Entwicklungspsychologie als Schlüssel zum Verständnis eines Menschheitsrätsels

Wie ist Religion wissenschaftlich erklärbar?

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Japanischer Garten
Japanischer Garten, Foto: "novofotoo", flickr, CC BY-NC 2.0

BERLIN. (hpd/rdf) Seit der Altsteinzeit ist die Menschheit religiös, vielleicht schon seit dem Beginn ihrer Existenz. Die Ethnologie hat gezeigt, dass alle Steinzeitvölker und alle vormodernen Kulturen zutiefst religiös sind.

Die Religion spielt in ihnen eine größere Rolle als in den Weltreligionen heute in Asien, Amerika und Europa. Die australischen Ureinwohner verbringen Monate des Jahres mit religiösen Übungen und Praktiken. Ihre Alltagsvorstellungen sind von Religion und Magie geradezu durchsetzt. Je einfacher eine Kulturstufe entwickelt ist, desto größer ist der Anteil der Religiosität im Leben der Völker.

Es gibt in einfachen Kulturen niemand, der nicht an Geister, Götter, Zauberer und heilige Mächte glaubt (Eliade 1994; Frazer 1977; Jensen 1992). Auch im 16. Jahrhundert in Europa gab es noch keinen einzigen Atheisten (Febvre 1946). Die ersten Atheisten tauchten nach den Analysen von Buckley (1990) im Gefolge der Cartesianischen Philosophie in Frankreich auf. Ende des 17. Jahrhunderts und vor allem Anfang des 18. Jahrhunderts entstand in Frankreich eine Untergrundliteratur, in der weltgeschichtlich erstmalig eine kleine Anzahl von Autoren atheistische Positionen bezog. Die beiden bedeutendsten Atheisten im Laufe des 18. Jahrhunderts waren zunächst Denis Diderot und der Baron d´Holbach.

Von dieser ersten Keimzelle verbreitete sich der Atheismus zunächst in der westlichen Welt in Kreisen von Wissenschaftlern und Intellektuellen, um seit dem 19. Jahrhundert zu einer gesellschaftlichen Strömung zu werden. 1916 waren schon 41% der führenden Wissenschaftler der USA Atheisten, 1998 waren 93% der Mitglieder der American Academy of Sciences Atheisten (Dawkins 2006: 143; Oesterdiekhoff 2013: 239). Heute glaubt etwa die Hälfte der Japaner und Europäer nicht mehr an Gott und Unsterblichkeit, während in den Entwicklungsländern noch etwa 90% gläubig sind (Bruce 2002). Eine Gesellschaft, die in Gläubige, Irreligiöse, Agnostiker und Atheisten aufgespalten ist, hat eine andere, nämlich schwächere Religiosität, als eine Gesellschaft, die zu 100% aus Gläubigen besteht. Demzufolge ist die Religiosität von Stammesvölkern zwangsläufig stärker als die von Bekenntnisgläubigen und Fundamentalisten in der Kulturmoderne. Ferner, der Atheismus in der American Academy of Sciences ist tiefer und stärker verankert als der Atheismus in der Bevölkerungshälfte von Schweden, Japan oder England, der nicht mehr an Gott und Unsterblichkeit glaubt. Offensichtlich liegt hier eine psychologische Evolution vor, die vor etwa 300 Jahren in den Köpfen weniger begann und nun allmählich zunächst die entwickelten Länder und dann wohl die ganze Welt erobert. Der Anteil der Nichtgläubigen wird jetzt schon auf mehrere hundert Millionen geschätzt (Oesterdiekhoff 2013: 235–240, 2009a, b, 2006b, 2015).

Wie kann man das völlige Fehlen von Agnostizismus und Atheismus in der Vormoderne und ihre Entstehung und Ausbreitung seit 1700 erklären? Wie kann man Religiosität und Atheismus aus einem Guss erklären?

