Meinung

Der ganz reale Transhumanismus

Eine weitere Möglichkeit der erweiterten Selbstoptimierung durch die genetische Optimierung des eigenen Nachwuchses setzt sogar noch einen Schritt früher an: Mit Hilfe präkonzeptioneller Gentests, die seit Jahren immer größeren Zulauf erfahren, lassen sich potentielle Fortpflanzungspartner auf mögliche Erbkrankheiten untersuchen – und das, noch ehe eine Schwangerschaft vorliegt oder eine Eizelle im Reagenzglas befruchtet wird.

Viele Menschen sind Träger einer sogenannten rezessiven Erbkrankheit, ohne es zu ahnen. Wenn beide Partner Träger derselben Erbkrankheit sind, besteht die Möglichkeit, dass der gemeinsame Nachwuchs zwei fehlerhafte Genkopien erbt, was zur Ausprägung der Krankheit führt. Stellt sich bei dem präkonzeptionellen Gentest heraus, dass beide Partner tatsächlich Träger derselben Erbkrankheit sind, so kommen häufig die oben genannten Methoden zum Einsatz und Paare entscheiden sich für verstärkte Pränataldiagnostik oder für eine In-vitro-Fertilisation mit Präimplantationsdiagnostik. Eine weitere Möglichkeit ist es natürlich, sich einen anderen potenziellen Fortpflanzungspartner zu suchen.

Die Auswahl eines geeigneten Fortpflanzungspartners aufgrund genetischer Kriterien? Ist das nicht vielleicht doch ein bisschen zu sehr Science Fiction? Absolut nicht. Das erste breit angelegte präkonzeptionelle Screening Programm der Geschichte wurde bereits in den 1980er Jahren ins Leben gerufen – und zwar nicht von einem visionären Wissenschaftler, sondern von einem orthodoxen jüdischen Rabbi.

Rabbi Joseph Ekstein aus New York wunderte sich darüber, warum er und seine Frau mehrere Kinder mit einer schrecklichen Krankheit namens Tay-Sachs-Syndrom bekamen. Als er sich auf die Suche nach einer Erklärung machte, stellte er fest, dass diese Erbkrankheit gehäuft bei Paaren vorkam, deren Vorfahren aschkenasische Juden waren. Die Begründung hierfür ist simpel: Lebt eine Gruppe von Individuen lange relativ abgeschottet, wie es die aschkenasischen Juden in Europa bedingt durch jahrhundertelange Repressionen taten, so reichern sich in dieser Gruppe bestimmte genetische Eigenschaften an. Aus demselben Grund haben Basken überdurchschnittlich häufig die Blutgruppe 0 und überdurchschnittlich viele Iren rote Haare.

Als Rabbi Ekstein feststellte, dass Tay Sachs und andere Erbkrankheiten in der jüdischen Community häufiger vorkamen als bei Menschen ohne aschkenasischen Hintergrund, rief er die Organisation Dor Yeshorim ins Leben. Dor Yeshorim nimmt bei Jugendlichen aus der orthodoxen jüdischen Community Gentests vor. Ihr Ergebnis erfahren die Getesteten nicht, stattdessen erhalten sie einen Zahlencode. Wird später eine Ehe arrangiert – wie dies in orthodoxen jüdischen Kreisen üblich ist – so werden Dor Yeshorim vor dem Arrangement die Nummerncodes der potenziellen Partner übermittelt. Stellt Dor Yeshorim fest, dass beide Träger der Anlagen für dieselben Erbkrankheiten sind, wird die Ehevermittlung meistens abgebrochen.

Inzwischen gibt es übrigens auch nicht-orthodoxe Einrichtungen, die sich mit entsprechenden Screening-Programmen an weltliche Mitglieder der jüdischen Community wenden. Das Tay Sachs Screening gehört heute zu den erfolgreichsten genetischen Screening Programmen überhaupt: Die Wahrscheinlichkeit für ein nicht-jüdisches Paar, ein Kind mit Tay Sachs zu bekommen, liegt inzwischen höher als die entsprechende Wahrscheinlichkeit bei einem jüdischen Paar.

Die Entscheidung darüber, ob ein bestimmtes Leben wert ist, zu entstehen oder nicht, wird also bereits seit vielen Jahrzehnten tagtäglich in den unterschiedlichsten Stufen seiner Existenz getroffen.

Eine Tatsache, die überdeutlich zeigt, dass der Mensch keine philosophischen Diskussionen abwartet, wenn es darum geht, die sich ihm bietenden Möglichkeiten zur 'Verbesserung' seiner selbst auch tatsächlich zu nutzen. Egal, ob man das positiv oder negativ beurteilt: es bleibt eine Tatsache.

Und was heißt das nun? Stelle ich mich auf der Intellektuellen-Party zu den Transhumanisten oder zu den Transhumanismus-Kritikern? Zu keinem von ihnen.

Ich bin sicher, dass dem Menschen eine weitere Selbstoptimierung gelingen wird. Wahrscheinlich wird die Anwendung genetischer Erkenntnisse im Bereich der Fortpflanzung in einigen Jahren ebenso selbstverständlich für uns sein wie es heute Organtransplantationen sind. Denn ich zweifle nicht einen Augenblick daran, dass der Mensch sein Streben nach Selbstverbesserung weiterhin mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in die Tat umsetzen wird. Der Drang zur Selbstverbesserung scheint in seiner Natur zu liegen.

Bedauerlicherweise scheint es aber auch in seiner Natur zu liegen, dass bei dem kontinuierlichen Bestreben zur Selbstoptimierung von jeher einige Bereiche seiner selbst ausgeklammert werden. Am tief verwurzelten Streben nach Macht und Reichtum hat sich von Ötzi bis zu Donald Trump wenig verändert. Und auch nicht daran, dass der Mensch zum Erreichen von Macht und Reichtum über Leichen geht. Was die mögliche Selbstverbesserung dieser Wesenszüge betrifft, stimmt mich die Geschichte der Menschheit nicht sonderlich zuversichtlich. Transhumanisten, die auch hinsichtlich dieser Eigenschaften des Menschen eine Besserung voraussehen, können mich nicht überzeugen.

Wesentlich wahrscheinlicher erscheint es mir, dass genau dieser Spagat zwischen Selbstoptimierung einerseits und Selbstoptimierungsresistenz andererseits den Menschen letztlich seinen Kopf kosten wird. Es ist doch wirklich erstaunlich, dass eine Spezies, die noch vor einem Wimpernschlag der Erdgeschichte in Höhlen ums Lagerfeuer kauerte, inzwischen Wolkenkratzer baut, zum Mond fliegt und das Erdklima fast zum Kollabieren gebracht hat. Noch erstaunlicher ist, dass der Mensch fähig ist zu erkennen, welche dramatischen Folgen sein Tun schon in Kürze haben wird, und dass er trotzdem nicht in der Lage ist, das eigene Bedürfnis nach Macht, Reichtum und Komfort zu überwinden und auf die weitere Ausbeutung von Ölquellen oder den Shopping-Kurztrip mit dem Flieger nach New York zu verzichten.

Eigentlich ein drolliges Spektakel. Dumm nur, dass man mittendrin sitzt.