Lale Akgün im Gespräch mit dem hpd

Die Politik muss mit der Unterstützung des orthodoxen Islams aufhören

BERLIN. (hpd) Wie ist "der Islam" in Deutschland und Europa orientiert? Dominieren traditionelle Auffassungen, die sich als Mainstream-Islam etablieren wollen? Gibt es einen "aufgeklärten Islam"? Ist ein "aufgeklärter Islam" überhaupt möglich? Über diese und andere Fragen spricht Lale Akgün in einem Interview.

Gibt es in Deutschland eine Allianz von traditionellem Islam und politischer Klasse, die menschenrechtlich orientierte Auslegungen des Korans blockiert? Die (notwendige) Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverbrechen des IS, von Boko Haram und anderen islamistischen Terrorgruppen, die Frage danach, ob deren Ideologie etwas oder gar nichts mit dem Islam zu tun habe, hat mittlerweile dazu geführt, dass in der muslimischen Community Forderungen nach einer theologischen Reform "des Islam" lauter geworden sind. Gerade in diesen Tagen haben vier international bekannte muslimische Intellektuelle in einem Manifest die Frage thematisiert, warum Muslime zivilisatorisch versagt hätten.

Äußerungen zur Situation innerhalb der muslimischen Community finden sich in einem aktuellen Interview, das der hpd mit der Päda­gogin, Psycho­login und Politikerin Dr. Lale Akgün geführt hat. Akgün, in Istanbul geboren, von 2002 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundes­tages und Islam-Beauftragte der SPD-Bundes­tags­fraktion, plädiert seit Jahren für einen liberalen Islam und kritisiert die Politik der orthodox-konservativen Islam­verbände. Sie ist Mitglied des Liberalislamischen Bundes.

Lale Akgün fordert einen "aufgeklärten Islam", der sich an der Menschenrechtserklärung der UN und nicht der "Kairoer Menschenrechtserklärung" orientiert, lehnt die "schwarze Pädagogik" von Moscheen und Koranschulen ab und warnt davor, dass islamischer Religionsunterricht zu einer Fortsetzung der Koranschulen werden könnte. Sie warnt zudem eindringlich davor, bei einer Fokussierung auf die Bekämpfung der kleinen salafistischen Gruppen aus dem Auge zu verlieren, dass die politisch viel bedeutsamere Auseinandersetzung mit dem traditionellen (konservativ-orthodoxen) Islam geführt werden müsse.

 

hpd: Frau Dr. Akgün, gegenwärtig sind aus dem islamischen Spektrum im Zusammenhang mit dem Terror der IS und nach den Massakern von Paris stärker denn je Stimmen zu vernehmen, die eine theologische Auseinandersetzung darüber fordern, was Islam überhaupt bedeute und die für eine liberale mit Menschenrechten vereinbare Auslegung des Koran plädieren. In den aktuellen Diskussionen wird verlangt, den Koran in seinem historischen Kontext zu verstehen, und es wird immer wieder wird betont, die Bedeutung der Suren müsse danach differenziert betrachtet werden, ob sie in der mekkanischen (allgemeingültig-religiös) oder der medinensischen Zeit (zeitgebunden-politisch) des Propheten Mohammed offenbart sind. Islamwissenschaftler, wie etwa Prof. Ednan Aslan aus Wien, verlangen, die Rechtslehre im Islam zu reformieren und den Islam aus einer europäischen Aufklärungstradition heraus zu prägen. Was spielt sich gegenwärtig in der muslimischen Community ab und welche Entwicklungen deuten sich an?

Lale Akgün: An verschiedenen islamtheologischen Fakultäten in der EU haben sich junge Wissenschaftler eingefunden, die den Mut haben, die islamische Theologie von ihrem Ballast der letzten Jahrhunderte zu befreien. Sie sind bis jetzt zahlenmäßig nur wenige, aber dafür sind sie sehr couragiert. Denn das, was sie vertreten, wird weder vom Mainstream der Muslime getragen noch von den etablierten Verbänden.

