Zauberformel "Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun" zieht nicht mehr

Ehrlichkeit und Selbstkritik unter Muslimen gefordert

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Blaue Moschee, Istanbul
Blaue Moschee, Istanbul

NÜRNBERG. (hpd) Alle Anzeichen deuten gegenwärtig darauf hin, dass der mörderische Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo von muslimischen Tätern zur Ehrenrettung des Propheten und des Islam ausgeübt wurde. Unabhängig davon, was sich in den nächsten Tagen und Wochen als wahr herausstellen sollte, möchte ich hier die teilweise beschämenden und größtenteils unbefriedigenden muslimischen Reaktionen auf dieses Verbrechen diskutieren.

Die große Mehrheit der muslimischen Stellungnahmen kann in zwei Gruppen zusammenfasst werden: Ein hoffentlich eher kleiner, aber keinesfalls zu vernachlässigender Teil der Gläubigen, vor allem in den muslimischen Ländern, hat den Anschlag offen gutgeheißen. Ja, es ist so! Wer der türkischen oder arabischen Sprache mächtig ist, kann binnen weniger Minuten sich selbst davon überzeugen; beispielsweise durch die unzähligen Kommentare auf Facebook und Twitter, die unter den Meldungen der großen Nachrichtenportale gepostet werden.

Viele Muslime gratulieren unter ihrem Klarnamen den Glaubenskriegern und halten es für religiös gerechtfertigt, die “untragbare Beleidigung” des Propheten auf diese Weise zu sühnen. Übrigens ist diese Gruppe leider auch in meiner eigenen Verwandtschaft in der Türkei vertreten; darunter auch ein Imam im Ruhestand. Zudem wird der Fall im konservativen Teil der türkischen Presse so behandelt, dass der Leser zum Schluss kommen muss, die Zeichner von Charlie Hebdo hätten das Ganze böswillig provoziert und hätten im Grunde das geerntet, was sie über die Jahre gesät hatten. Dabei nehme ich lediglich auf die Stellungnahmen Bezug, die öffentlich abgegeben werden. Was viele hinter vorgehaltener Hand über die Ermordung der Charlie Hebdo-Mitarbeiter von sich geben mögen, sobald sie diejenigen Karikaturen zu Gesicht bekommen, die es “auf die Spitze getrieben” hatten (etwa die nackten Mohammed-Darstellungen in unanständigen Posen), das wird jeder, der das “religiöse Empfinden” mancher Muslime kennt, halbwegs erahnen können.

Der andere Teil – der glücklicherweise zumindest in Deutschland die eindeutige Mehrheit stellen dürfte – verurteilt den Anschlag als ein unmenschliches Verbrechen und stellt im gleichen Atemzug klar: “Das hat aber mit dem Islam und folglich auch mit uns Muslimen eigentlich nichts zu tun”. Die nähere Begründung hierfür variiert freilich.

Verschwörungstheorien unter Muslimen über den Anschlag

Für die einen stand es von Anfang an fest, dass der Anschlag gar nicht von Muslimen verübt worden ist. Vielmehr stecke eine hinterlistige Verschwörung dahinter. Zum Beispiel französische Rechtsextremisten, die ihre eigene Tat als einen muslimischen Racheakt inszeniert haben, um damit die “Islamophobie” in Europa anzuheizen. Oder vielleicht Russland, das als Reaktion auf die westlichen Sanktionen Europa zu destabilisieren versucht. Und natürlich darf ein bestimmtes Land unter den “üblichen Verdächtigen” nicht fehlen: Israel! Weitere Gründe oder Motive sind für manche Muslime ohnehin überflüssig, wenn das Wort “Israel” einmal gefallen ist.

Viele islamistische sowie muslimisch-konservative Zeitungen und Blogs befeuern eifrig solche Verschwörungstheorien mit immer neuen Behauptungen und schrecken selbst vor widerlichen Versuchen nicht zurück, die Opfer des Anschlags als Mitverschwörer hinzustellen. Überhaupt bilden Verschwörungstheorien in weiten Kreisen gläubiger Muslime eine das politische Denken vollständig beherrschende Obsession. Differenzierung ist verpönt. Denn letztlich ist jedwede nicht-islamische Ideologie, Bewegung und Partei in der einen oder anderen Weise Teil der globalen Verschwörung gegen den Islam.

