Kritik an Kirchen, Konservativen, Ärzten
Den Anspruch der Kirchen, Menschen langsam sterben zu lassen, führt Matthias Kamann schlicht auf das erforderliche Zeitbudget zurück, innerhalb dessen „Muße für die Buße“ gewonnen werden solle und dass noch ausreichend Zeit bleiben müsse, um „die Sterbesakramente und -hilfsangebote der Kirche in Anspruch nehmen zu können“. Er kommt zu der erstaunlichen und für einen offenbar gläubigen Mann überaus kirchenkritischen Aussage: „Man braucht nicht allzu viel bösen Willen, um zu behaupten, dass hier der Palliativmedizin funktional jene Rolle zugewiesen wird, die der Methode Knaus-Ogino im Rahmen der vatikanischen Sexualethik zukommt.“ Etliche Seitenhiebe auf christliche Todestheologen und Kübler-Ross’ „angeblich zu durchlaufenden Sterbephasen“ folgen, in denen er kirchliche Macht- und Monopolinteressen bloßlegt.
An ärztlichen Machtinteressen arbeitet sich Kamann weiter ab, während er das Thema Patientenverfügungen kenntnisreich ausbreitet und sodann auf das Lager politischer Parteien (CDU/CSU) etwas zu detailliert eingeht, welche diese nach seiner Ansicht begrüßenswerten Patientenverfügungen zu verhindern suchten.
Interessant ist zum Ende der Hinweis, dass in den Niederlanden eine bereits eingespielte, inoffizielle Praxis einfach nachträglich legitimiert wurde, ohne dass der Staat eigene Regeln aufstellte. In der Schweiz wiederum hat kein Gesetz, sondern die Sterbehilfe-Vereine betätigen sich in einer Gesetzlücke. Eine Variante der vorbildlichen Verantwortung des Staates zeigt der Autor schließlich am Beispiel Oregons auf.
Den Schluss verschwurbelt Kamann ein wenig, da er selbst offensichtlich den Tod als „schrecklich“ ansieht und ebendiese Sichtweise nicht relativiert (möglicherweise empfinden andere Menschen anders). Damit widerspricht er sich in der eigenen Argumentationslinie der individuellen Selbstbestimmung. Außerdem ist es denkbar, dass, wie in anderen existenziellen Extremsituationen,während des Sterbens Selbstbestimmung als wichtiger individueller Wert zugunsten anderer Faktoren in den Hintergrund tritt.
Fazit
Die Kriterien, anhand derer Kamann seine Ergebnisse bewertet, sind nicht immer klar: einerseits scheinen sie seine eigenen Ängste und persönlichen Werte zu spiegeln, andererseits leitet er sie nachvollziehbar (und manchmal anerkennendes Staunen der Rezensentin hervorrufend) her. Das Buch regt zum Nachdenken über das Sterben an und bringt viele neue Aspekte eines eindeutigen Kenners der Materie auf den Punkt. Die Argumente entlang der thematischen Linie „Patientenverfügung und Sterbehilfe – ja oder nein?“ sind klar und nachvollziehbar. Die anderen, exkursiven Stränge wirken jedoch manchmal seltsam unverbunden und sind oftmals trotz interessanter Erkenntnisse nicht wasserdicht aufbereitet, wodurch sie ihre Kraft verlieren. Kamanns Buch ist jedoch insgesamt ein zutiefst humanistisches Plädoyer wider die Normierung des Sterbeprozesses und für den Menschen im Leben wie im Sterben.
Fiona Lorenz
Matthias Kamann: Todeskämpfe. Die Politik des Jenseits und der Streit um Sterbehilfe. transcript 2009, 158 S