 

Finden sich die erwähnten Stimmen, die eine Interpretation des Korans im historischen Kontext verlangen, lediglich im universitären Bereich oder auch in den Islamverbänden und Moscheegemeinden? Gibt es solche Debatten auch bei Otto-Normal-Muslim?

Das ist das eigentliche Problem: Die akademischen Diskurse kommen in den Gemeinden und bei den einfachen Gemeindemitgliedern überhaupt nicht an, und diese Situation wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern. Mir schrieb ein junger Mann auf einen Artikel von mir, ich könnte ja zum liberalen Islam "konvertieren". Diese Aussage ist deswegen sehr bezeichnend, weil der Mainstream-Islam, das heißt, was die Menschen seit Jahrhunderten glauben und praktizieren, als sakrosankt wahrgenommen wird, als "Gottes Befehl" – wie es von den Gläubigen formuliert wird.

Es wird nichts in Frage gestellt. Die geistlichen Führer des Islam haben es geschafft, das, was sie interpretiert und formuliert haben, den einfachen Menschen als "Gottes Befehl" darzustellen. Es ist unglaublich, was den Menschen als "Gottes Befehl" verkauft wird. In Bradford sagten mir junge Pakistani, es sei Gottes Befehl, den eigenen Cousin zu heiraten. In Ankara erzählte mir ein Imam grinsend, wie er den Frauen seiner Gemeinde erzählt habe, es sei Gottes Befehl, jeden Freitag die Moschee zu putzen.

Und wenn ein Ritual einmal festgelegt ist, dann wird es auch praktiziert. Das hat mit der historisch-kritischen Auslegung des Koran und der Sunna gar nichts zu tun. Das fatale an der Situation ist, dass die Veränderungen, die die kritisch-historische Auslegung des Koran und der Sunna mit sich bringen würden, sofort abgelehnt würden, weil jede Veränderung angstbesetzt ist und abgelehnt wird. In den Moscheen ist ja Angst ein probates Mittel. "Wenn Du das machst, oder jenes unterlässt dann kommst Du in die Hölle", ist ein sehr gängiger Spruch, den sicherlich jeder Moslem schon in jungen Jahren zu hören bekommen hat.

 

Gilt diese Aussage auch für Deutschland? Wird auch hier in den Moscheen "mit Angst gearbeitet", den Leuten mit der Hölle gedroht?

Und wie. Die schwarze Pädagogik ist auch in Deutschland aktuell, in den Moscheen, in den Koranschulen. Es wird das Bild eines rachsüchtigen, strafenden Gottes vermittelt. Reden Sie mal mit den Lehrern und Lehrerinnen, die muslimische Kinder und Jugendliche unterrichten. Sie werden Ihnen berichten, wie die jüngeren Kinder unter dem Eindruck der von den Imamen geschilderten Schreckensszenarien im Jenseits Angstsymptome entwickeln und die Älteren ihrerseits Mitschülern und Mitschülern diese Schreckensszenarien androhen, wenn sie sich nicht den Vorstellungen des Mainstreamislam beugen. Diese Schreckensszenarien ähneln Horrorfilmen, in dessen Mittelpunkt derjenige als Opfer steht, der die religiösen Anweisungen im Diesseits nicht befolgt hat, mit allem, was Angst einjagt: Schlangen, Ratten, Feuer, Wasser.

 

Sie haben wiederholt für einen "liberalen Islam" plädiert. Was ist darunter zu verstehen?

Vielleicht vorweg zur Klarstellung: der liberale Islam bedeutet weder Beliebigkeit noch Islam "light". Natürlich gibt es die "lauen" Muslime wie die "lauen" Christen. Aber es gibt auch durchaus gläubige Christen und Muslime, die einen demokratie-kompatiblen Islam (oder ein ebensolches Christentum) wollen und leben. Der liberale Islam ist somit ganz einfach zu erklären: er ist ein Islam, dessen Referenzpunkte die globalen Menschenrechte sind.