Andere Muslime, die den Anschlag verurteilen, aber keine Berührungspunkte mit dem Islam sehen wollen, halten es für durchaus möglich, dass die Tat von Menschen verübt worden ist, die sich selbst als Muslime bezeichnen. Jedoch handle es sich dabei um einzelne Spinner, radikalisiert und instrumentalisiert von bösen Mächten, die nun gar nichts mit dem Islam zu tun hätten und die Religion lediglich für ihre höchst profanen, politischen Zwecke missbrauchen würden. Ohnehin trage bei näherer Betrachtung der “Westen” die alleinige oder zumindest die hauptsächliche Schuld an der Entstehung dieser bösen Mächte.

Nahezu alle Muslime, die den Anschlag aufrichtig verurteilen, sind sich jedenfalls in einem Punkt einig: “Der Islam hat mit solchen Anschlägen überhaupt nichts zu tun. Die grundlegenden Quellen des Islam, d.h. der Koran und die Hadithe (die überlieferten Worte und Taten des Propheten) bieten bei keiner vertretbaren Auslegungsmethode auch nur ansatzweise eine Rechtfertigung für solch einen Anschlag. Basta!”

Schluss mit dem Verschließen der Augen

Ich möchte dagegen halten: Solange eben diese “Basta-These” unter den demokratisch-freiheitlich denkenden Muslimen nicht in Frage gestellt und in einem auch nach außen hin offenen, mutigen Diskurs nüchtern ausdiskutiert wird, werden wir das Schwinden der Glaubwürdigkeit eines “friedlichen Islam” nicht mehr aufhalten können.

Dass solche Behauptungen gut gemeint sind, daran habe ich keinen Zweifel. Nahezu alle westlichen Regierungssprecher und Staatsmänner sowie die meisten Journalisten etablierter Medien in Europa beteuern wieder einmal (wie nach jedem Verbrechen im Namen des Islam auf westlichem Boden), der Anschlag habe mit dem Islam nichts zu tun und keine Religion der Welt könne eine solche Tat gutheißen. Natürlich sind das gut gemeinte, politisch besonnene Apelle, die sich offenkundig darum bemühen, aktuell im Erstarken befindlichen fremdenfeindlichen Bewegungen vorsorglich den Wind aus den Segeln zu nehmen und einer pauschalen Stigmatisierung aller Muslime zuvorzukommen.

Allerdings darf diese “Besonnenheit” um des lieben Friedens willen nicht in eine schleichende Relativierung der Meinungsfreiheit ausarten – weder rechtlich noch faktisch! Jeder soll über historisch, politisch, religiös, gesellschaftlich relevante Personen der Weltgeschichte sagen und zeichnen dürfen, was er will. Die Beleidigten und Verärgerten können den Stein des Anstoßes ihrerseits kritisieren, protestieren, boykottieren oder – verflixt nochmal! – einfach mal ignorieren.

Ufuk Özbe
Ufuk Özbe

Eine pauschale Verdächtigung aller Muslime würde auch völlig an der Realität vorbeigehen. Für die große Mehrheit der in Deutschland lebenden, emanzipierten Muslime ist das “Muslim-Sein” lediglich ein Teil der kulturellen Identität. Sie haben mit Religion nicht viel mehr am Hut, als zum Beispiel die islamischen Festtage aus Tradition feierlich zu begehen. Wie die meisten nominellen Christen auch haben sie einen unkritischen, höchst lauen, geradezu palliativen Umgang mit Religion. Sie versuchen nicht etwa ihr Leben an den Wortlaut der heiligen Texte anzupassen, die sie meist nicht einmal gelesen haben, sondern greifen sich aus der bunten religiösen Tradition, das was ihnen gefällt, heraus und passen ihr religiöses Verständnis großzügig an ihre moderne Lebenswirklichkeit an. Für eine kritische Analyse der Quellen haben sie schlicht kein Interesse. (Ein Unterschied zu den nominellen Christen ist allerdings, dass nominelle Muslime dennoch in ihrem “religiösen Empfinden” sehr schnell beleidigt sein können). Ich habe nun Verständnis, wenn diese “Muslime” mit heiklen Diskursen über die möglichen Auslegungen des Korans nicht behelligt werden möchten. Sie stellen auch keine Bedrohung für die demokratisch-rechtsstaatliche Wertegemeinschaft dar. Für sie ist ein Anschlag wie der in Paris selbstverständlich ein unmenschliches Verbrechen und selbstverständlich hat dies nichts mit dem Islam zu tun, an den sie glauben wollen.

