BERLIN. (VeH/hpd) Der Verein ehemaliger Heimkinder (VeH) hat den Zwischenbericht, den der vom Deutschen Bundestag eingerichtete „Runde Tisch Heimerziehung“ am 22. Januar vorlegte, mit scharfen Worten kritisiert. Die Vorsitzende des Vereins, Monika Tschapek-Güntner, sagte, sie fühle sich durch die gezielte Hinhaltetaktik von Staat und Kirchen verschaukelt.
Unterstützer der Heimkinder wie der Hamburger Rechtsanwalt Gerrit Wilmans und der Trierer Philosoph Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung sprachen im Hinblick auf den Zwischenbericht sogar von „zynischen Propagandalügen“ sowie einer „schädlichen Kumpanei von Staat und Kirche“. Um den bislang am Runden Tisch nur wenig beachteten Forderungen der Heimkinder Nachdruck zu verleihen, plant der VeH am 15. April 2010 eine groß angelegte Demo in Berlin.
„Der Zwischenbericht enthält über weite Strecken nur Altbekanntes!“, erklärte VeH-Vorsitzende Tschapek-Güntner. „Dafür hätte es wirklich keiner einjährigen Arbeit bedurft! Angesichts der Tatsache, dass die zentrale Frage der Entschädigung erst in der letzten Sitzung des Runden Tisches verhandelt werden soll, drängt sich der Eindruck auf, dass es sich hierbei um eine gezielte Hinhaltetaktik handelt! Offenbar wollen die Vertreter des Staates und der Kirchen uns am Schluss ein Entschädigungsmodell präsentieren, über das im Vorfeld nie öffentlich diskutiert wurde und das mit Sicherheit nicht geeignet sein wird, um das erlittene Unrecht zu kompensieren! Wir fühlen uns von Staat und Kirchen regelrecht verschaukelt!“
Als besonders problematisch stufte Tschapek-Güntner jene Passage im Zwischenbericht ein, in der es heißt, die Entschädigung für Heimkinder müsse „in einem angemessenen Verhältnis zu den Leistungen, die andere Opfergruppen in der deutschen Geschichte erhalten haben, stehen.“ Die VeH-Vorsitzende sagte dazu: „Wenn in der Vergangenheit Opfergruppen nicht angemessen entschädigt wurden, so darf dies doch nicht als Legitimation dafür gelten, dass nun auch die Heimkinder nicht angemessen entschädigt werden sollen! Durch die Berufung auf einen alten Skandal verhindert man keinen neuen! Glücklicherweise gibt es für die Entschädigung von Heimkindern internationale Vergleichsmöglichkeiten, nämlich die Zahlungen, die in Irland und Kanada geleistet wurden. Wenn Deutschland, wie von den Kirchen- und Staatsvertretern offensichtlich angestrebt, weit unter den dortigen Richtlinien bleiben sollte, so wäre dies eine internationale Blamage für unser Land!“
Weiterhin hob Tschapek-Güntner hervor, dass die ehemaligen Heimkinder keineswegs vorrangig den Staat für die Einrichtung des Entschädigungsfonds zur Kasse bitten wollen. „Zwar hat die öffentliche Hand bei der Heimaufsicht kläglich versagt, aber hauptverantwortlich sind und bleiben für uns die Erstverschulder des Leids, nämlich die überwiegend kirchlichen Heimträger sowie die Industrie, die von der unbezahlten Heimkinderarbeit profitierte. Zu diesen industriellen Profiteuren zählen bekanntlich einige der größten deutschen Firmen! Dennoch sitzt bislang kein einziger Vertreter der Industrie am Runden Tisch! Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Mehrheit der Vertreter am Runden Tisch unsere Forderung nach einer angemessenen Entschädigung nicht Ernst nimmt!“
Menschenrechtsverletzungen
Rechtsanwalt Gerrit Wilmans, der die Interessen der Heimkinder vertritt, kritisierte am Zwischenbericht, dass er das systematische Unrecht, das den Heimkindern widerfuhr, nicht als „Menschenrechtsverletzung“ werte: „Der Grund für diese Sprachregelung ist offensichtlich: Würde man von Menschenrechtsverletzungen sprechen, so könnte die Verjährung der Verbrechen ausgesetzt werden, was zur Folge hätte, dass die Heimkinder eine juristische Grundlage für materielle Entschädigungen besäßen.“ Wilmans verwies in diesem Zusammenhang auf ein Urteil des BGH (BGH - 5 StR 451/99), das die Vergabe von Dopingmitteln an uneingeweihte, minderjährige Sportler als Menschenrechtsverletzung wertete. Dabei entschied das Gericht, dass die Verjährung dieser Straftat aufgrund „eines quasi gesetzlichen Verfolgungshindernisses“ geruht habe. „Das Ruhen der Verjährung der Unrechtstaten wurde in dem angeführten Fall damit begründet, dass sie systemimmanent durch das Regime der SED nicht verfolgt wurden“, sagte Wilmans. „Müssen wir diese Logik nicht auch auf den Fall der Heimkinder anwenden? Auch hier müsste doch die Verjährung der Unrechtstaten in den Heimen ruhen, da diese durch die erwiesene Kumpanei des Staates mit den kirchlichen Heimträgern ebenfalls aus systemimmanenten Gründen nicht verfolgt wurden! Sollte sich die schädliche Kumpanei von Staat und Kirche nun am Runden Tisch fortsetzen, wie es gegenwärtig der Fall zu sein scheint, so wirft dies kein gutes Licht auf die Verfasstheit unserer Gesellschaft!“