Der Unterschied zu den konservativen Muslimen lässt sich am folgenden Beispiel aufzeigen: August 1990 haben Vertreter von 57 mehrheitlich islamischen Staaten eine Erklärung unterschrieben, die so genannte Kairoer Menschenrechtserklärung. Die Menschenrechte werden in dieser Erklärung ausdrücklich der islamischen Gesetzgebung, der Scharia, untergeordnet. Allein Gottes Recht sei maßgeblich, alle von Menschenhand erlassenen Regeln und Gesetze nachgeordnet. Artikel 24 der Kairoer Erklärung: "Alle Rechte und Freiheit, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Scharia."

Die "Kairoer Erklärung" führt die unterschiedlichen Denkansätze bei den Menschenrechten deutlich vor Augen. Während die Präambel der Allgemeinen UN-Menschenrechtserklärung von 1948 "die Völker der Vereinten Nationen" als Urheber von Recht und Gesetz im Dienste der Menschenrechte deklariert, beziehen sich die islamischen Menschenrechte der "Kairoer Erklärung" einzig und allein auf Gott.

Für die liberalen Muslime ist die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen maßgeblich, für die konservativen Muslime die Kairoer Menschenrechtserklärung.

 

Lässt sich ein liberaler Islam denn überhaupt theologisch begründen?

Theologisch ist der Koran auch für uns liberale Muslime Gottes Wort. Aber es ist die Aufgabe der Theologen, das Wort Gottes immer wieder aufs Neue im historischen Kontext zu deuten. Nur dann kann man überhaupt verstehen, was Gott heute den Menschen zu sagen hat. Im Gegensatz zu einem "fundamentalistischen" (im theologischen Sinne) Islam, der sich an das geschriebene Wort von vergangenen Jahrhunderten klammert, ohne dieses Wort für die heutigen Lebensumstände neu zu lesen. Wer sich im Jahre 2015 mit Bekleidungs- und Bestrafungsvorschriften aus dem Jahre 700 nach Christus beschäftigt, sieht am Kern der Botschaft Gottes vorbei. Harry Harun Behr, Theologe in Frankfurt, formuliert es so: "Ich meine, Theologie dient auch dazu, die Tradition aus dem Blickwinkel der Situation zu betrachten und umzuformulieren."

Für das orthodoxe Verständnis ist der Koran das unveränderlich Wort Gottes, und alle Suren sind heute unverändert gültig. Und die Sunna, also Leben und Worte des Propheten, bestimmt die verbindlichen Lebensregeln. Das geht soweit, dass bei einer aktuellen Situation nach einer ähnlichen aus dem Leben des Propheten gesucht wird, oder was er dazu gesagt hat, und das ist dann Richtschnur für das aktuelle Handeln. Muslimisches Leben heißt für die Konservativen: nach den Regeln des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel zu leben.

 

Was ist mit denjenigen Suren des Korans, die für Gewalt, für die Unterdrückung und Vernichtung Andersgläubiger stehen? Von liberalen Muslimen wird immer wieder diese Aussage zitiert: "Es gibt keinen Zwang im Glauben" (Sure 2,256). Angesichts dessen, was medial über Islam verbreitet wird (Stichworte IS, Al-Khaida, Saudi-Arabien, Charlie Hebdo usw.) gibt es aber in der bundesdeutschen Öffentlichkeit erhebliche Zweifel, ob diese Aussage im Koran bei Muslimen überhaupt eine Rolle spielt. Bei Bekundungen über eine friedliche und barmherzige Botschaft des Koran kommt den Menschen wohl eher Goethe in den Sinn: "Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube". Können Sie diese Bedenken von Nichtmuslimen verstehen und – was wichtiger ist - zerstreuen?