Meine Aufforderung richtet sich vielmehr an diejenigen Muslime, die die Religion nicht bloß als ein kulturelles Anhängsel pflegen, sondern ihre Wahrheit und Wichtigkeit predigen, lehren, verteidigen. Zum Beispiel an die Imame der Gemeinden, an die islamischen Religionslehrer in den Schulen, an die muslimischen Theologen, an all die wortgewandten Apologeten des Islam, sofern sie solche Anschläge aufrichtig verurteilen und den Islam als die Religion des Friedens betrachten.

Nicht jede Kritik pauschal abweisen

Es ist an der Zeit, dass diese Muslime endlich einmal kurz innehalten und in sich gehen, nicht jede Kritik als “Angriff auf Muslime” pauschal abweisen und die offen vorliegenden Probleme wahrhaben.

Es ist an der Zeit, dass sie endlich mit den gewohnten Denk- und Argumentationsmustern brechen und einen beherzten Schritt in Richtung redlicher Selbstkritik wagen. Darauf warten viele Muslime und Nicht-Muslime auf der ganzen Welt.

Es ist an der Zeit, dass Islamgelehrte und muslimische Intellektuelle offenherzig Fragen diskutieren wie: “Wie ist es nur möglich, dass aus dem Islam, der ja die Religion des Friedens sein soll, so viele gefährliche Spielarten menschenverachtender Gesinnung erwachsen?”. “Gibt es neben den politischen, soziologischen, ökonomischen Ursachen vielleicht doch auch genuin religiöse Wurzeln dieser Gesinnung?”. “Auf welche Passagen in den islamischen Quellen berufen sich die muslimischen Befürworter eines solchen Anschlages, welche Passagen erleichtern so vielen Muslimen die Entmenschlichung von Anders- und Nicht-Gläubigen?”. “Wie sollen wir mit diesen Teilen der Quellen unserer Religion umgehen, ohne sie unter den Teppich zu kehren?”. “Inwiefern tragen wir als muslimische Intellektuelle eine Mitverantwortung an den gegenwärtigen Entwicklungen, wo wir es doch offenbar versäumt haben, auf solche Fragen ehrliche, befriedigende und umfassende Antworten zu entwickeln?”. “Welche neuen Herangehensweisen, welches Umdenken im Umgang mit unserer Religion benötigen wir?”.

Stattdessen versteifen sich die Vertreter des friedlichen Islam immer wieder auf wohlklingende Floskeln, die offensichtlich nur für “westliche” Ohren bestimmt sind. Ein Beispiel: Seit dem 7. Januar – wie nach jedem Anschlag im Namen des Islam – wird in den schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen der muslimischen Vereine immer wieder der folgende Koranvers ins Feld geführt: (5:32) “Wenn einer jemanden tötet (…) so ist es, als hätte er alle Menschen getötet. Und wenn jemand ihn am Leben erhält, so ist es, als hätte er alle Menschen am Leben erhalten.”

“Dieser Vers steht doch schwarz auf weiß im Koran. Wie kann man da noch irgendeine Beziehung zwischen dem Islam und diesem abscheulichen Verbrechen konstruieren?” – lautet dann die Argumentation. So edel die Absicht dahinter auch sein mag; für jeden Muslim (und auch jeden Nicht-Muslim), der sich mit dem Korantext auseinandergesetzt hat, ist eine solche Vorgehensweise nichts anderes als ein billiger Täuschungsversuch. Denn wenn wir den Vers ohne die Auslassungen und zusammen mit dem unmittelbar darauf folgenden Vers lesen, bietet sich ein ganz anderes Bild. Zunächst derselbe Vers 5:32 ohne die Auslassungen: (5:32) “Aus diesem Grund haben Wir den Kindern Israels vorgeschrieben: Wenn einer jemanden tötet, jedoch nicht wegen eines Mordes oder weil er auf der Erde Unheil stiftet, so ist es, als hätte er alle Menschen getötet. Und wenn jemand ihn am Leben erhält, so ist es, als hätte er alle Menschen am Leben erhalten. Unsere Gesandten kamen zu ihnen mit den deutlichen Zeichen. Aber viele von ihnen verhalten sich nach alledem maßlos auf der Erde.”

