Findet den roten Hering
Schmidt-Salomon greift sich eine der von Machan erwähnten angeblichen Konsequenzen der Willens-Unfreiheit heraus, weil er glaubt, dass es uns helfen würde, Morde als Naturkausalitäten zu betrachten. Das ist Rosinenpicken. Wir hören nicht, dass wir damit aufhören sollen, unsere Kinder für ihre guten Noten zu loben oder uns bei jemandem zu bedanken, obwohl das mit der selben Logik aus der Willens-Unfreiheit folgen würde, wie unser Verzicht auf moralische Empörung. Mit der selben falschen Logik.
Wie bereits gesagt, glaube ich von den Prämissen her dasselbe wie Schmidt-Salomon: Bestimmte Ursachen führen dazu, dass wir dieses oder jenes wollen. Aber es gibt keine logische Verbindung zwischen der Willensfreiheit und der Art und Weise, wie wir unser Leben leben sollten!
Sagen wir hypothetisch, dass ich den Mörder meiner Tochter moralisch verantwortlich mache für seine Tat, weil ich glaube, dass er auch anders hätten handeln können. Warum sollte etwas Bestimmtes daraus folgen? Angenommen, der Mörder hätte sich ohne Grund oder Ursache für den Mord entschieden, einfach so, wie es uns die Libertarier weismachen wollen. Bringt es mir nun etwas als Betroffener, ewig mit unbefriedigten Rachegelüsten in der Gegend herumzulaufen? Wenn es mir hilft, kann ich mich davon überzeugen, dass der Täter den Mord nur als Folge einer Kausalkette begangen hat. Ebenso könnte ich mich davon überzeugen, dass ich meine Tochter nur als Folge einer Kausalkette überhaupt vermisse und dass ich diesen Bioautomaten nur aufgrund physikalischer Naturgesetze überhaupt jemals geliebt habe. Beides dürfte mir bei der Verarbeitung jener Tragödie helfen. Aber keine dieser Möglichkeiten folgt aus der Willensfreiheit oder deren Mangel.
Und dabei ist die Lösung des Problems schon in der Argumentation von Schmidt-Salomon angelegt. Er unterscheidet zum Beispiel Schuld von Reue. Schuld bedeutet eine moralische Verurteilung, Reue ist die Einsicht in einen Fehler, um in Zukunft diesen nicht zu wiederholen (vgl. S. 215). Ob wir uns schuldig fühlen oder unsere Tat bereuen, folgt beides notwendig aus bestimmten Ursachen. Aus dieser Tatsachenfeststellung kann man aber nichts ableiten, schon gar keine eine Beurteilung, ob denn nun Schuld oder Reue besser wäre. Die sind einfach da, wenn sie da sein müssen.
Die Beurteilung, was nun vorzuziehen wäre, entspringt also einer anderen Quelle als der Willens-Unfreiheit. Stattdessen hat Schmidt-Salomon darüber nachgedacht, welches Verhalten unser Leben verbessern könnte. Es wäre zum Beispiel besser, statt in Selbsthass zu verfallen, an der Lösung von Problemen zu arbeiten. Ebenso wäre es besser, Kriminelle nicht dafür zu bestrafen, dass sie angeblich böse sind, sondern um etwas mit dieser Strafe zu erreichen, etwa um eine Wiederholung der Tat zu verhindern und andere abzuschrecken. Schon sind wir wieder beim Konsequenzialismus angelangt, der fragt: Wie können wir unsere Ziele erreichen?
Die Antwort auf die Frage, was wir erreichen wollen, entnimmt Schmidt-Salomon dem Epikurismus: Wir wollen glücklich sein. Der Utilitarismus, der moderne Nachfolger des Epikurismus, strebt das größte Glück der größten Menge an. Meine eigene Formulierung lautet wie folgt: "Vermehre das Glück leidensfähiger Lebewesen". Hier sind Tiere mit eingeschlossen.
Oder wollen Sie nicht glücklich sein? Wollen Sie lieber traurig sein? Manchmal vielleicht. Aber insgesamt gesehen, möchten wir doch eher ein glückliches, als ein trauriges Leben führen, wage ich zu verallgemeinern.
Vergebung, wenn es sein muss
Was tun wir also, um dieses Ziel zu erreichen? Schmidt-Salomon erwähnt einige Beispiele, um für Vergebung zu werben. Zum Beispiel einen grausamen Mord in den USA, der nicht aufgeklärt werden konnte. Die Täter wurden nie gefasst. Hätten die Kinder der ermordeten Mutter also lebenslang unter Rachegefühlen leiden sollen, also vor allem darunter, dass die Täter niemals bestraft würden? Gewiss nicht, es war also sinnvoll, den Tätern "in Abwesenheit" zu vergeben, weil sie ja sonst nur noch mehr Leid ausgelöst hätten. Und wozu unnötiges Leid?
Ich habe noch ein eindringliches Beispiel entdeckt: Die Holocaust-Überlebende Eva Kor hat Josef Mengele vergeben, dass er sie vergiftet und ihre Zwillingsschwester ermordet hat. Andere Holocaust-Überlebende haben ihr das übelgenommen, aber ich denke, Eva Kor hatte einen guten Grund, das zu tun (nicht dass es mich, oder sonstwen, im Grunde etwas angehen würde). Schließlich war sie es, die unter dem schrecklichen Ereignis leiden musste. Erst die Vergebung befreite sie von ihrem Leid. Ich sehe keinen Grund, warum man Nazis auch noch dabei helfen sollte, Leid anzurichten. Und wenn es die Vergebung braucht, um Nazis zu bekämpfen, dann soll auch dieses Mittel recht sein. Gewiss wäre es besser gewesen, Mengele einzufangen und ihn zu bestrafen, aber das ist eben nicht geschehen.
Schmidt-Salomon argumentiert also für Vergebung aus konsequenzialistischen, epikuräischen Gründen: Wir sollten vergeben, um glücklicher zu sein. Und nicht, weil es keinen freien Willen gibt. Ergänzen würde ich allerdings, dass wir nicht immer vergeben sollten, nämlich dann nicht, wenn unsere Rachegelüste tatsächlich dazu beitragen, die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Vergebung ist eben nur Mittel zum Zweck.
So. Und dieses Konzept kann man nun auf alles anwenden.
Sollten wir unseren Sohnemann für gute Noten loben? Ja, weil ihn das anspornen wird, sich weiterhin zu bemühen. Sollten wir unsere Kinder lieben? Ja, weil wir uns dann besser fühlen und weil sie sich dann besser fühlen. Mehr Glück für alle. Dass es auch ein natürliches Bedürfnis gibt, seine Kinder zu lieben, ist klar und hilft gewiss dabei. Aber wir könnten aus philosophischer Überzeugung gegen unsere natürliche Neigung ankämpfen, unsere Kinder zu lieben, würden wir das als sinnvoll erachten (wie Puritaner oder die Taliban). Natürlich existieren empirische Fakten über die Realität, die man jeweils bei der Abwägung einbeziehen muss, ob und wie bestimmte Ziele erreicht werden können.