„Zynische Propagandalüge“
Noch drastischere Worte fand der Philosoph und Erziehungswissenschaftler Michael Schmidt-Salomon, der als Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung die Anliegen der ehemaligen Heimkinder unterstützt: „Es ist erwiesen, dass Heimkinder unter Androhung drastischer Strafen dazu gezwungen wurden, Arbeiten in der Industrie, im Dienstleistungsgewerbe oder in der Landwirtschaft zu verrichten. Dass die Mehrheit der Vertreter am Runden Tisch für diesen klaren Sachverhalt den Begriff ‚Zwangsarbeit’ ablehnt, weil dieser Begriff angeblich für die „NS-Zwangsarbeiter“ reserviert sei, kann man nur als zynische Propagandalüge bezeichnen! Sollen wir denn wirklich glauben, dass Frau Vollmer und all die anderen hochrangigen Vertreter der Kirchen und des Staates die deutsche Verfassung nicht kennen?! In Artikel 12 Absatz 3 unseres Grundgesetzes heißt es wörtlich: ‚Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.’ Wäre der Begriff ‚Zwangsarbeit’ tatsächlich für die Verbrechen des NS-Regimes reserviert, müsste Artikel 12 Absatz 3 sofort aus dem deutschen Grundgesetz gestrichen werden! In Wahrheit bezeichnet der Begriff ‚Zwangsarbeit’ einen eindeutig definierten, juristischen Sachverhalt, der keineswegs mit den NS-Verbrechen identisch ist. Es ist deshalb einigermaßen zynisch, wenn der Runde Tisch die nazistischen Gräueltaten heranzieht, um mit Hilfe dieses rhetorischen Kniffs den realen Sachverhalt der erzwungenen Kinderarbeit in den Heimen zu vernebeln! Man spürt die Absicht und ist verstimmt!“
Außerdem kritisierte Schmidt-Salomon, dass der Zwischenbericht die Ursachen für die Menschenrechtsverletzungen in den deutschen Heimen unzulässig ausblende: „Es ist erfreulich, dass der Zwischenbericht die zentralen Fakten anerkennt und von einem ‚System Heimerziehung’ spricht – statt von einigen ‚bedauerlichen Einzelfällen’. Unzulässig ist jedoch der im Zwischenbericht unternommene Versuch, das „System Heimerziehung“ über den Vergleich mit der damals praktizierten Familienerziehung tendenziell zu entschuldigen. Denn für die autoritäre Erziehung sowohl in den Heimen als auch in den Familien waren letztlich dieselben gesellschaftlichen Kräfte maßgeblich verantwortlich: nämlich die christlichen Kirchen, die die damals längst schon entwickelten Ansätze zu einer weniger autoritären, undogmatischeren Pädagogik als ‚unvereinbar mit dem christlichen Menschenbild’ abwiesen! Es waren nun einmal christliche Überzeugungen, die uneheliche Kinder in den Augen der Gesellschaft zu ‚Bastarden’ werden ließen! Und es waren ebenso christliche Vorstellungen, die Erzieher glauben ließen, dass wer sein Kind liebe, es auch züchtigen müsse! Die eigentliche Tragik der Heimkinder besteht insofern darin, dass sie die besonderen ‚Segnungen’ dieser Pädagogik aus erster Hand erfahren mussten, während andere Kinder ihr nur vermittelt durch möglicherweise etwas weniger glaubensfeste Eltern ausgeliefert waren!“
Die Kirchen müssen zahlen!
„Von daher“, so Schmidt-Salomon in seiner abschließenden Bilanz, „hätten die Kirchen heute allen Anlass, sich bei einem Großteil der Kinder zu entschuldigen, die in den 40er, 50er und 60er Jahren aufgewachsen sind! Im Falle der Heimkinder, für die sie direkt verantwortlich waren, reicht eine solche, rein verbale Entschuldigung jedoch keineswegs aus! Die Kirchen können sich nicht aus der Affäre ziehen nach dem Motto: ‚Liebe Heimkinder, wir haben zwar gut an euch verdient und euch systematisch gequält, aber außer unserem tiefsten, aufrichtigen Bedauern dürft ihr keinen müden Cent von uns erwarten!’ Wer einen so hohen moralischen Anspruch vor sich herträgt wie die christlichen Kirchen, der darf nicht kneifen, wenn es darum geht, diesen Ansprüchen in der Realität halbwegs gerecht zu werden! Die Kirchen haben, wie wir aus sicherer Quelle wissen, sehr wohl das finanzielle Vermögen, um die ehemaligen Heimkinder für das an ihnen verübte Unrecht angemessen zu entschädigen! Falls die Kirchen für die Folgen ihrer Verbrechen nicht freiwillig zahlen wollen, so müssten sie dazu gezwungen werden! Menschenrechtsverletzungen sind nun einmal keine Kavaliersdelikte!“
Demo am 15. April
Um den bislang am Runden Tisch nur wenig beachteten Forderungen der Heimkinder Nachdruck zu verleihen, plant der VeH am 15. April 2010 eine groß angelegte Demo in Berlin. „So schnell lassen wir uns ganz gewiss nicht unterkriegen!“, sagte Monika Tschapek-Güntner. „Die Damen und Herren am Runden Tisch sollen wissen, dass wir ihre Vorschläge nicht kritiklos schlucken werden! Sie haben es zwar erfolgreich verhindert, dass wir mit juristischem Beistand am Runden Tisch mitwirken dürfen, doch das heißt nicht, dass wir als NGO nicht auch auf anderem Wege gesellschaftlichen Druck aufbauen können!“
C.F.