Ludwig Feuerbach (1978) erklärte 1841 die Religion als das kindliche Wesen der Menschheit, als Ausdruck der Psyche eines Menschen, der auf der Stufe eines Kindes stehe. Die Entstehung des Atheismus im Aufklärungszeitalter erklärte er aus der gewachsenen Intelligenz und Reife des Menschen des Industriezeitalters. Er unterschied zwischen dem Gemüts- und Gefühlsmensch der Vormoderne und dem Verstandesmenschen der Moderne als Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung von Religion, Wissenschaft und Kultur. Meisterhaft gelang es ihm zu zeigen, wie einzelne religiöse Ideen und Praktiken im kindlichen Gemüt wurzeln.

Trotz der Berühmtheit des Autors wurde sein Ansatz nicht wirklich weiterverfolgt. Um dies zu tun, hätte man die Kinderpsychologie und die Kulturpsychologie bemühen müssen. Man hätte zeigen müssen, dass Kinder tatsächlich tief religiös sind, nicht im Gefolge von Erziehung und Kultur, sondern als unvermeidliches Resultat ihres anthropologischen respektive psychologischen Entwicklungsstandes. Dann hätte man die Deckungsgleichheit von kindlicher und vormoderner Religion Punkt für Punkt aufzeigen müssen. Man hätte ferner nachweisen müssen, dass vormoderne Menschen auf der psychologischen Stufe von Kindern stehen und dass moderne Menschen um mehrere Entwicklungsjahre weiter reifen. Schließlich hätte man die abnehmende Religiosität des modernen Menschen aus dieser psychologischen Weiterentwicklung ableiten müssen. Die Erledigung dieser Aufgaben hätte den frühen Ansatz von Feuerbach verifiziert. Ferner hätte man dann endlich eine Theorie zur Verfügung gehabt, die die Religiosität der vormodernen Menschheit sowie die Restreligiosität, den Agnostizismus und den Atheismus der Moderne aus einem Guss erklären könnte.

Die Religionswissenschaften des 20. Jahrhunderts haben dieses Programm nicht durchgeführt, weil sie sich schlicht nicht vorstellen konnten, dass das Kind von Natur aus tief religiös ist und der vormoderne Mensch auf der anthropologischen Stufe von Kindern stand. Zwar sind einigen Autoren wie Heiler, Campbell, Freud und Jung die Ähnlichkeiten aufgefallen, sie haben sie aber nicht weiter verfolgt. Von 1800 bis insbesondere 1945/1980 waren jedoch verschiedene Forscher und Schulen von den weitgehenden Entsprechungen zwischen Kindern und vormodernen Menschen überzeugt, ohne dass sie in der Regel daran gedacht haben, diese erklärten auch die Religion. Beiträge zu der Idee der Kindnatur des vormodernen Menschen haben fast alle Klassiker der Psychoanalyse und der Kinderpsychologie geliefert, ferner viele Klassiker der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie. In besonderer Weise sind die Bücher von Piaget (1981) und Werner (1959) zu erwähnen. Diese Werke zeigen, dass die psychologischen Entsprechungen zwischen Kindern und vormodernen Erwachsenen alle Bereiche von Logik, Denken, Wahrnehmung, soziales Verständnis, moralisches und politisches Denken umfassen. Der vormoderne Erwachsene unterscheidet sich vom Kind zwar durch Wissen und Erfahrung, aber nicht durch seinen psychologischen Entwicklungsstand und die Basiskategorien des Weltverstehens und des Denkens. Die Entsprechungen betreffen tatsächlich jedes Detail (Oesterdiekhoff 2006a, 1997, 2012, 1013).

