BONN. (hpd) Der von den Skandinavisten Bernd Hennigsen und Sven Jochem und dem politischen Bildner Siegfried Frech herausgegebene Sammelband "Das politische Skandinavien. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik & Kultur" informiert in 12 Beiträgen über die unterschiedlichsten Aspekte der Entwicklung in den nordeuropäischen Ländern. Der Band beeindruckt durch seinen hohen Informationsgehalt und die ebenso hohe Sachkompetenz der Autoren, hätte aber zu analytischen Fragestellungen aber auch noch ein "Mehr" haben können.
Der Blick auf die Ergebnisse von Ländervergleichen ist immer für Erkenntnisse gut: Wo gibt es die besten Bildungseinrichtungen, die geringste Korruption, die stärkste Partizipation, die wenigste Ungleichheit? Es fällt auf, dass hierbei Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden immer vorderste Plätze einnehmen. Welche Besonderheiten bestehen dort, welche Gründe gibt es dafür? Dieser Frage gehen auch die Autoren des Sammelbandes "Das politische Skandinavien. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik & Kultur" nach.
Herausgegeben wurde er von den beiden bekanntesten deutschen Skandinavien-Forschern Bernd Hennigsen und Sven Jochem sowie dem politischen Bildner Siegfried Frech. Als Leitfragen formulieren sie in der Einleitung: "Ist in Skandinavien aus kontinentaleuropäischer Perspektive aber wirklich alles anders oder besser? Was macht eigentlich die nordeuropäische Politik aus? Kann man überhaupt von 'dem Norden' sprechen" (S. 7)? Antworten wollen 12 Beiträge zu den unterschiedlichsten Aspekten geben:
Henningsen fragt nach der Angemessenheit der kulturellen Konstruktion des Nordens, Urban Lundberg geht der Entwicklung des "nordischen Modells" nach, und Jochem beschreibt die Besonderheiten der dortigen Demokratien. Letzterer betont, dass diese "vielschichtiger sind als gemeinhin angenommen" sind, "dass die … Institutionen tendenziell" erodieren und "dass unsere Vorstellung von konsensualen Verhandlungsdemokratien im Norden kaum den jetzigen Stand demokratischer Verfassungen widerspiegelt" (S. 64).
Danach behandeln Jens Gemeienr das skandinavische Parteiensystem und Matti Alestalo u.a. das dortige Wohlfahrtsmodell. Hierzu gehörten "sozialstaatliche Einrichtungen … und die Ergebnisse einer wohlfahrtsstaatlichen Politik", aber auch "die besondere Form … in der politische Entscheidungen sowohl auf zentraler als auch auf kommunaler Ebene getroffen werden" (S. 110f.) Danach beschäftigen sich Jorgen Goul Andersen mit der Wirtschaftspolitik und Susanne Wilborg mit den wettbewerbsorientierten Bildungsreformen.
Die Migrationspolitik stellen danach Grete Brochmann und Anniken Hagelund ins Zentrum ihrer Abhandlung, wobei sie Unterschiede in der Zuwanderungspolitik konstatieren: "liberales Schweden, restriktives Dänemark, gemäßigtes Norwegen" (S. 176). Dem folgen Beiträge von Uffe Ostergard zur innernordischen Kooperation im Ostseeraum, von Tobias Etzold zum Verhältnis zur Europäischen Union und von Norbert Götz zur Außen- und Sicherheitspolitik. Am Ende ziehen die beiden Herausgeber Hennigsen und Jochem eine Bilanz, wobei sie auf folgende Punkte besonders abstellen: "Eine erste Erkenntnis … liegt darin, diese Vorstellung einer nordischen Homogenität in Frage zu stellen … Eine zweite Erkenntnis lautet, dass diese Heterogenität in den vergangenen zwei Dekaden eher noch zugenommen hat" (S. 262). Demnach betonen auch viele Aufsätze die Differenzen, die zwischen den einzelnen skandinavischen Ländern bestehen, welche mitunter aus mitteleuropäischem Blick dann in ihrem Ausmaß nicht so sehr zur Kenntnis genommen werden.
Der Band liefert mit den jeweiligen Beiträgen einen guten Überblick über die Entwicklung in den nordeuropäischen Ländern, wobei alle gesellschaftlichen und politischen Felder berührt werden. Da es ansonsten an deutschsprachiger Literatur zum Thema mangelt, ist der Band allein schon aus diesem Grund von Bedeutung. Als Autoren äußern sich auch jeweils alles ausgezeichnete Kenner der Materie. Interessant wäre es indessen hier und da auch gewesen, stärker auf die Gründe für die Besonderheiten der dortigen Länder einzugehen. Woher kommt etwa der höhere Stellenwert von sozialer Gleichheit? Alestalo u.a. bemerken dazu: "Die Gleichheit bzw. soziale Gerechtigkeit geht auf das historische Erbe geringfügiger Klassen- und Einkommensunterschiede zurück …"(S. 108). Und Jochem schreibt: "Vielmehr tragen eine abgesicherte Rechtsstaatlichkeit und ein immer noch kulturell verankerter Egalitarismus dazu bei, dass die Korruption im Norden so gering und das Vertrauen in Regierung und Demokratie so hoch ist" (S. 78f.). Dazu hätte man jeweils gern genaueres gelesen.
Bernd Hennigsen/Sven Jochem/Siegfried Frech (Hrsg.), Das politische Skandinavien. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik & Kultur, Schwalbach/Ts. 2015 (Wochenschau-Verlag), 285 S., 19.80 Euro