Kinderrechte als Zufallsprinzip
Dr. İlhan Ilkılıç, Mediziner und Islamwissenschaftler, verkündet folgendes: “Die Implikationen des Kindeswohls können nicht universell und kulturinvariant bestimmt werden.(…) …das Kind würde innerhalb seiner eigenen Kultur- und Religionsgemeinschaft Diskriminierungen und Ausgrenzungen erleben.”
Ilkılıç lässt die Möglichkeit außer Acht, dass eine Ausgrenzung und Diskriminierung sich auch auf anderem Wege vermeiden ließe als mit einer zwangsweisen Anpassung des Kindes an die Vorstellungswelt der Erwachsenen. Er stellt sie nicht nur als ein unveränderliches Faktum dar, er verteidigt sie damit auch. So stellt er sich jeglichem Bestreben, Diskriminierungen von Einzelnen und Minderheiten zu beseitigen, diametral entgegen, indem er diese zum schützenswerten Kern der Gemeinschaft erhebt. Die großen Erfolge, die Menschenrechtler in den Vergangenheit zum Beispiel im Bereich der Gleichberechtigung von Frauen und bei der Abschaffung der Apartheid erzielen konnten, wären bei dieser Sichtweise nicht nur nicht möglich gewesen, sie müssten auch als kulturzerstörend interpretiert werden.
“Denn wir haben es hier nicht mit einer lebensgefährlichen Situation eines Kindes zu tun (…)” Hier geht er sogar noch weiter, indem er den Akzeptanzrahmen auf unfassbare Grenzen erweitert - solange es nicht lebensgefährlich ist, soll es in Ordnung sein.
“Ebenso kann nicht von einer Organschädigung oder der damit verbundenen Organdysfunktion gesprochen werden, wie sie bei der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen vorkommt. Bekanntermaßen gehört die Beschneidung in manchen Ländern - wie in den Vereinigten Staaten - zu den akzeptierten medizinischen Präventionsmaßnahmen (…) Deswegen ist die Identifizierung dieser Maßnahme mit einem gesundheitlichen Schaden - was in der öffentlichen Diskussion oft unterstellt wird - nicht hinnehmbar.” Dr. Ilkilic bagatellisiert die möglichen wie unausweichlichen Folgen der Vorhautamputation. Damit widerspricht er gleich mehrfach unter anderem dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), welcher einen gesundheitlichen Schaden durchweg bestätigt und den weitreichenden Verlust sensiblen Gewebes als eine Schädigung ansieht. Gleiches gilt für die behauptete Akzeptanz als medizinische Präventionsmaßnahme - diese ist weltweit nur bei einem einzigen Kinderärzteverband zu finden, der US-amerikanischen AAP.
Die von Ilkılıç angesetzte geringe Schwelle, ab der ein Eingriff unbedenklich sein soll, öffnet unzähligen weiteren Praktiken Tür und Tor. Sofern sich diese von einem chirurgischen Standpunkt aus ohne gravierende Komplikationen ausführen lassen und das betreffende Organ nicht massiv schädigen, sieht er keinen Hinderungsgrund - der Erhalt der Fortpflanzungsfähigkeit ist hier der Maßstab. Dass diese Kriterien sich problemlos auch auf die Tätowierung von Kleinkindern, Piercings, körperliche Züchtigung und nicht zuletzt auch auf die weniger invasiven Formen der weiblichen Genitalverstümmelung anwenden lassen, scheint ihm dabei entweder nicht aufgegangen oder schlichtweg egal zu sein.
Die UN-Kinderrechtskonvention jedenfalls wäre bei einer Adaption dieser Sichtweise auf ganzer Breite hinfällig.
In eine ähnliche Kerbe schlagen auch Dr. Felicitas Heimann-Jelinek und Dr. Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum: “Körperliche Eingriffe gehörten jahrtausendelang zum symbolischen Ausdruck von Religionen und haben sich in einigen Regionen der Welt bis heute erhalten. Es gibt Gesellschaften, die traditionell tätowieren, also Ziernarben in den Körper ritzen, die piercen und beschneiden oder andere Körpermanipulationen vornehmen.”
Hier wird der Eingriff alleine über die Dauer seines Bestehens zu rechtfertigen versucht. Eine Differenzierung, in welchem Alter und mit welchem Anteil an Freiwilligkeit des Betroffenen sie durchgeführt werden, bleibt ebenso aus wie die Abgrenzung einer symbolischen Handlung von einem körperlichen Eingriff. Auch hier ist wieder der Tenor zu vernehmen, dass eigentlich alles zu rechtfertigen ist, was es nur lange genug gibt, und auch hier findet sich, wie auch schon bei Ilkılıç, erneut ein fruchtbarer Boden für eine wahre Flut an möglichen Praktiken, die anerkannten Kinderrechten zuwider laufen, was sich nicht zuletzt in der sehr weiten Formulierung “oder andere Körpermanipulationen vornehmen” widerspiegelt.