Zuerst einmal zu den Bedenken von Nichtmuslimen: ich kann sie gut verstehen. Wir leben in Zeiten großer Transformationen des Islam, viele Interpretationen und Auslegungen stehen nebeneinander, und alle berufen sich auf den Islam. Da es im Islam ja auch keine abschließende Lehrmeinung geben kann – auch wenn man das in Deutschland gerne hätte – werden wir die nächsten Jahre um die richtige Koranauslegung streiten. Und das heißt: ist der Koran historisch-kritisch zu interpretieren oder wortwörtlich?

Das grundlegende Problem ist folgendes: zwar lehnen auch die konservativsten Muslime Terror und Gewalt ab, aber sie haben nicht den Mut, die Suren, auf die sich die Gewalttäter beziehen, als zeitlich begrenzt und überholt zu deklarieren. Das bringt sie in eine schwere Legitimationskrise, ihre konservative Auslegung des Islam ist an einem Punkt angelangt, an dem ein sauberer Schnitt notwendig wäre. Ein Umdenken statt eines weiter so. Stattdessen versuchen die geistlichen Führer des konservativen Islam die Quadratur des Kreises. Wenn der Großimam der ägyptischen Al-Azhar-Moschee sich "für Bildungsreformen in muslimischen Ländern und für eine strengere Führung bei der Interpretation der Quellen des Islam" ausspricht, dann ist das der Versuch, an dem konservativen Verständnis des Islam festzuhalten, ohne die terroristischen Auswüchse, die ihnen einen ungeheuerlichen Imageverlust bescheren. Aber diese Versuche sind zum Scheitern verurteilt, weil sie von der Haltung bestimmt sind, den Status Quo zu bewahren und den Terror loszuwerden. Das wird aber auf Dauer nicht funktionieren.

 

Kürzlich haben Sie in einem Interview mit der Mitteldeutschen Kirchenzeitung die These vertreten, ein liberaler Islam sei sogar das wahre Gesicht des Islam und zwar sei dieses ein liebevolles und barmherziges Gesicht. Warum soll ein liberaler Islam "das wahre Gesicht des Islam" sein? Hat nicht der Islam – wenn man die zum Teil gegensätzlichen Aussagen in verschiedenen Suren berücksichtigt - vielleicht mehrere Gesichter?

Nun, was ist das wahre Gesicht einer Religion? Was ist das wahre Gesicht des Islam? Die Freitagsenthauptungen in Riad oder die Diskussionsabende der islamischen Gemeinde im Rheinland mit anschließendem Gebet, Männer und Frauen gemeinsam hinter einer Imamin? Der Islam ist das, was wir aus ihm machen. Für mich ist das barmherzige Gesicht des Islam relevant, und das werde ich immer weiter verkünden, auch wenn ich dafür von den orthodoxen Muslimen zum Teil auf das Obszönste beschimpft werde. Wie kann ich es wagen, und auch noch als Frau, mich gegen das konservative Verständnis des Islam zu stellen? Frauen sind entweder "ein dem Mann von Gott anvertrautes Gut", und dann handeln sie so, wie es die Männer mit dem Betonweltbild von ihnen erwarten. Oder es sind "die anderen", die selbstbestimmt leben und denken wollen, die darf man als Huren titulieren! Der Witz an der Sache ist, dass die Jungs wirklich denken, der Vorwurf "Hure" wäre für eine Frau so schambesetzt, dass sie sich sofort auf das von den Männern vorgegebene Weltbild zurückziehen würde. Die Zeiten sind vorbei. Und das macht die Jungs noch viel aggressiver.

 

Als 2012 Professor Khorchide sein Buch "Islam ist Barmherzigkeit" veröffentlicht hatte, wurde ihm aus den Islam-Verbänden vorgeworfen, "Abweichler" von der richtigen Lehre des Islam zu sein, den Koran fehlzuinterpretieren. Offenbar sieht nicht jeder Muslim den Islam als Religion der Barmherzigkeit, und es hat den Eindruck, dass weltweit, aber speziell auch in Deutschland, Muslime respektive die Islam-Verbände in Deutschland nicht gerade Verfechter einer religiösen Lehre der Barmherzigkeit sind. Kann es überhaupt eine Reform im Islam geben?