Zum ersten werden also zwei Ausnahmen gemacht: “jedoch nicht wegen eines Mordes oder weil er auf der Erde Unheil stiftet”. Zum zweiten wird dem Wortlaut nach nicht imperativ vorgeschrieben, sondern narrativ davon erzählt, was den “Kindern Israels” einst vorgeschrieben war. Zum dritten wird in dem Vers eben dieses Volk kritisiert. Nun der unmittelbar folgende Koranvers: (5:33) “Die Vergeltung für die, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und auf der Erde umherreisen, um Unheil zu stiften, soll dies sein, dass sie getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder dass sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits ist für sie eine gewaltige Pein bestimmt.”

Diejenigen, die “gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und auf der Erde umherreisen, um Unheil zu stiften” sollen getötet, gekreuzigt, körperlich verstümmelt oder vertrieben werden. Im Gegensatz zu 5:32 werden hier die besagten Strafen imperativ vorgeschrieben.

Koranverse und Satire

Unter anderem auf diesen Koranvers berufen sich nun eben diejenigen Muslime, die zum Beispiel den Anschlag in Paris unterstützen. Das Satire-Magazin Charlie Hebdo ist bekannt für seine unverschämten, tabulosen, überspitzten Karikaturen. Auch der islamische Prophet (genauso wie Jesus, Maria, der Papst, ja sogar “Gott”) wurde verschiedentlich in einer Art und Weise dargestellt, die für fromme Gläubige schwer verdaulich ist.

Für nicht wenige Muslime sind solche “provokanten” Karikaturen des Propheten eben “Krieg gegen Gott und seinen Gesandten” sowie “Unheilstiftung”. Nun könnte man dagegen halten, dass der Vers von “Krieg” (Arabisch: “harb”) spricht und dies dem Wortlaut nach eben einen bewaffneten, militärischen Krieg voraussetzt, dass die Zeichner des Satire-Magazins deshalb nicht unter diesen Vers subsumiert werden können. Jedoch wäre es unsinnig von “Krieg gegen Allah” zu sprechen, wenn damit ausschließlich der echte bewaffnete Krieg gemeint sein sollte.

Der vom Präsidium für Religionsangelegenheiten der Türkischen Republik (T.C. Diyanet İşleri Başkanlığı) herausgegebene und von vier zeitgenössischen, renommierten Islam-Professoren gemeinschaftlich verfasste, fünfbändige Koran-Kommentar (“Tafsir”) zählt bei der Auslegung des Verses 5:33 als ein Beispiel für die “Kriegsführer gegen Allah und seinen Gesandten und Unheilstifter” ausdrücklich auch diejenigen auf, die durch ihre Handlungen den Glauben an Allah zu erschüttern und zu zerstören beabsichtigen (siehe: Kuran Yolu, Türkçe Meal ve Tefsir, Band II, Maide/33–34).

Nun ist Charlie Hebdo ein offen religions- und islamkritisches Magazin, das durch offensive Zeichnungen den Glauben an den Islam, an andere Religionen und generell den Gottesglauben satirisch angreift. Solche frontalen Hiebe auf die Religionen und den Gottesglauben können ohne weiteres als “Handlungen, die den Glauben an Allah zu erschüttern und zu zerstören beabsichtigen” gelten. Dem unvoreingenommenen Leser ist jedenfalls nicht ohne weiteres klar, warum zum Beispiel dieser Vers auf keinen Fall und durch keine vertretbare Auslegungsmethode eine religiöse Rechtfertigung für den Anschlag auf Charlie Hebdo bieten soll. Übrigens steht der angeführte türkische Koran-Kommentar eindeutig in der modernen, moderaten, um Diplomatie bemühten Traditionslinie der Koranexegese und wird eben deshalb von manchen islamischen Kreisen scharf attackiert. Die klassischen Kommentare, die in der islamischen Welt große Beachtung finden, sind da um einiges “geradliniger”.

