Die Ereignisse in Afghanistan überschlagen sich. Quasi jede Minute gibt es über die verschiedenen Newsticker neue Schilderungen über Menschen, die versuchen, vor dem islamistischen Regime der Taliban zu fliehen, da sie um ihr physisches und psychisches Wohl bangen. Doch eine Gruppe leidet ganz besonders unter den Repressalien der neuen Machthaber: Frauen.
Nach außen hin geben sich die Nachfolger von Aschraf Ghani, dem geflohenen Präsidenten, gerne moderat und gemäßigt. Ein Sprecher verkündete vor wenigen Tagen sogar, dass allen vergeben werde, die sich den Taliban in den Weg gestellt haben, und Frauen auch weiterhin etwa im Bildungs-, Polizei- oder Gesundheitswesen arbeiten dürften. Doch viele, die sich für die Rechte von Frauen einsetzen und nicht außer Landes fliehen konnten, verlassen seit der Machtübernahme aus Angst um ihr Leben nicht mehr ihre Wohnung. Zu tief sitzen die grausamen Erfahrungen der Vergangenheit: Von 1996 bis 2001 waren die Taliban bereits an der Macht und verfolgten das Ziel einer "wahren islamischen Herrschaft". Damals wurde ein streng islamistisches Regime nach Rechtsvorschrift der Scharia etabliert. Für alle Bürger:innen waren Musik und Fernsehen verboten, explizit für Frauen außerdem der Schulbesuch oder die Aufnahme einer Erwerbsarbeit. Zudem durften Frauen nur vollverschleiert und in Begleitung eines Mannes das Haus verlassen.
Wie wenig die beschwichtigenden Worte ernst zu nehmen sind, offenbaren Berichte und Videoaufnahmen, die zeigen, gegen wen sich die Gewalt der Islamisten richtet: Gegen alle Menschen, die sich für Menschenrechte, Demokratie, Bildung oder in irgendeiner Form für "den Westen" eingesetzt haben. Das heißt, dass quasi jede:r Gegner:in der Taliban in Afghanistan nun sogar noch weniger sicher ist als zuvor.
Die technischen Möglichkeiten, um Menschen aufzuspüren, die etwa auf Festnahmelisten stehen, sind jedoch ganz andere als noch vor 20 Jahren. Unter anderem die US-Regierung nutzte vor Ort biometrische Systeme, um Gefährder:innen effektiver dingfest machen zu können. Doch diese sind nun in die Hände der Taliban gefallen. Besonders perfide ist, dass auch die für die internationale Militärkoalition arbeitenden Afghan:innen sowie Bewerber:innen um Jobs in den Botschaften damit identifiziert wurden. Die Menschen in diesen Datenbanken und auf diesen Festnahmelisten erwarten nun willkürliche Verhaftungen, Folterungen und Hinrichtungen. Und jeglicher Protest wird von den islamistischen Milizen blutig niedergeschlagen. Dass ein solches Vorgehen dem Versprechen der Taliban auf Gewaltverzicht widerspricht, blieb von diesen bisher unkommentiert.
Vor allem Frauen sind nun im Visier der religiösen Fundamentalisten
Beim Vormarsch der islamistischen Truppen kam es immer wieder zu Fällen von sexuellen Übergriffen gegenüber und Misshandlungen von Frauen. Auch Zwangsverheiratungen und Zwangsprostitution waren und sind keine Seltenheit. Bereits bevor die Taliban den Präsidentenpalast übernommen hatten, war die Rechtslage für Frauen enorm heikel: Juristisch gegen Gewalttäter:innen oder Zuhälter:innen vorzugehen, war für diese ohnehin bereits praktisch unmöglich. Polizist:innen, Richter:innen und Staatsanwält:innen halten Frauen heute wie damals häufig davon ab, Anzeige zu erstatten und drängen sie dazu, Konflikte innerfamiliär zu lösen. Auch finanzielle Abhängigkeiten oder der Druck der Familie hält Frauen davon ab, rechtliche Schritte einzuleiten. Wer es dennoch wagt, Anzeige zu erstatten, muss sich häufig menschenrechtswidrigen "Vaginaluntersuchungen" und "Jungfräulichkeitstests" unterziehen. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen und Tests führen meist dazu, dass Frauen und Mädchen selbst wegen vor- oder außerehelichem Sex zu langen Haftstrafen verurteilt werden.
Eine zutiefst patriarchal geprägte Gesellschaft, die etwa das Schlagen von Frauen für das Recht eines Mannes hält, erschwert zudem die Arbeit der Frauenrechtler:innen. Dieses Weltbild stützt die dort allgemein vorherrschende Annahme, es sei legitim, Frauen grundlegende Rechte zu verwehren; einen Zugang zu einem Rechtsbeistand haben Frauen in Afghanistan zum Beispiel in aller Regel nicht. Seit 2018 sind Ehrenmorde zwar offiziell verboten, dennoch sind diese seit jeher weit verbreitet. Insbesondere in ländlichen Gebieten unternehmen die Justizbehörden nichts dagegen. Nun, mit den Taliban an der Macht, wird sich daran voraussichtlich nur etwas zum Negativen verändern.
Frauen sind mittlerweile aus dem Stadtbild von Kabul völlig verschwunden. Stattdessen prägen es viele Männer in traditionellen Gewändern. Der Ankündigung, dass es zu keinem Burka-Zwang kommen werde, misstrauen die meisten Frauen. Auch die Medienlandschaft bleibt nicht unberührt: Unliebsame Moderator:innen und Sendungen wurden abgesetzt und mit Propaganda sowie Suren aus dem Koran ersetzt, die nun im Fernsehen und Radio zu sehen und zu hören sind. Damit soll Expert:innen zufolge dem Prozess Vorschub geleistet werden, die aktuell geltende Verfassung, die Frauen und Männer de jure gleiche Rechte zuteil werden lässt, sukzessive so umzuschreiben, dass diese mit der Scharia konform ist. Selbst das wenige bisher Erreichte in puncto Gleichberechtigung von Mann und Frau steht damit auf dem Spiel.
Je länger der wegen grundlegend verschiedener Welt- und Wertevorstellungen ausgelöste Konflikt in der Region schwelt, desto deutlicher wird, dass sich die internationale Staatengemeinschaft von der Vorstellung verabschieden muss, durch eine kurzfristige militärische Intervention eine langfristige, befriedete und demokratische Lösung herbeiführen zu können. Ein Teil einer langfristigen Strategie kann aber die Säkularisierung sein. Denn nur, wer für ein "Paradies auf Erden" kämpft, kann sich mit vollem Elan für eine bessere Welt einsetzen. Wer hingegen ein Paradies in einem vermeintlichen Jenseits anstrebt oder lediglich einem Fabelwesen gefallen möchte, der achtet das Leben und die Umwelt zu Lebzeiten – zumindest in der fundamentalistischen Ausprägung dieser Denkweise – recht eindeutig nicht so sehr.