“Nice historic exhibit, but let´s not pretend it`s unbiased. Circumcision is a Human Rights Issue. Religion, tradition and the desire of parents do not constitute a reason to cut a newborn child.” (“Nette historische Ausstellung, aber machen wir uns nicht vor, sie wäre unvoreingenommen. Beschneidung ist eine Menschenrechtsfrage. Religion, Tradition und das Begehren der Eltern rechtfertigen es nicht, ein neugeborenes Kind zu beschneiden.”) (Zitat aus dem Gästebuch der Ausstellung)
Liebe und Fürsorge als Freibrief für Gewalt
Dr. Yigal Blumenberg gibt im Katalog seine Sicht der psychologischen Zusammenhänge preis: “Die Frage nach einer möglichen Traumatisierung des Säuglings ist also eine Frage nach der Stabilität und bergenden Qualität der vom Kind empfundenen und erlebten Bezugspersonen, die die Selbstliebe behüten.”
“Daher kommt der inneren Haltung der Eltern, ihrer Identifizierung und die der bei der Beschneidung anwesenden Tradenten eine entscheidende Bedeutung für die seelische Integration dieses Erlebens zu.”
Wenn Eltern also nur stark genug an den angeblichen Nutzen und die Verharmlosungen der dem Kind zugefügten Gewalthandlung glauben und grundsätzlich ihrem Kind Liebe und Fürsorge schenken, wird es dies nicht als Gewalt empfinden.
Wäre also auch z.B. sexueller Kindesmissbrauch weniger traumatisierend, nur weil er, wie so oft, in vertrautem Umfeld geschieht? Warum bleiben die bekannten Fälle ungenannt, wo gerade traumatisierend wirkt, dass der Übergriff in das Intimste aus dem eigenen Umfeld erfolgte und so zusätzlich u.U. lebenslange Loyalitätskonflikte auslöste?
7 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Danke an MOGIS für den erhellenden Beitrag. Sie lassen nicht locker, die Verteidiger der ... Religion. Ja, der Religion!
valtental am Permanenter Link
Besten Dank für diesen sehr sachlichen und die Ausstellung kritisch durchleuchtenden Beitrag!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Nun ging grad die 25 Jahre UN-Kinderrechtskonvention durch die Medien, z.B. in http://www.tagesschau.de/ausland/un-kinderrechtskonvention-101.html. Großartig gefeiert.
Aber Ächtung der Beschneidung im Beitrag oder in den Kommentaren?
Fehlanzeige.
Nun gut (bzw.schlecht); schließlich scheint die körperliche Unversehrtheit von Kindern NICHT Gegenstand der Konvention zu sein!
Erstaunlich; eigentlich.
Viola Schäfer am Permanenter Link
Lieber Herr Trutnau,
ich kann Ihre Empörung gut nachfühlen!
Bzgl. der Kinderrechtskonvention möchte ich richtigstellen, dass die körperliche Unversehrtheit von Kindern sehr wohl Gegenstand der Konvention ist, sie wird nämlich in Artikel 19 "Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung,Verwahrlosung" thematisiert. Der erste Abschnitt des Artikels lautet: "(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten
Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaß-
nahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder
geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder
Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung,
vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließ-
lich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es
sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines
Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder
einer anderen Person befindet, die das Kind betreut."
Unnötige Vorhautamputationen verstoßen darüber hinaus auch gegen weitere Artikel der Konvention, nachzulesen z.B. in der Helsinki-Deklaration:
http://www.genitalautonomy.org/2012/10/09/helsinki-declaration-2012/
und natürlich auch gegen Grundgesetz und Menschenrechte. Dass diese Tatsache von Befürwortern dieser schwerwiegenden Körperverletzung immer wieder geleugnet wird, teils aus Unwissen, teils aus schlichter Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien und Kinderrechte, sollten wir nicht schweigend hinnehmen!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Danke, Frau Schäfer; hatte ich so aus meinen bisherigen, begrenzten Quellen nicht herausgelesen.
Dann verstößt das entsprechende Skandalgesetz bzgl. der MGM also auch gegen die UN-Konvention. Ich war eigentlich schon verwundert.
Und btgl. "sollten wir nicht schweigend hinnehmen" - was können wir tun?
Viola Schäfer am Permanenter Link
Gute Frage. Anbei zwei Internetadressen, die Ihnen da vielleicht weiterhelfen!
http://beschneidung.die-betroffenen.de/blog/was-jeder-tun-kann/
intaktiv.de
Angelika Richter am Permanenter Link
Die einzige gute Nachricht in dieser umfassenden Analyse ist die, dass die Ausstellung immerhin nur bis zum März nächsten Jahres dauert und dieser "Kelch" hoffentlich an möglichst vielen Schülern aus Berlin
Ich würde meine eigenen Kinder nicht an einem Klassenbesuch einer Ausstellung teilnehmen lassen, die schon im Titel nahelegt, dass alle, die etwas gegen das Ritual der Zwangsbeschneidung haben, Leute jüdischen Glaubens nicht um sich haben wollen.