Die muslimischen Befürworter der terroristischen Anschläge führen auch zahlreiche Hadithe an. Unter anderem diejenigen Überlieferungen, nach denen viele Dichter, die den Propheten und den Islam verbal verspottet hatten, auf Geheiß des Propheten von seinen Weggefährten getötet wurden. Unter den namentlich genannten zum Beispiel: Kaʿb ibn al-Aschraf, al-Nadr bin al-Harith, Asma’ bint Marwan, Abu Afak, Al-Harith bin Suwayd al-Ansari und Abdullah bin Khatal. Nach den islamischen Quellen befanden sich darunter auch ein kränklicher Greis sowie die Mutter eines Säuglings, die sich an keiner kriegerischen Auseinandersetzung gegen die Muslime beteiligt hatten. Dennoch wurden sie, weil sie spöttische und gehässige Gedichte über den Propheten und den Islam vorgetragen hatten, auf Befehl des Propheten getötet und zwar einige von ihnen nicht etwa nach einem Prozess durch Hinrichtung, sondern durch Attentat – so zumindest die von den führenden islamischen Rechtsschulen anerkannten Überlieferungen.

Das Werk “al-Kutub as-sitta” (“die sechs Bücher”) vereinigt die sechs kanonischen Hadith-Sammlungen, die nach allen sunnitischen Rechtsschulen, die vertrauenswürdigsten Überlieferungen über die Aussprüche, Anweisungen und Taten des Propheten beinhalten. Eine achtzehnbändige, türkischsprachige, kommentierte Auswahl aus diesem Werk steht in den meisten größeren türkischen Moscheen in Deutschland und bei vielen religiösen Familien in den Bücherregalen. Unter anderem dort kann man die Überlieferungen über die Tötung der oben genannten Dichter nachlesen (Kütüb-i Sitte Muhtasarı – Tercüme ve Şerhi, Prof. Dr. İbrahim Canan, Akçağ Yayınları, Band 8, S. 179 ff., Das Kapitel über Gedichte). Mittlerweile ist ein Großteil der Hadith-Sammlungen etwa in englischer Sprache auch online verfügbar, meist von muslimischen Organisationen übersetzt und ins Netz gestellt. Wer sich über die Quellen und Hintergründe informieren möchte, kann zum Beispiel die oben angegebenen Namen der getöteten Dichter googeln.

Die Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo waren jedenfalls wesentlich drastischer und derber als die teilweise überlieferten Gedichte der auf Befehl des Propheten getöteten Menschen.

Wieder einmal leuchtet dem unvoreingenommenen Leser nicht unmittelbar ein, warum diese Hadithe auf keinen Fall eine religiöse Rechtfertigung für die Tötung der französischen Karikaturisten bieten könnten. Die allermeisten Schulen, Richtungen und Verzweigungen des Islam anerkennen die Hadtihe schließlich als die zweite Hauptquelle religiöser Vorschriften. Viele der wichtigsten Normen und Anweisungen des Islam haben nicht den Koran, sondern die Hadithe als Grundlage. Zum Beispiel werden im Koran nicht einmal die “wesentlichen Elemente” (“arkan”) des täglichen Ritualgebets (“salat”) aufgeführt. Diese stehen vielmehr in den Hadith-Sammlungen.

Eine pauschale Ablehnung aller Hadithe hätte daher für den Glauben und die Praxis des Islam sehr weitreichende Konsequenzen, zu denen die meisten gläubigen Muslime nicht bereit sein dürften. Andererseits erscheint das Herauspicken der “guten” Hadithe bei gleichzeitigem Unter-den-Teppich-Kehren der “nicht so guten”, wie es von den Vertretern des friedliebenden Islam praktiziert wird, dem radikalen Muslim als ein “rückgratloser Verrat” und “anmaßendes Herumdoktern” an der göttlichen Religion. Aber auch für den kundigen Außenstehenden stellt sich diese “Rosinenpickerei” als intellektuell kaum befriedigend dar.

In einem weiteren Hadith wird die Geschichte eines muslimischen, blinden Mannes überliefert: Dieser fromme Muslim tötete seine Sklavin/Konkubine (“jariya”), mit der er auch gemeinsame Kinder hatte, weil sie trotz Ermahnung nicht aufhörte, schlecht und respektlos über den Propheten zu reden. Als er dem Propheten von seiner Tat berichtete, rief der Prophet ihm und den Anwesenden gegenüber aus: “Bezeuget hiermit, dass die Tötung dieser Frau keiner Ahndung bedarf.” (Überliefert von Abu-Dawud und anderen, siehe z.B. “Sunan Abu-Dawud”, Book 38, Number 4348).