Ja, Natürlich. Reform bedeutet, dass wir Muslime kritisch mit unserem Glauben umgehen können, und uns unseres Verstandes bedienen, letztendlich bedeutet Reform einen "aufgeklärten Islam" zu haben. Dafür braucht es den Widerspruch und das In-Frage-Stellen. Die guten alten Werte, die die Aufklärung hervorgebracht haben. Auch wenn es verwegen klingt, aufgeklärte Menschen können den Islam reformieren. Es heißt ja oft, "der Islam habe keine Aufklärung durchgemacht und müsse das erst nachholen, bevor er sich in die Reihe der aufgeklärten Religionen einreihen könne." Dieser Satz geht von einem falschen Ansatz aus. Es geht nicht darum, dass der Islam keine Aufklärung durchgemacht hat, sondern, dass in den Ländern, in denen der Islam vorherrschende Religion ist und war, keine Aufklärung stattgefunden hat. Das Christentum hat auch keine Aufklärung durchgemacht, aber die Aufklärung hat die Reformation ermöglicht. Die Aufklärung hat das Christentum mit den Menschenrechten kompatibel gemacht, zivilisiert, wenn Sie es so wollen.

Es würde hier zu weit führen, auf die Bedingungen der Aufklärung einzugehen. Festgehalten werden muss, dass der Islam immer in den Ländern beheimatet war, wo die politisch Mächtigen jede Demokratisierung und jeden Widerspruch, auch durch die Unterdrückung der kritischen Bildung, aus der ja nur die Aufklärung hervorgehen kann, unterbunden haben.

 

Geben Sie uns ein Beispiel?

Ich möchte folgendes Beispiel geben: Das osmanische Reich, das im Moment von Herrn Erdogan so verherrlicht wird. Jahrhundertelang war geistiger Stillstand, weil politische und religiöse Macht in einer Hand waren. Der Sultan war gleichzeitig islamischer Kalif und unterfütterte seine politischen Interessen mit seiner Auslegung des Islam. Die Führerschaft des osmanischen Reiches wollte keine kritischen Menschen, die die Unmündigkeit in Frage stellen könnten, und hielt deswegen bewusst den Buchdruck von den Muslimen fern. So war der Buchdruck im osmanischen Reich für Muslime bis 1727 verboten, obwohl die aus Spanien vertriebenen Juden bereits 1492 die ersten Buchdruckmaschinen ins osmanische Reich gebracht hatten. Es war nur den Nichtmuslimen erlaubt, Bücher zu drucken. Der Verkauf von im Ausland gedruckten türkischen und arabischen Büchern – wobei ihre Zahl vernachlässigbar ist - wurde geduldet, solange sie sich nicht mit dem Islam beschäftigten.

Bis heute wird von den konservativen Kreisen darauf beharrt, dass der Koran nicht zu übersetzen sei, weil er Gottes Wort sei und nur auf Arabisch rezitiert werden müsse, auch wenn die Menschen den Text nicht verstehen. Die Rolle der Bibelübersetzung und des Buchdrucks für die Reformation sind aber unstrittig. Die Reform des Islam wird nicht mit einem Meteoritenschlag eingeleitet werden, sondern mit diesen wichtigen Schritten, den Koran zu lesen und zu verstehen. Erst dann kann man auch anfangen, darüber zu diskutieren.

 

Aber sieht es in diesem Punkt heute nicht anders aus?

Heute? In der Türkei wird außer in Schulbüchern kaum gelesen, in arabischen Ländern genauso. Dagegen haben wir weiterhin die ungute Allianz von politischer Macht und Islam. Unter Bildung wird nur Auswendiglernen verstanden. Wie soll da ein liberaler Islam entstehen? Ohne eine tiefergehende Bildung, ohne Diskursfähigkeit? Ohne Reflexion? Deswegen möchte ich ganz klar unterstreichen: die Reform des Islam kann nur von Europa ausgehen!