Die kulturvergleichende Piaget-Psychologie hat in den letzten 80 Jahren in über 1000 empirischen Studien in über 100 Kulturen und Milieus aufgewiesen, dass Erwachsene aus archaischen, traditionellen, analphabetischen und vormodernen Milieus sich nicht über die psychologische Stufe von Kindern entwickeln, während Erwachsene aus modernen Gesellschaften sich um einige Entwicklungsjahre weiter entwickeln und die adoleszente Stufe der formalen Operationen ausformen (Dasen 1977; Dasen & Berry 1974; Hallpike 1994; Oesterdiekhoff 1997, 2006a, 2012, 2013, 2014; Piaget 1974). Die kulturvergleichende Intelligenzforschung hat dieses Ergebnis zusätzlich bestätigt. Erwachsene vormoderner Kulturen entwickeln IQ-Werte von unter 75, gemessen an IQ-Werten von Menschen aus den heutigen Industrienationen. Auch Europäer, Ostasiaten und Nordamerikaner hatten vor 100 Jahren Werte von unter 75. Den säkularen Anstieg der Intelligenz nennt man auch Flynn Effekt. IQ-Werte von 50 entsprechen dem geistigen Niveau eines Siebenjährigen, von 75 dem von Dreizehnjährigen (Flynn 2007; Oesterdiekhoff 2012, 2013: 49–78). Damit liegen die Entsprechungen zur Piaget-Psychologie vor, demzufolge Erwachsene vormoderner Gesellschaften auf der kindlichen Stufe stehen, während moderne Menschen sich höher entwickeln. Die Ursachen liegen vor allem in der Expansion des Schulwesens.

Die gesamte Forschungsbranche „Religion des Kindes“ hat im 20. Jahrhundert gezeigt, dass Kinder tief religiös sind und moderne Jugendliche eine demgegenüber abgeschwächte Religion haben. K. Hyde (1990) und Goldman (1964) haben einen umfassenden Überblick über diese Forschungslandschaft vorgelegt. Demzufolge zeigen buchstäblich tausende Untersuchungen, dass Kinder elementare Vorstellungen von Gott und göttlichem Handeln haben, von der Macht des Gebetes, von der göttlichen Regierung der Welt, von der Wirksamkeit der Magie und von der Fortexistenz der Seele. Ferner, dass moderne Jugendliche eine religiöse Entwicklung durchlaufen, in der die ursprünglichen, magischen, animistischen und konkreten Ideen und Praktiken blasser, schwächer und abstrakter werden.

Schon das Buch „Das Weltbild des Kindes“ von Piaget (1981) hatte die Übereinstimmungen zwischen der Religion des Kindes und der des vormodernen Menschen gezeigt. Schon dieses Werk hatte aufgewiesen, dass moderne Kinder spätestens nach dem 10. Jahr dieses ursprüngliche archaische Weltbild verlassen, während vormoderne Menschen ihm lebenslang verhaftet bleiben.

Ich habe in mehreren Aufsätzen und in einem Buch, das 2015 fertig gestellt werden wird, gezeigt, dass sämtliche Bausteine, aus denen Religionen zusammengesetzt sind, ihren Ursprung im kindlichen Denken und in der kindlichen Psyche haben. Alle Kinder dieser Welt glauben genauso wie vormoderne Erwachsene, die Welt sei ein Artefakt, aus Handlungen von Personen und Mächten hervorgegangen. Beide Gruppen glauben daran, das Weltgeschehen unterliege der Magie von Personen und Mächten. Beide Gruppen glauben an Belohnung und Bestrafung im Dies- und Jenseits. Kinder glauben an Gott, Geister und an die Magie ihrer Eltern und Erwachsenen gleichermaßen (Oesterdiekhoff 2009a, 2013: 215–240; Hyde 1990). Kinder bis zum sechsten Jahr halten Eltern und Erwachsene für allwissend und allmächtig, perzipieren sie als eine Art Götter (Bovet 1951; Piaget 1981; Goldman 1964; Hyde 1990). Danach setzt eine skeptische Krisis ein. Die gestiegenen geistigen Fähigkeiten des Kindes zeigen ihm die Grenzen, die Eltern, Erwachsenen und Menschen gesetzt sind. Nun überträgt das Kind seine religiösen Gefühle auf den imaginären Gott der Kultur. Wie auch das Vorschulkind haben Steinzeit- und Stammesvölker die Idee eines Himmels- und Herrschergottes. Alle vormodernen Kulturen, Steinzeitvölker und Zivilisationen wie das alte China, Indien, der antike Mittelmeerraum und das präkolumbianische Amerika, pflegen aber parallel auch den Ahnenkult. Dieser beinhaltet die Verehrung der verstorbenen Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und Vorfahren als Götter, die aus dem Jenseits das Leben der Nachfahren beherrschen (Frazer 2010; Jensen 1992). Ich habe gezeigt, dass dieser Basisbaustein der alten Religionen in der Mentalität des Kindes verwurzelt ist, in seiner religiösen Haltung gegenüber den Eltern vor der skeptischen Krisis (Oesterdiekhoff 2013: 223–230). Die Psychologie des Ahnenkultes beleuchtet aber auch die Psychologie des Hoch- und Weltgottglaubens.

