II. Der Heilige Stuhl und Deutschland
Katholisches Kirchenrecht
Wenn Deutschland und die UN-Kommission die deutschen Gesetze zum Schutz des Kindes evaluieren, ist auch das katholisches Kirchenrecht einzubeziehen, um sicher zu stellen, dass dieses den deutschen Staat nicht an der Einhaltung der Kinderrechtskonvention hindert. Darüber hinaus kann nur bei Kenntnis und Verständnis des katholischen Kirchenrechts die deutsche römisch-katholische Kirche dem eigenen Recht entsprechend in die Pflicht genommen werden.
Das kanonische Recht („Kodex“) liefert die rechtliche Basis nicht nur für die Gesetzgebung des Vatikans (physische und territoriale Basis des Heiligen Stuhls), sondern beschreibt auch die für alle Katholiken in der ganzen Welt bindenden, grundlegenden und disziplinarischen Vorschriften der römisch-katholischen Kirche. Das kanonische Recht erkennt in einigen Abschnitten die Rechte der Kinder an und schreibt fest, dass sexueller Missbrauch an Kindern durch Geistliche und Ordensleute unvereinbar mit Kinderrechten ist.
Zunächst stellt der Kodex - ebenso wie die UN-Konvention über die Rechte des Kindes - fest, dass die Volljährigkeit mit achtzehn Jahren eintritt. Laut Kodex obliegt die Ausübung der Kindesrechte vor Erlangung der Volljährigkeit den Eltern oder dem Vormund des Kindes (obwohl in einigen Fällen das Kindesrecht der elterlichen Autorität vorausgeht, wie z.B. im Falle von Kindsmisshandlung).
Der Kodex erklärt einige Grundrechte für den Schutz und die Verteidigung des Kindes. Er sagt ganz klar, dass Katholik(inn)en in Einklang mit dem Gesetz einen Anspruch darauf haben, ihre Rechte in einem kompetenten kirchlichen Forum zu verteidigen. Ebenso definiert der Kodex die Beziehung zwischen Menschen im Verhältnis zu ihrer hierarchische Beziehung innerhalb der Kirche. Der Papst hat die oberste, volle, direkte und universelle Macht in der katholischen Kirche inne. Er allein billigt Gesetzesänderungen im kanonischen Recht; er ist der direkte Vorgesetzte der Bischöfe. Der Papst ist also auch der Vorgesetzte der Bischöfe in Deutschland.
Die Bischöfe einer Diözese überwachen die Lebensführung der ihnen unterstehenden Priester. Wo es angemessen ist, greifen sie sogar ein. Diese Männer sind gehalten, auf die Einhaltung des Rechts zu achten und üben legislative wie judikative Funktionen aus. Der Kodex befähigt Diözesanbischöfe, bei Vergehen gegen den priesterlichen Zölibat und sexuelle Enthaltsamkeit Verordnungen herauszugeben und Urteile zu verhängen. Der Bischof ist Exekutive, Legislative und Judikative in allen Angelegenheiten der Diözese. In den meisten Fällen liegt die Verantwortung bei Fällen von sexuellem Missbrauch an Kindern durch Geistliche zunächst bei den Diözesanbischöfen, letztlich aber beim Vatikan.
Der Kodex des Vatikan besagt in seinem Abschnitt zum Strafrecht ausdrücklich, dass sexuelle Handlungen an Minderjährigen durch Geistliche ein schweres Verbrechen darstellen. Sie sind entsprechend zu ahnden, gegebenenfalls sogar mit Entlassung aus der Geistlichkeit - was als die schwerste Strafe für einen Priester angesehen wird. Der Kodex beschreibt in der Folge ein detailliertes Gerichtsverfahren zur Untersuchung solcher Anschuldigungen und zur Ahndung solcher Straftaten. Dieses Verfahren enthält einige Mechanismen zum Schutz der Rechte des beschuldigten Priesters wie auch des Anklägers, ebenso Verfahrensbestimmungen, wenn ein Gerichtsverfahren angestrengt wird. Laut Gesetz wird dem Opfer von Missbrauch garantiert, an einem Rechtsverfahren teilzuhaben, Entschädigung verlangen und erhalten zu können. Es sieht sogar eine Strafe wegen Fahrlässigkeit vor, die zur Geltung kommt, wenn ein Vorgesetzter es versäumt hat, ihm angezeigte Fälle von gerichtlich verfolgbaren Straftaten zu untersuchen oder zu ahnden. Zusätzlich zu diesen Regelungen erlaubt das Rechtssystem des Heiligen Stuhls einem Vorgesetzten, in ungeheuerlichen Fällen direkt den Heiligen Stuhl anzurufen, so dass schnell und ohne langwieriges Prozessverfahren eine Strafe verhängt werden kann.