Das sind keine Überlieferungen, die vergessen und unbeachtet in den Bücherregalen oder im digitalen Nirwana verstauben und lediglich von bösen “Islam-Feinden” angesprochen werden, damit sie über eine eigentlich friedliche Religion herziehen können. Vielmehr sind das (unter vielen anderen) eben diejenigen Hadithe, die von gewaltbereiten Muslimen als religiöse Legitimation für terroristische Anschläge ins Feld geführt werden. Und diese Hadithe stehen in denselben Büchern, die auch für die Vertreter des “friedlichen Islam” die zweite Hauptquelle des Islam darstellen!

Die Überzeugung, Prophetenbeleidigung zu bestrafen, ist weit verbreitet

Die Überzeugung, dass die nach dem islamischen Recht gebotene Strafe für die Verspottung oder Beleidigung des Propheten eigentlich der Tod sein müsste, ist in weiten religiösen Kreisen der Türkei (die ja zu den am meisten gemäßigten muslimischen Ländern gehört) nicht etwa eine Randerscheinung. Auch in vielen Werken über das islamische Recht (“fiqh”) wird verkündet, die Beleidigung des Propheten sei mit dem Tode zu bestrafen.

In vielen türkischen Tageszeitungen und Zeitschriften werden in den Religionsrubriken solche Gebote des islamischen Rechts unverblümt weitergegeben. In der türkischen Zeitung “Milli Gazete” zum Beispiel, die das Sprachrohr der “Milli Görüs”-Bewegung ist, war am 22.09.2006 zu lesen, dass die Strafe für die Verspottung oder Beleidigung des Propheten nach islamischem Recht der Tod sei.

Zur Relativierung kann von diesen muslimischen Kreisen allenfalls entgegnet werden, dass dies zwar die Rechtslage nach dem Koran und den Hadithen ist, dass aber zum Beispiel in Frankreich faktisch nicht das islamische Recht gelte und daher ein Muslim nicht die religiöse Legitimation dafür habe, die Beleidiger des Propheten eigenmächtig zu bestrafen. Dass aber unter dem islamischen Recht die Strafe für die öffentliche Verspottung oder respektlose Behandlung des Propheten, zumindest nach wiederholter Durchführung trotz vorheriger Ermahnung, der Tod sein muss, das wird im Allgemeinen von islamischen Gelehrten nicht bestritten. Nicht wenige halten auch die eigenmächtige Bestrafung in einem nicht-muslimischen Land unter Umständen für religiös gerechtfertigt.

Diejenigen konservativ-religiösen aber, die weder das islamische Recht negieren, noch die Anschläge gutheißen möchten, stellen darauf ab, dass hierzulande die Muslime in der Minderheit sind, das islamische Recht keine faktische Geltungsmacht besitze und ein eigenmächtiges Handeln unislamisch sei. Fragt man sie nun weiter, ob sie es denn für wünschenswert erachten würden, dass zum Beispiel die große Mehrheit der Franzosen freiwillig zum Islam konvertiert und das islamische Recht einführt, werden sie es – wenn sie ehrlich sind – bejahen. Eben dies zu wünschen und dafür zu werben, ist sogar eine religiöse Pflicht. Dann aber verkommt die Verurteilung des Pariser Anschlags als ein “abscheuliches, entsetzliches, unmenschliches Verbrechen” zu einer bloßen Formsache. So gesehen, wäre die Tat zwar nicht ganz korrekt, warum sie aber für den Islam von Grund auf “abscheulich, entsetzlich, unmenschlich” sein soll, wäre nicht mehr verständlich, wo doch die eigentlich gerechte Strafe für die Zeichner des Magazins nach dem idealen Wunsch-Szenario durchaus ihre Tötung gewesen wäre.

Es gibt auch noch andere Koranverse und Hadithe, die von den Befürwortern des Anschlags auf das Satire-Magazin angeführt werden. Jedoch würden sie den Rahmen dieses Artikels endgültig sprengen. Die Phrase “Hat alles nichts mit dem Islam zu tun” erweist sich jedenfalls als höchst unbefriedigend und verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit. Eine befriedigende Lösung zu entwickeln, ist die Aufgabe der islamischen Verbände, der Imame, der Religionslehrer und Islamwissenschaftler. Ob das überhaupt möglich ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Eine freimütige, selbstkritische Diskussion unter den friedliebenden Muslimen über ein mögliches Um-Denken und Neu-Ansetzen im Umgang mit der Religion und ihren Quellen scheint aber der einzige eventuell erfolgversprechende Weg zu sein.