 712). Ihre Theorie ist die legitime Nachfolgerin aller Metaphysik und aller Religionen. Beides, diese Theorie und die zugehörige zivilisatorische Praxis in jedem von uns zu verankern, wäre die vornehmste und wichtigste Aufgabe jeder Bildungsarbeit.
Kein Zweifel: Sloterdijks Buch wird nicht ungeteilten Beifall finden. Diese Art Aufklärung und Ent-täuschung muss man zu schätzen wissen. Wer aber eine Artistik der Sprache im Einklang mit einer Genauigkeit des Denkens und überhaupt frische Luft zum Durchatmen auf weitverzweigten Höhenwegen sucht, kann alles drei in diesem Buch finden.
Herbert Gerl
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern: Über Religion, Artistik und Anthropotechnik. Frankfurt (Suhrkamp), 2009, ISBN 978-3518419953, 714 Seiten, EUR 24,80.