Spezielle Gesetze gelten für Katholiken, die Mitglieder von Institutionen geweihten Lebens sind, gleich ob weltlich oder religiös. Viele solcher Institutionen sind als „religiöse Orden“ bekannt, wie z.B. die Dominikaner, die Franziskaner, die Jesuiten, die Christlichen Brüder oder religiöse Frauenorden. Hier sieht der Kodex bei bestimmten Straftaten eine zwingende Entlassung aus der Institution vor (allerdings sieht der Kodex auch vor, dass im Falle sexueller Straftaten der hierarchische Vorgesetzte den Täter nicht entlassen muss, wenn der Vorgesetzte entscheidet, dass auf andere Art und Weise Gerechtigkeit wieder hergestellt werden und der Skandal ausgeglichen werden kann). Solche Verbrechen sind Mord, Entführung und sexuelle Handlungen unter Anwendung von Gewalt und Drohungen, besonders wenn diese öffentlich stattfinden oder an Minderjährigen verübt werden. Neben dem Kodex haben diese Organisationen ihre eigenen Verfassungen und Verhaltensregeln. Die Oberen in den jeweiligen Institutionen sind dafür verantwortlich, dass das Recht von den Mitgliedern ihrer Institution eingehalten und befolgt wird. Alle Gesetze, die sich auf den sexuellen Missbrauch an Kindern durch Geistliche beziehen, sowie die Behörden vor Ort, die für die Einhaltung dieser Gesetze sorgen sollen, unterstehen nun direkt einem Amt des Heiligen Stuhls.
Neues Gesetz fordert Verschwiegenheit und zentralisiertes Rechtsvorgehen
2001 veröffentlichte der Heilige Stuhl ein Dokument mit dem Titel Sacramentum sanctitatis tutela [Englische Fassung]. Es beinhaltet eine kaum öffentlich gemachte, aber bedeutsame Gesetzesänderung. Mit diesem Dokument, welches die entsprechenden Normen des Kirchenrechtes ersetzt, weist der Heilige Stuhl alle Bischöfe an, eine seiner Behörden, die Kongregation für die Glaubenslehre (Glaubenskongregation), zu informieren, sobald sie von einem Fall potentiellen sexuellen Kindesmissbrauchs durch einen Geistlichen erfahren. Das gleiche Gesetz verbietet Bischöfen und anderen kirchlichen Dienststellen, ohne direkte Weisung durch einen Vertreter des Vatikan Maßnahmen zu ergreifen, die über eine erste Untersuchung der Anschuldigungen hinausgehen.
Gemäß dem neuen Gesetz kann diese vatikanische Behörde nach eigenem Ermessen selbst eine Untersuchung durchführen oder kann der lokalen ausführenden kirchlichen Behörde diesbezüglich Weisung erteilen. Diese Fälle, so will es das Gesetz, „unterliegen dem pontifikalen Geheimnis“. Dies ist Ausdruck der höchsten Stufe von Vertraulichkeit des Heiligen Stuhls - knapp unterhalb der absoluten Verschwiegenheit sakramentalen Rangs. Sie ermächtigt den Heiligen Stuhl, gleich welche Partei zu bestrafen, die Informationen über sexuellen Missbrauch durch Geistliche öffentlich macht. Des Weiteren bestimmt das Dokument, dass niemand außer einem Priester mit einem Verfahren zu sexuellem Missbrauch befasst sein darf. Diese Bestimmungen lassen Zweifel bezüglich der Integrität der kirchen-internen Verfahren sowie Fragen nach Konflikten mit der jeweiligen staatlichen Rechtsprechung, der die Kirchenangehörigen unterstehen, aufkommen.
Die neuen rechtlichen Ausführungen stellen zwei Dinge klar: (1) Der Heilige Stuhl beansprucht offen, solche Fälle selbst zu behandeln, und (2) der Heilige Stuhl beabsichtigt nicht wirklich die Einhaltung der Kinderrechtskonvention. (Er umgeht durch seine Verschwiegenheitsklausel die Regulierungen zur Anzeige nach Artikel 44 der Konvention, er verletzt gesetzesmäßige Anstrengungen zur Einhaltung der Konvention anderer Unterzeichnerstaaten wie Deutschland, er veranlasst zu Gunsten seiner eigenen neuen geheimen Vorgehensweise die Umgehung ihrer Gesetze).
Im Allgemeinen sieht der Heilige Stuhl in Fällen von sexuellem Missbrauch Wiedergutmachung und einen gewissen Schutz für Kinder vor, ebenso die Bestrafung von Geistlichen und Ordensleuten, die sich sexuell an Kindern vergreifen. Allerdings nützt ein Gesetz wenig, wenn es nicht angewendet wird. Viele kanonische Gesetze berühren diese Angelegenheiten; sie wurden fortwährend ignoriert, und zu Gunsten der kirchlichen Ämter und ihres institutionellen Ansehens ungenügend oder falsch angewandt.