In einer zunehmend pluralistischer werdenden Gesellschaft fördert der Blasphemie-Paragraf falsche Erwartungen von Gläubigen an die Rolle und den säkularen Standpunkt des Staates. Das Vorgehen islamischer Organisationen in Dänemark hat dies in einem traurigen Beispiel in der Realität aufgezeigt. Er behindert damit die friedensförderliche Entwicklung innerhalb von Religionsgemeinschaften, die den Weg der Aufklärung aus ihren eigenen absoluten "Wahrheiten" zur Akzeptanz des Anderen und von Anderen gehen. Er wirft die Debatte zwischen Religionsgemeinschaften und säkularen Gruppen zurück. Er fördert die gewaltsame Eskalation.
Strafgesetzbuch § 166 verfehlt seinen Zweck. Er schützt nicht das Rechtsgut des öffentlichen Friedens.
Religionsfreiheit und Schutzauftrag des Staates
Sonderbar wird es, wenn in der aktuellen rechtspolitischen Debatte effektiv die Unterwerfung freiheitlich säkularer Prinzipien unter die religiösen Ansichten der Feinde einer offenen Gesellschaft gefordert wird. So wie der Bonner Jura-Professor Christian Hillgruber Ende Januar in der FAZ die "Wahrung des religiösen Friedens […] als die Staatsaufgabe schlechthin" darstellte und die "Duldung von Religionsdiffamierung" (ein schlechterdings gar nicht definierbarer Tatbestand) als "Integrationshindernis ersten Ranges" einstufte. So zeigt sich eine unselige Allianz amtskirchlicher Ansichten mit den integrationsunwilligen Gläubigen anderer Religionen. Nicht die säkulare Gesellschaftsordnung hat sich einzelnen Religionsgruppen anzupassen, sondern umgekehrt. Andernfalls könnte letztlich jede religiöse oder nicht-religiöse Gruppe vom Staat einen besonderen Schutz und Strafrechtsbestand fordern. Oder sich ansonsten der Integration und der Sozialisation in Deutschland verweigern und sich dabei noch im Recht wähnen. Außerdem ist eine derartige Schutzpflicht verfassungsrechtlich nicht vorgesehen.
Die Unbestimmtheit des Rechtsguts in Verbindung mit einem fehlgeleiteten Schutzauftragsverständnis des Staates führt zu allerlei rechtlichen Irrungen und Wirrungen. Die Auswertung der Rechtsprechung zeigt, dass bei dem opaken Inhalt von § 166 Strafgesetzbuch die weltanschauliche Präferenz der rechtsprechenden Strafinstanz entscheidend ist. Dadurch wird der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Einige Beispiele:
Der auf einem Anstecker ausdruckverliehene Wunsch "Lieber eine befleckte Verhütung als eine unbefleckte Empfängnis" ist strafbar. Warum? Weil gemäß eines der religiösen Dogmen in der Spätbronzezeit mutmaßlich eine der orientalischen Göttlichkeiten den Körper eines Kuckuckskindes eines jüdischen Schreiners annahm und im 21. Jahrhundert die Gefühle von Personen an dieser Überzeugung derart hängen, dass bei einer scharfen Kritik an dieser Überzeugung ebenjene Personen bis hin zur Störung des öffentlichen Friedens in Deutschland reizbar sind. Und deswegen bestraft die Bundesrepublik scharfe Kritik an dieser Überzeugung von der mutmaßlichen Jungfrauengeburt einer der antiken Götter des Vorderen Orient.
Bestraft die Bundesrepublik dieselben Meinungsäußerungen zu mutmaßlichen Jungfrauengeburten des Sohnes des altägyptischen Gottes Amun-Re, Saoschjant als Sohn des persischen Religionsstifters Zarathustra oder des griechischen Perseus als Sohn der Danaë und des Gottes Zeus? Nein.
Gilt diese rechtliche Sonderstellung für die Gründer, Institutionen und Riten von politischen Parteien oder Fußballvereinen? Vor allem wenn Letztere mit teilweise fanatischen Anhängern und religiösen Fußballgott-Denkmustern aufwarten – zumindest beim 1. FC Köln? Ebenfalls nein.
Auch heute noch werden in Deutschland nach § 166 Strafgesetzbuch zu folgendem Themenkomplex Strafen verhängt: So ist "Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens" (Artikel 3, Katechismus der Katholischen Kirche), wenn Kirchenmitglieder bei ihren Versammlungen die Fleischsubstanz eines im 1. Jahrhundert lebenden Juden (jedoch mit nur einem Teil dessen aus religiösen Gründen zuvor verstümmelten primären Geschlechtsorgans) in Form eines keksähnlichen Gebäcks tatsächlich essen und dessen Blutsubstanz tatsächlich trinken (Fachbegriff: "Eucharistie").
Jedoch, Christentum im Zusammenhang mit Toilettenpapier: nicht strafbar.
Dahingegen, Islam im Zusammenhang mit Toilettenpapier: strafbar.
Warum sind die letztgenannten Urteile so gegensätzlich? Auffällig ist, dass sie sich hinsichtlich des kritisierten Religionstyps unterscheiden. Handelt es sich um ein Mobilisierungsproblem des christlichen Klerus? Sind Pfarrer und Priester weniger "erfolgreich" als Mullahs, wenn es (um in der inhumanen Tiernamen-Diktion der christlichen Amtskirchen zu bleiben) darum geht, nicht ein einzelnes Schaf, sondern eine größere Herde zu öffentlicher Randale vor Redaktionsbüros, Fernsehanstalten oder den Einrichtungen unseres demokratischen Rechtsstaats zu bringen. Verkürzt gesagt, wenn es um die Erfüllung der Formel geht:
Anzahl x Aggressionsniveau der Gläubigen = Tatbestand nach § 166 Strafgesetzbuch.
