Symposium zu Rainer Werner Fassbinder und zu Antisemitismus und Fremdenfeindlicheit heute

Der Müll, die Stadt und der Skandal

Ulrike Holler, die alle Diskussionen des Symposiums moderierte, sprach sodann – vor ausverkauftem Haus – mit Trude Simonsohn, die als Mitglied der Jüdischen Gemeinde und Holocaust-Überlebende über ihre Position in der damaligen Kontroverse berichtete. Sie wies darauf hin, dass es ihr noch heute unmöglich sei, die Sätze, die Fassbinder die beiden Nazis in seinem Stück sprechen lässt, von einer Bühne herab anzuhören. Obwohl diese mit ihren Hasstiraden vorführen, was der Antisemitismus ist: eine Ablenkung von realen Macht- und Geldverhältnissen, eine Ablenkung auch von der Schuld, die die deutsche Mehrheitsbevölkerung am NS-Regime und am Holocaust trug ("Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht" – sagt der Konkurrent des "reichen Juden" und Nazi "Hans von Gluck" im Stück).

Trude Simonsohn bestätigte, dass sie weder Fassbinder als Person noch sein Theaterstück für antisemitisch halte. Er habe "mit dem Text zeigen wollen, wie Deutsche reden." Aber "schon 1985, so hatte sie zuvor angemerkt, habe sie eine 'elegante Geste der Verständigung' vermisst. Womit sie einen freiwilligen Verzicht auf die Aufführung andeutet" (Christian Thomas: "Wie Deutsche reden", Frankfurter Rundschau vom 3. November 2015). Die Jüdische Gemeinde habe sich nicht "darüber aufklären lassen wollen, worin die Würde eines Juden bestehe und wann sie sich angetastet fühle".

Anschließend verlasen Karlheinz Braun, der seinerzeitige Lektor und Verleger Fassbinders, und Marion Victor Teile einer "Chronik der Ereignisse", beginnend mit den Auseinandersetzungen am Frankfurter TAT – dem Theater am Turm, das Fassbinder schnell wieder verlassen hat. Der mit "Der Müll, die Stadt und der Tod" fast wortgleiche Film "Schatten der Engel" des Schweizer Regisseurs Daniel Schmid (mit Fassbinder in einer der Hauptrollen) war offizieller Wettbewerbsbeitrag bei den Filmfestspielen in Cannes 1976 – gegen ihn regte sich kaum Protest. Anders bei den Frankfurter Inszenierungsversuchen 1984 und 1985.

Die "Chronik der Ereignisse" ist im Buch in voller Länge enthalten.

Nachspiel

Zwei Diskussionsrunden folgten am Sonntag, dem 1. November auf die samstägliche Lesung: In einer ersten Runde ging es um das Stück: Fördert es antisemitische Ressentiments? Genauso wichtig: Wie wirkt es auf in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden? Lebendig und konzentriert wurde hier diskutiert, bevor in einer zweiten Runde das Thema ausgeweitet wurde.

Auf dem ersten Podium saßen Rechtsanwalt Hermann Alter, vor 30 Jahren einer der Bühnenbesetzer und Petra Kunik, damals Schauspielerin, heute Schriftstellerin – aktiv in der Jüdischen Gemeinde sowie in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Ihnen gegenüber: Günther Rühle, damaliger Intendant des Frankfurter Schauspiels und Peter Menne, Unternehmensberater, Mitinitiator des Symposiums und Mitherausgeber des Begleitbandes.

Moderatorin Ulrike Holler befragte zunächst Hermann Alter zu den Ereignissen rund um die Bühnenbesetzung. Freimütig erzählte der Anwalt, wie man vor 30 Jahren die Eintrittskarten nachgedruckt hatte, um in ausreichender Anzahl die Bühne blockieren zu können. Wichtiger war ihm, was die antisemitischen Haßtiraden im Stück bei KZ-Überlebenden auslösen können: sie werden nicht als Meinung einer Figur verstanden, sondern wecken ganz unmittelbar Erinnerungen an erlittene Verfolgung und barbarische Verbrechen. Petra Kunik berichtete von ihrem inneren Konflikt bzw. Wandel: als Schauspielerin war sie ganz im Sinne der "Freiheit der Kunst" für die Aufführung. In Gesprächen mit der älteren jüdischen Generation nahm sie deren Verletztheit wichtiger – und demonstrierte gegen die Fassbinder-Uraufführung.

