(hpd) Alfred Grosser, emeritierter Professor für Politikwissenschaft, hat ein Lebensmotto: Die Menschenrechte sind unteilbar und immer und überall einzufordern. Auch in der Reflexion über die deutsche Schuld im Kontext des Holocaust und hinsichtlich der aktuellen Kritik an Israel behält er seine kritische Reflexion.
Als Kind einer jüdischen Familie musste Alfred Grosser 1933 im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern Deutschland verlassen und nach Frankreich emigrieren. 1944 wurden nahe Verwandte von ihm in Auschwitz ermordet. Dies ließ in ihm aber zu keine Zeit eine Feindschaft gegenüber allen Deutschen aufkommen. Vielmehr stellte sich der spätere Politikwissenschaftler schon zu Beginn der 1950er Jahre in den intellektuellen Dienst der deutsch-französischen Versöhnung, was ihm im Laufe der Zeit etliche Ehrungen u.a. in Gestalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1975 einbrachte. In den letzten Jahren formulierte Grosser auch öffentlich scharfe Kritik am Umgang der Israelis mit den Palästinensern. Sie findet sich vorsichtig, aber doch deutlich formuliert auch in seinem neuesten Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel“. Im Vorwort benennt er als Motiv dafür die moralische Verpflichtung eines Glücklichen, sich „so gut es ging um Unglückliche zu kümmern“ (S. 7).
Die sechs folgenden Kapitel enthalten Reflexionen zu den unterschiedlichsten Aspekten des Titelthemas: Zunächst geht es allgemein um „kollektive Identitäten“, wobei Grosser betont: „Man sollte niemals die sagen“ (S. 17). Es gibt nicht „die“ Deutschen oder „die“ Franzosen, es bedürfe der Differenzierung: „Jeder von uns hat eine Vielfalt von Identitäten, eine Menge von Zugehörigkeiten“ (S. 17). Danach steht die deutsche Schuld im Kontext des Holocaust im Zentrum des Interesses, wobei Grosser deutlich macht: „Heute, mehrere Generationen später, sollte eigentlich nicht mehr von Schuld die Rede sein, sondern von Haftung“ (S. 43). Inwieweit die damit angesprochen Morde an den Juden einzigartig und unvergleichbar sind, thematisiert er anschließend. Hierbei macht Grosser auf unsinnige Formulierungen im Kontext vergleichender Betrachtung aufmerksam: Die Bewertung „undenkbar“ setzte als Einschätzung vorherige Überlegungen voraus, und auch die Formulierung „unvergleichbar“ sei die Folge einer vergleichenden Betrachtung.
Danach unternimmt der Autor einen thematischen Sprung und widmet sich dem neuen Feindbild Islam, wobei in dem Abschnitt einseitige Schuldzuweisungen und rigorose Werturteile einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Erst danach geht Grosser auf Israel ein, aber auch hierbei ohne pauschale Verdammungsurteile zu formulieren. Es werden so unterschiedliche Themen angesprochen wie die Vertreibung der Palästinenser 1948, die Bedeutung von Kleinparteien angesichts des Wahlsystems oder die aktuelle Rolle der Hamas im Gaza-Gebiet. Und abschließend geht es noch um das Verhältnis von Deutschland, Israel, Juden und Muslimen. Hierbei lobt Grosser die kritischen Worte von Mitterrand und Sarkozy in Israel gegenüber der dortigen Politik. In Deutschland sei man demgegenüber weitaus zurückhaltender: „Was nun Israelkritik angeht, so möchte ich mit Martin Walser behaupten, dass es eine Moralkeule gibt, die ständig geschwungen wird“ (S. 177). Der Antisemitismus-Vorwurf diene der Immunisierung vor Kritik.
Grosser trägt seine Reflexionen in lockerer Schreibe vor, vermischt sie mit autobiographischen Betrachtungen und persönlichen Kommentaren. Dies erhöht die Lesbarkeit, vermindert aber die Systematik. So springt Grosser inhaltlich häufig hin und her, ohne seine Überlegungen weiter zu vertiefen. Im letzten Kapitel geht es etwa ebenso um eine Kritik am Alleinvertretungsanspruch des Zentralrats der Juden in Deutschland wie an der Geschichtsbetrachtung von Daniel J. Goldhagen oder dem zweifelhaften Wirken des Publizisten Henryk Broder. Insofern handelt es sich auch mehr um individuelle Kommentare und weniger um ein wissenschaftliches Werk. Gleichwohl beeindruckt der Autor auch in dieser Form, spricht hier doch eine humanistische Persönlichkeit. Mitunter rutscht Grosser dabei auch in die Einseitigkeit ab, wenn etwa die legitimen israelischen Sicherheitsinteressen allzu wenig beachtet werden. Sein Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem“ enthält aber genügend wichtige Anregungen für kritische Reflexionen zu wichtigen Positionen.
Armin Pfahl-Traughber
Alfred Grosser, Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel, Reinbek 2009 (Rowohlt-Verlag), 204 S., 16,90 €