Dabei gab es in den bisherigen 166er-Verfahren keine Fachgutachten zur Messung religiöser Gefühle und benchmarks zum Zusammenhang der Gefährdung des öffentlichen Friedens, welche bei der Rechtsauslegung dieser Formel helfen. So hat der jeweilige deutsche Richter einzuschätzen, ob die am Tag des Verfahrens zuständigen Mullahs gerade zum Sturm gegen deutsche Einrichtungen aufrufen, und er deswegen den Meinungsäußernden, den Künstler oder Satiriker in Haft setzt. Wobei hiermit natürlich nicht unterstellt wird, dass jeder Mullah eine Islamauslegung verkündet, die automatisch zu Islamismus, Scharia und Dschihad führt. Oder die Prediger des christlichen Gottes oder einer der Tausend anderen Götter, die irgendwo auf dieser Erde von Gläubigen verehrt werden. Denn wie Heinz-Werner Kubitza, promovierter Theologe und Autor des "Dogmenwahn" im Februar im Deutschlandradio sagte: "Und auch in der christlichen Bibel und vor allem im Alten Testament finden sich genügend Stellen, die zur Vernichtung fremder Völker und zur Verfolgung Andersgläubiger aufrufen. Deshalb wird man wohl allgemeiner sagen müssen: Nicht nur der Islam, Religionen insgesamt scheinen ein Menschheitsproblem zu sein. Religiöse Rechthaberei in Verbindung mit heiligen Schriften ist Gift für ein friedliches Zusammenleben der Völker." und „Modernes Recht kommt nicht aus alten Schriften“.
Gedankenexperiment: Eine Meinungsäußerung über christliche oder islamische Glaubensinhalte ist im 21. Jahrhundert strafbar, während dieselbe Meinungsäußerung im 1. Jahrhundert bzw. 7. Jahrhundert (falls dann § 166 Strafgesetzbuch gegolten hätte) NICHT strafbar gewesen wäre.
Was ist heute mit denen, deren Kirche nicht nach § 166 Strafgesetzbuch geschützt ist und sie mutmaßlich in ihren Gefühlen verletzt werden. So sehen Pastafarianer des Öfteren ihre Nudeligkeit in unwürdiger Weise in der Öffentlichkeit erwähnt. Mit Berufung auf § 166 Strafgesetzbuch haben grundsätzlich auch Pastafarianer bei wachsender Anzahl und Reizbarkeit ihrer Glaubensgruppe das Recht, Strafantrag gegen Personen zu stellen, von denen sie ihr Bekenntnis beschimpft sehen. Beispielsweise, wenn ihre Kirche des fliegenden Spaghettimonsters in der Tagesschau als "Parodie" bezeichnet wird, obwohl sie ein eigenes Evangelium haben und gleichberechtigt einen eigenen Religionsunterricht als anerkannte Glaubensgemeinschaft durchführen möchten.
Auf welcher objektivierbaren Grundlage soll die deutsche Justiz in Religionsangelegenheiten eine Parodie anders als eine eventuelle Nicht-Parodie einstufen? Der Glaube des Einen ist der Aberglaube des Anderen. Kein Gericht ist in der Lage, zwischen unterschiedlichen Bekenntnissen und daraus abgeleiteten Gebräuchen und Einrichtungen zu unterscheiden, die sämtlich auf übernatürlichen oder jenseitigen Ansichten beruhen, und deren Wahrheitsgehalt jeglicher empirischen Evidenz entbehrt.
Prof. Johannes Masing, Richter am Bundesverfassungsgericht, verwies insofern zutreffend auf die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts, wonach selbst sehr scharfe Kritik bis hin zur Vergiftung des geistigen Klimas nicht das Verbot von Meinungsäußerungen rechtfertigte. Die Religionsfreiheit schütze die Freiheit der Religionsausübung. Daraus ergebe sich aber kein Anspruch, vor Kritik bewahrt zu werden.
Internationale Verpflichtungen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich – soweit ersichtlich – noch nicht abschließend zu der Frage der Vereinbarkeit von Blasphemie-Gesetzen wie dem § 166 Strafgesetzbuch in Deutschland mit der Europäischen Menschenrechtskonvention geäußert.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Deutschland in Sachen Meinungsfreiheit unfreier ist, als internationale Abkommen das vorsehen. So wurde 2014 in einem Fall unserer Kanzlei (Rechtssache B. gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 5709/09) einem Betroffenen in Hessen nach einem schwerwiegenden Eingriff in seine Meinungsfreiheit erst vor dem Europäischen Gerichtshof Recht zugesprochen. Dem Beschwerdeführer waren von sämtlichen deutschen Instanzen unter anderem Einschränkungen und Beweispflichten in einem politischen Fall auferlegt worden, die nach europäischem Maßstab bei Meinungsäußerungen im Rahmen einer öffentlichen Debatte nicht zulässig waren. Auch das Bundesjustizministerium vertrat hierzu eine unhaltbare Position des Einschnitts in die Meinungsfreiheit, die erst mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs kassiert wurde.
1 Kommentar
Kommentare
Oskar Degen am Permanenter Link
ein bemerkenswertes Plädoyer mit allen Argumenten, die es braucht, um den §166 abzuschaffen und einer prägnanten Formel, die die heutige Schwachstelle auf den Punkt bringt:
= Tatbestand nach § 166 Strafgesetzbuch
inklusive dem Hinweis, wie problematisch es ist, die Variablen vorausschauend (!) abzuschätzen.