Kinder können sich wie Naturvölker zunächst den Tod nicht als Auslöschung der Persönlichkeit vorstellen. Es handelt sich um eine voraussetzungsreiche abstrakte Denkleistung (Anthony 1940). Ferner verfügen sie über eine blühende Phantasie und die Kraft des Wunschdenkens. Kinder malen sich daher ein Leben nach dem Tode aus, mit ganz konkreten Vorstellungen und Bildern vom Jenseits (Goldman 1964; Hyde 1990). Die bildhaften Vorstellungen der alten Völker vom Paradies und Jenseits wurzeln daher in einer kindlichen Psyche. Das Absterben des Glaubens an Jenseits und Unsterblichkeit in der Kulturmoderne stammt daher aus der Evolution der adoleszenten Stufe der formalen Operationen (Oesterdiekhoff 2009a, b, 2013a: 236–240).

Die kindliche Phantasie ist auch der Quellgrund des Glaubens an Märchen und Legenden. Kinder zwischen dem 3. und 8. Jahr leben in einer Welt der Märchen und glauben an Zauberer, Feen, Geister und göttliche Wesen (Blair et al. 1986; Dieckmann 1995; Hyde 1990, von der Leyen 1995; Werner 1959). Nicht nur der Gründervater der Psychologie, W. Wundt (1914), hat aufgezeigt, dass Göttermythen und Kindermärchen sich historisch zunächst nicht voneinander unterschieden haben. Der Glaube an die Götter wurzelt zunächst in Mythen und Legenden. Der vormoderne Mensch besaß die Fähigkeit, solche Märchen zu erfinden und an sie zu glauben. Religion und Göttermärchen gründen daher in einem anthropologischen Entwicklungsstand, der dem eines Kindes unterhalb des achten Jahres entspricht. Reifen Erwachsene weiter, dann wird ihr mythologischer Sinn schwächer und verschwindet schließlich ganz. Moderne Atheisten und Agnostiker können nicht mehr an Götter glauben, da ihr anthropologischer Entwicklungsstand verunmöglicht, Mythen und Märchen als Reportagen verstehen zu können (Oesterdiekhoff 2006a, b, 2007, 2012, 2009a, b, 2013: 232–236).

Wie man sieht, Religion wurzelt in einem psychologischen Entwicklungsstand von Menschen, die auf der kindlichen Stufe stehen geblieben sind. Sämtliche Bestandteile der Religion gründen in psychologischen Mechanismen, die Teile der kindlichen Entwicklungsstufe sind. Religiöse Menschen der Industriemoderne haben daher eine blassere und schwächere Religion als die unserer Vorfahren. Die moderne Restreligion ist aber nicht von psychologischer Entwicklung entkoppelt, sondern reflektiert Übergangs- und Zwischenstufen. Atheismus und Agnostizismus resultieren nun eindeutig aus der psychologischen Weiterentwicklung, aus der Evolution der adoleszenten Stufe der formalen Operationen.

Die Entwicklungspsychologie liefert den Schlüssel zum Verständnis der Religion. Religion kann man nicht soziologisch, allgemeinpsychologisch, phänomenologisch, evolutionsbiologisch oder anthropologisch erklären, sondern nur entwicklungspsychologisch. Nur die Entwicklungspsychologie erklärt auch die Evolution von Agnostizismus und Atheismus. Sie erklärt Glauben und Unglauben aus einem Guss.

 


Übernahme von richarddawkins.net