 

Der Berliner Philosoph und Islamwissenschaftler Ralph Ghadban hat in einem hpd-Interview darauf hingewiesen, dass die größte von drei Hauptströmungen im Islam die traditionelle Richtung sei, die auf einem mittelalterlichen Verständnis des Islam beharre. Sind die konservativen Verbände diesem traditionellen Islamverständnis verhaftet?

Die Antwort auf diese Frage wird sehr kurz ausfallen: Ja und nochmals ja. Die Verbände, die ihren Rückhalt in muslimischen Ländern haben, sind dem traditionellen Islamverständnis verhaftet, mit allem, was ich zuvor ausgeführt habe; sei es die Kairoer Menschenrechtserklärung oder die Auslegung des Korans.

 

Die konservativen Islamverbände haben in Deutschland mittlerweile maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung islamischen Religionsunterrichts, die Berufung von Religionslehrern und Lehrerinnen und auch auf die Lehrinhalte an islamisch-theologischen Fakultäten und die Berufung von Professoren und Professorinnen. Ohne sie geht nichts. Die Politik kooperiert ausschließlich mit diesen Verbänden, die tatsächlich nur einen Bruchteil der Muslime in Deutschland repräsentieren. Andererseits verfügen liberale Muslime, die zwar für den Mainstream der muslimischen Community stehen, nur über geringen politischen Einfluss. Was muss sich ändern, soll nicht mit politischer Hilfe ein konservativer Islam in Deutschland installiert werden?

Unglücklicherweise haben die Verbände (welche, siehe vorhergehende Frage) ihre Auslegung des Islam der deutschen Politik als die allgemeingültige "untergejubelt" – bei einer Veranstaltung bekam ich letztens mit, wie ein bundesweit bekannter Funktionär seinem Gegenüber sagte: "die deutsche Politik haben wir in der Tasche, nur die deutsche Bevölkerung motzt". Für mich sind die islamischen Verbände Wölfe im Schafspelz. Während die deutschen Medien und die unerfahrenen deutschen Politiker sich auf die kleinen Gruppierungen wie Salafisten stürzen, und sie als die große Gefahr titulieren, arbeiten die Verbände mit der Unterstützung der Politik und verbreiten eine Islamauslegung, die aus demselben Spektrum kommt wie die der Salafisten und sich vielleicht graduell von dieser unterscheidet, aber bestimmt nicht prinzipiell.

Bemerkenswert, wie auch die Verbände im Chor mit den Medien und der Politik auf die Salafisten als "Ultras" schimpfen, wenn diese mit ihren spektakulären Aktionen wie Koranverteilaktionen oder "Scharia-Polizei" ins Rampenlicht rücken - nach dem Motto "haltet den Dieb!"

Ich fürchte, die deutsche Politik wird weiterhin beide Augen zudrücken und die Verbände gewähren lassen. Das gibt Wählerstimmen im Inland und unterstützt die wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik im Ausland. Schließlich sind die muslimischen Staaten ja auch wichtige Handelspartner. Wer dagegen sind schon die Liberalen? Ein paar Wissenschaftler, ein paar Demokraten, keine besonders große Zielgruppe und kein Wirtschaftskapital im Rücken.

 

Im Zentrum der öffentlichen Betrachtung und Kritik stehen in der Tat immer wieder Islamisten, Salafisten - kleine Gruppen -, die mit spektakulären Aktionen (Koranverteilungen, "Scharia-Polizei" und ähnlichem) auf sich aufmerksam machen. Ihre Äußerung verstehe ich so, dass die eigentliche Problematik der deutschen Politik in einer Unterschätzung des traditionellen (konservativen) Islam liegt, der jetzt einen Zugriff auf religiöse Beeinflussung aller muslimischen Kinder anstrebt und dabei von der Politik kräftig unterstützt wird.