Auf der Gegenseite beharrte Günther Rühle auf der Freiheit der Kunst: er wollte damals auf jeden Fall sicherstellen, dass es keine Zensur gebe. Fassbinders Drama hielt und hält er für schlecht – was aber kein Argument sei, denn 94 Prozent aller Theaterstücke seien schlecht. Es komme darauf an, was man daraus machen könne. Und in diesem Sinn sei Fassbinders Drama ein gut geeigneter, wenn auch nicht "realistisch" zu verstehender Text.

Foto: Bernd Löser
Foto: Bernd Löser

Dem widersprach Peter Menne: Fassbinder habe in "Der Müll, die Stadt und der Tod" eine schlechte, doch real vorhandene Wirklichkeit pointiert dargestellt. Ganz wie bei der Katharsis in der griechischen Tragödie würden hier die gesellschaftlichen Verhältnisse als ungerecht, als dringend verbesserungsbedürftig erkannt. So wurde das Drama in den meisten europäischen Ländern, in den USA und in Israel rezipiert: als eines, das den Entstehungsmechanismus von Antisemitismus in einer Gesellschaft bloßlegt, in der es nur ums Kaufen und Verkaufen geht. Aber – dem stimmte Menne zu – Fassbinders "ohne Rücksicht" geschriebenes Stück konnte die Opfer der NS-Verbrechen verletzen. Zumal zeitlich ziemlich parallel zur geplanten Inszenierung Helmut Kohl und Ronald Reagan die deutsch-amerikanische Versöhnung ausgerechnet auf dem Bitburger Waffen-SS-Friedhof feierten und Kanzler Kohl bei anderer Gelegenheit die "Gnade der späten Geburt" beschwor.

Alter, Kunik und Menne waren sich einig, dass die Bühnenbesetzung ein zentrales Ereignis für die Jüdische Gemeinde war, sich als politisches Subjekt zu positionieren. Auseinander gingen jedoch die Auffassungen über die Inhalte des Stücks: Hermann Alter monierte, dass keine Figur den antisemitischen Tiraden des Immobilienkonkurrenten Hans von Gluck widerspreche. Peter Menne verwies auf Adorno, der davor warnte, Vorurteile zu diskutieren. Stattdessen sei es Fassbinder gelungen, in den Monolog solche Elemente zu montieren, dass der Faschist – neben seinen menschenfeindlichen Aussagen – als abstoßender Hypochonder erscheine und keinerlei Sympathien beim Publikum wecken könne.

Zuletzt folgte das Podium zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, gut besetzt mit Prof. Armin Pfahl-Traughber von der Fachhochschule des Bundes und Rechtsextremismusexperte; Dr. Birgit Seemann von der FH Frankfurt; Elisabeth Abendroth und Esther Schapira vom Hessischen Rundfunk. Pfahl-Traughber begann mit einem differenzierten Einstieg in antisemitisches und rechtsnationales Gedankengut bzw. entsprechende Handlungen. Esther Schapira erweiterte den Themenkreis um israelfeindliche Positionen – die unter dem Deckmantel der Kritik an der israelischen Besatzungspolitik in der Westbank und der Kriegsführung im Gaza-Konflikt "schuldabwehr-antisemitische" Gedanken und Gefühle transportierten. Birgit Seemann verwies auf einen neueren Ansatz der Erforschung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, in dem diese in Verbindung gesetzt werden mit anderen Diskriminierungsformen. Elisabeth Abendroth sprach über Ansätze der Bekämpfung antisemitischer und fremdenfeindlicher Ressentiments.

Das Symposium der KunstGesellschaft hat, das zeigte auch das Echo in den Medien, nicht nur an die Kontroverse von damals erinnert und ein Gespräch zwischen den Vertretern der verschiedenen Positionen zu Fassbinders Stück ermöglicht, sondern auch Denkanstöße für die weitere Beschäftigung mit dem Thema "Kunst und Politik" und mit der Frage gebracht, was gegen den Hass auf "Fremde" getan werden kann.

Literatur
Diederich, Reiner / Menne, Peter (Hrsg.): Der Müll, die Stadt und der Skandal. Fassbinder und der Antisemitismus heute. Nomen Verlag, 168 Seiten; 14,90 Euro ISBN: 978–3–939816–26–3; Hier erhältlich