Die Verbände haben alle wichtigen Schaltstellen besetzt, Schule, Universität und sie kontrollieren alles mit der Existenzangst der Menschen. Die Lehrer können ohne die Idschaza (d.i. die Lehrerlaubnis für Lehrkräfte des Unterrichtsfachs Islamische Religion, Red.) nicht unterrichten und die Idschaza stellen bekanntlich Vertreter der islamischen Verbände aus. Die meisten Universitätsprofessoren haben nur Zeitverträge und Angst auf der Straße zu stehen, wenn sie irgendetwas sagen, was nicht Mainstream ist.

Mir sagte ein junger Professor: "meine Studentenschaft ist wirklich ultraorthodox. Ich muss sehr aufpassen, was ich sage, denn, wenn ihnen etwas missfällt, dann tragen sie das sofort an die Funktionäre weiter. Also ziehe ich eine Generation von islamischen Religionslehrern heran, deren Überzeugung und Islamverständnis mir inhaltlich gar nicht gefällt und zu der ich meine eigenen Kinder nicht schicken würde." Wollen wir das? Wollen wir, dass an deutschen Universitäten nicht mehr die Freiheit von Lehre und Forschung besteht?

All die Sonntagsreden von wegen "der islamische Bekenntnisunterricht an Schulen würde den Koranschulen das Wasser abgraben" kann ich nicht mehr hören. Ich hoffe sehr, dass der Bekenntnisunterricht, der ja unter der staatlicher Aufsicht steht, nicht zu einer nahtlosen Fortsetzung der Koranschulen wird und die Schulaufsicht schon auf die Interpretationen achtet. Sonst haben wir vormittags in der Schule Bekenntnisunterricht und nachmittags Koranschule.

 

Frau Dr. Akgün, Sie haben sich jüngst für einen "religionskundlichen Unterricht über alle Religionen" ausgesprochen und einen Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht abgelehnt. Warum? Und eine weitere Frage: wäre nicht ein allgemeiner Ethikunterricht, der religionskundliche Elemente aufnimmt, sinnvoller als ein reiner religionskundlicher Unterricht, der atheistische und humanistische Weltdeutungen ausschließt? Warum sollten Kinder denn nur mit den verschiedenen Religionen vertraut gemacht werden?

Ich persönlich bin für die Abschaffung des Bekenntnisunterrichtes an staatlichen Schulen. Die Zeiten sind vorbei. Das Modell war vielleicht erfolgreich, als es in Deutschland zwei Konfessionen gab und die Ressourcen durch zwei geteilt werden konnten. Heute ist Deutschland ein multireligiöses Land, wo wollen Sie anfangen mit dem Bekenntnisunterricht und wo wollen Sie aufhören?

Natürlich werden die islamischen Verbände auf ihr Recht pochen. Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes gewährleistet Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Der Staat ist religionsneutral und muss allen Religionsgruppen die gleichen Rechte einräumen, im Sinne der Äquidistanz. Das hieße letztendlich, entweder Bekenntnisunterricht für alle oder für keinen.

Eine Abschaffung von Religionsunterricht würde eine Grundgesetzänderung erfordern, die jedoch auf lange Sicht nicht realistisch ist. Dazu ist die Politik viel zu ängstlich, sie wird weiterhin mit einer “jedem Wohl und keinem Weh-Politik” taktieren und die konservativen Verbände werden sich gemütlich breit machen.

 

Frau Dr. Akgün, vielen Dank für dieses Gespräch.

 

Das Interview führte Walter Otte für den hpd.

 


Lale Akgün bislang im hpd:
Islam in Deutschland und IS – Was tun?
Pegida: Gegen alles Fremde!

 

Weitere ausführliche Ausführungen zu den im Interview angesprochenen Fragen finden sich auf der Webseite von Lale Akgün